ed 11/2012 : caiman.de

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brasilien: Rapte-me camaleão! – Caetano Veloso zum 70.
Teil 7: Ein Fremder in neuen Zeiten
THOMAS MILZ
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


bolivien: Tagebuch eines gescheiterten Grenzgängers
KATHRIN MEGERLE
[art. 2]
venezuela: Choroní (Bildergalerie)
FRANK SIPPACH
[art. 3]
spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Erste Etappe: Von Toulouse / Somport bis Jaca
BERTHOLD VOLBERG
[art. 4]
hopfiges: 1906 Reserva Especial
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER
[kol. 1]
erlesen: Don Winslow – Zeit des Zorns
DIRK KLAIBER
[kol. 2]
amor: Wortspiele und Lebensweisheiten (Teil 10)
CAMILA UZQUIANO
[kol. 3]
grenzfall: Hilfe, mein Handy stirbt!
Telekommunikation ohne Kommunikation
THOMAS MILZ
[kol. 4]


[art_1] Brasilien: Caetano Veloso zum 70.
Teil 7: Ein Fremder in neuen Zeiten

"Violão e banquinho" – ein Barhocker und eine Akustikgitarre, das ist Caetanos neues Rezept nach dem Elektro-Pop von "Velô". Mit der LP "Totalmente demais" von 1985 nimmt Caetano das einige Jahre später aufkommende "MTV Unplugged" Prinzip vorweg. Die Platte beginnt mit einem echten Kracher: "Vaca profana". Es handelt sich um einen Song, den Caetano für seine Langzeitkollegin Gal Costa geschrieben hat. Ein Meisterwerk gespickt mit Wortspielen. (Die Version von Gal Costa ist ebenfalls eine Bombe!). Weiter geht es mit "Oba-lá-lá / Bim bom", ein Stück zusammengesetzt aus zwei Lieder von Altmeister João Gilberto. Überhaupt eine Platte voller Höhepunkte: "Kalu", "Nosso estranho amor", "Dom de iludir", "Solidão" und "Amanhã". Und eine tolle Version von Noel Rosas "Pra que mentir". Ein Album, das einem den Atem raubt. Und ein absoluter Verkaufsschlager.


Das gleiche Rezept verfolgt Caetano auch mit "Caetano", eine Art Zwillingsalbum, das 1986 zuerst nur auf dem us-amerikanischen Markt erscheint (in Brasilien folgt die Veröffentlichung dann1990). "Caetano" ist ein wenig intimer, ohne die Publikumsovationen von "Totalmente demais". Wir hören "Trilhos urbanos", "O homem velho", "Luz do sol", "O leãozinho" und andere Klassiker wie "Terra" und "Saudosismo". Eigentlich ein akustisches "Best of". Zum ersten Mal erscheint Caetanos Version von Michael Jacksons "Billie Jean", später ein Dauerbrenner bei seinen Liveauftritten.


Die nächste LP von 1987 heißt auch "Caetano". Sie zeigt seinen Kampf mit schmerzlichen Verlusten – kurz zuvor verstarb der geliebte Vater und seine erste Ehe mit Dedé geht in die Brüche. "Estou no fundo do poço" – ich bin ganz unten angekommen, beginnt das Album in schleichendem Rhythmus. Freudiger zeigt sich das mit seiner Band "Banda nova" aufgenommene "Eu sou neguinha". Die erste Zusammenarbeit mit der Band seit "Velô".


Höhepunkte sind "Valsa de uma cidade" von Ismael Netto und Antonio Maria, eine Hymne an Rio de Janeiro, und "O ciúme", ebenfalls eine Hymne, dieses Mal aber an seine Heimatregion, den Nordosten Brasiliens. Grandios kommt Jahre später eine Version dieses Liedes auf der LP "O grande encontro" von Geraldo Azevedo, Zé Ramalho, Elba Ramalho und Alceu Valença daher. Stark ist auf dieser LP der Mix aus afrikanischen Rhythmen und elektronischer Musik. Obwohl die ganz großen Hits fehlen, ist die LP ein gelungenes Comeback des Komponisten Caetano.

"Estrangeiro", Der Fremde, so der Titel der nächsten LP von 1989, gibt die neue Richtung vor. Aufgenommen in der Fremde, sprich New York, und produziert vom US-amerikanischen Gitarristen Arto Lindsay, zeigt sie einen für Caetano ganz untypischen Sound. Man fühlt sich an die Talking Heads erinnert, obwohl es sich bei dem vorherrschenden Musikstil um Samba handelt.


Neue Zeiten brechen an: das Ende des Kalten Kriegs, der Vormarsch des Neoliberalismus. Caetano wirkt verloren in der neuen Gemengelage. Das Stück "O estrangeiro", das den Einstieg in das Album bildet, ist ein weiteres Meisterwerk: "O amor é cego, Ray Charles é cego" – die Liebe ist blind, Ray Charles ist blind. Caetano wagt sich an neue Sounds, wirkt internationaler denn je, kein Wunder, spielt er die Platte doch im eigentlichen Schmelztiegel (New York) ein.

Das leichte "Branquinha" widmet er der neuen Partnerin Paula Lavigne, "Meia-Lua inteira" von Carlinhos Brown wird DER Hit. In "Genipapo Absoluto" besucht er erneut seine Heimatstadt Santo Amaro, eine Erinnerung an seinen verstorbenen Vater. Das Stück ist ein zweites "Trilhos urbanos".

Die LP "Circuladô" aus dem Jahre 1991 ist eine zweite Version von "Estrangeiro". Wieder der gleiche Produzent (Arto Lindsay) und das erste Stück "Fora da Ordem" (Aus der Reihe getanzt) folgt den Gedanken von "Estrangeiro". "Itapuã" und "Boas vindas" sind einfach nur schön, "A terceira margem do rio" eine interessante Zusammenarbeit mit Meister Milton Nascimento. Trotz allem dominiert Traurigkeit dieses Werk, eine Uneinigkeit mit der Welt und der ihn umgebenden Gesellschaft.


1992 feiert Caetano seinen 50. Geburtstag. Zeit für eine Zwischenbilanz, für eine Werkschau, die er mit dem Klassikmeister Jaques Morelenbaum auf die Beine stellt: "Circuladô ao vivo". Der Beginn einer jahrelangen Zusammenarbeit. Caetano singt Bob Dylan ("Jokerman"), zitiert (wieder einmal) Michael Jackson ("Black and white") und Altmeister João Gilberto ("Chega de saudade"). Zudem singt er Roberto Carlos "Debaixo dos caracóis dos seus cabelos". Dieses Lied hatte Carlos als Trost für den traurigen Caetano geschrieben, als sich dieser im Londoner Exil befand.


Und Caetano besucht seine wilden Zeiten der "Doces Bárbaros" ("Um índio") und bringt einen Karnevalsschlager auf die Bühne: "A filha da Chiquita Bacana". Eine tolle Platte, eine fulminante Show mit einem die Bühnenbretter dominierenden Caetano. Er ist jetzt ein Star von internationaler Größe, der sich in Zukunft eher den spektakulären Live-Shows widmet und weniger dem tristen Studioalltag. Seltsam aber wahr – mit abnehmender Schöpfungskraft steigt sein internationales Ansehen.

Zumindest als Bühnenkünstler. Das werden wir im nächsten Monat sehen, wenn es zur nächsten Folge unserer Reihe Caetano Veloso zum 70. kommt.

Text + Fotos: Thomas Milz

Hier kommt ihr zu:
Teil 1: Vom Bossa zum Tropicalismo
Teil 2: London, London
Teil 3: Ergrautes Chamäleon, ewig junger Romantiker
Teil 4: Araçá Azul und die Frustrationen eines verwöhnten Jungen
Teil 5: Tudo Jóia?
Teil 6: Outras palavras - auf der Suche nach neuen Worten

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[art_2] Bolivien: Tagebuch eines gescheiterten Grenzgängers
 
17. Juni: Bolivien, ein kleines Dorf am Lago Titicaca. Blauer Himmel, Andenwetter, in der Ferne die schneebedeckten Berge rund um La Paz. Es geht mir ziemlich elend, die Höhe und die dünne Luft machen mich fertig. Jede Bewegung erscheint mir grausam anstrengend, seit Tagen habe ich keinen Hunger.

Meine Freunde versuchen mir Koka-Tee einzuflössen und erzählen mir vom Treiben im Dorf. Es ist anscheinend nicht wirklich viel los, trotzdem würde ich gerne auf die Straße oder wenigstens an den See, aber ich bin zu schwach. Lange kann ich hier nicht mehr bleiben, mein Körper wehrt sich dagegen, ich bin nicht für diese Höhe geschaffen. Ich werde versuchen etwas zu schlafen.

18. Juni: Mittags, immer noch in der Pension. Heute Nacht war es kalt, und ich habe kein Auge zugetan. Mein Befinden hat sich nicht gebessert. Aber es gibt eine gute Nachricht, die anderen haben sich entschieden, weiter zu fahren, nach Peru.

Ins warme, tiefer gelegene Peru! Mein Kreuzweg scheint ein Ende zu habe. Ich bin es leid, schwach und kränkelnd auf der Pritsche zu liegen und nichts tun zu können. Peru entfaltet sich in meiner Vorstellung zum verheißenen Land, mit Luft zum Atmen, mit begehbaren Straßen, mit gutem Essen und warmen Betten.

P. hat sich am Bahnhof nach dem nächsten Bus Richtung Grenze erkundigt. Für ein paar Bolivianos wird man uns morgen früh an den Grenzübergang bringen. Ich bin beruhigt und fühle mich schon besser. K. überredet mich dazu, mit auf den Dorfplatz zu kommen.

Einige Stunden später. Es ist bereits dunkel und die Kälte kehrt zurück. Wir waren im Dorf, auf dem Markt. Der Tee und die kleinen Fladenbrote waren ausgesprochen lecker. Wir haben Reisepläne geschmiedet und gelacht, alles war entspannt, bis mir einfiel, dass ich nur meinen Personalausweis dabei habe. Mierda! Ich hatte mir bis dahin keine Gedanken darüber gemacht, dass ich nur in an Argentinien angrenzende Länder reisen darf, und dass Peru 100% nicht zu denselbigen gehört.

P., K. und J. haben gelacht und gemeint, dass das ja wohl in Lateinamerika kein Problem sein dürfte, und dass der Mensch an der Grenze mit ein paar frischen Dollars bestimmt zu überreden sei, und dass wir sonst immer noch über die grüne Grenze könnten. Ich solle mir keine Sorgen machen. Am Ende war ich fast überzeugt. Trotzdem: Scheiß Papiere. Scheiß Bürokratie. Scheiß Zoll. Aber Peruaner besitzen ein großes Herz und einen noch größeren Bedarf an leicht verdienter Kohle.

P. freut sich schon auf die Bestechungsgeschichte und malt sich in den schönsten Farben das feiste Gesicht des Grenzers aus. Trotzdem ist mir die Situation unangenehm. Was wird passieren, wenn der Typ keine Lust auf zusätzliches Einkommen hat oder wenn die da zu zweit rumsitzen? Nach einer Auseinandersetzung mit beleidigtem Peruaner ist mir nunmal nicht. Und was machen dann die anderen; fahren sie trotzdem oder spielen sie weiter Krankenpfleger für einen höhenkranken Rechtlosen ohne Pass? Egal, ich will hier weg.

19. Juni, morgens: Gleich fährt der Bus, die Station ist voller Leute: Handlungsreisende, Familien, Urlauber und Sonstige, alle warten und alle sehen so aus, als hätten sie einen Pass in der Tasche oder zumindest einen Verwandten beim Zoll. Mir ist ein bisschen übel, nein, eher richtig schlecht. Die Sache kann nur in die Hosen gehen. Schlimmstenfalls ende ich in einem stinkenden peruanischen Gefängnis und verfaule da bis meine Identität staatlich geprüft worden ist.

Ein Lichtblick! P. ist immer noch guter Dinge und meint, dass er auf alle Fälle, wenn etwas schief ginge, mit mir bei Nacht rüber wolle. Tolle Idee, genau das was ich immer schon mal machen wollte, als Illegaler auf der Flucht vor Grenzern, Hunden und Maschinenpistolen nachts durch die Berge zu robben. Dann kommt der Bus.

22. Juni, Mittags: Der Himmel ist blau und in der Sonne ist es schön warm. Der Fisch und die Kartoffeln waren "tremendamente buenos". Schon gestern war das Essen hier gut. Die Einsamkeit macht mir kaum noch etwas aus. Ich habe mich beruhigt und die Höhe hat keinen Einfluss mehr auf mein Befinden, ich habe den kritischen Punkt überwunden.

Aus Peru ist an dem Tag leider nichts geworden. Alles fing ziemlich gut an. Der Bus hielt ganz in der Nähe des Grenzübergangs. Dieser war klein und keineswegs furchteinflössend. Wir haben uns also in die Schlange der Wartenden eingereiht und die Grenzposten beobachtet. Die Reisenden wurden jeweils einzeln abgefertigt, ein Vorteil für mich. Wir hatten verabredet, getrennt zu warten, um nicht aufzufallen. Alles war genau geplant, ich sollte als erste in das Büro während die anderen draußen warten wollten.

Die Minuten vergingen endlos langsam bis ich an der Reihe war, mehrmals wollte ich umdrehen und einfach weggehen. Dann ging die Tür auf und ich war dran. Der Grenzposten in Uniform sah mich gelangweilt an und wollte nur meinen Pass sehen.

Ich erklärte ihm ohne Umschweife, dass ich keinen besäße und fragte ich ihn, ob es für dieses "kleine" Problem eine Lösung gäbe. Er schaute mich groß an und meinte: "Nein, dafür gibt es keine Lösung, nur die, dass Sie zurück müssen." Ich insistierte und erzählte ihm von meinem Forschungsvorhaben in Peru und wie eminent wichtig diese Reise für mich sei. Dass ich eine Arbeit über die Architektur der Inkas schreiben wolle, und dass ich nur kurz in seinem schönen Land bleiben wolle. Er zeigte sich völlig unbeeindruckt und erwiderte trocken, dass er keinesfalls Geld nehmen würden und dass ihn meine Forschungsgeschichte nicht im geringsten interessiere. Vielmehr versicherte er mir, dass ich, falls ich es trotzdem versuchen würde, garantiert für Wochen in einem Gefängnis landen würde, und dass er mir davon sehr abrate. Die Polizei sei nicht sonderlich gut auf Illegale zu sprechen und so weiter und so fort. Es war nichts zu machen.

Mir war elend zumute. Die Unterredung war beendet, der Zöllner verabschiedete sich mit einem hämischen Grinsen und weidete sich an meinem Unglück bzw. erfreute sich an meinem Schicksal. Ich haßte ihn aus tiefstem Herzens. Draußen warteten die anderen und schauten mich erwartungsvoll an. Nichts, nada, rien ne va plus.

Und nun? Zunächst wollten sie alle aus Solidarität in Bolivien bleiben - so ein Schwachsinn - bis ich sie davon überzeugen konnte, dass ich alleine zurecht käme und auf sie warten würde. P. beharrte auf seiner Idee des nächtlichen Gangs über die grüne Grenze, aber das klang zu sehr nach schlechtem Film, deshalb winkte ich ab.

Wir trennten uns vor dem Zollgebäude. – Nun sind sie weg und ich sitze am Grenz-See und warte auf die Dunkelheit. In zwei, drei Tagen wollen K., P. und J. zurück kommen. Die Luft ist nicht mehr ganz so dünn. Es geht mir gut.

Text: Kathrin Megerle

[druckversion ed 11/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]






[art_3] Venezuela: Choroní (Bildergalerie)
 
Choroní ist einer jener Festlandkaribikstrände, deren Palmen bis ins Wasser ragen. Papageien kreuzen, in den Bäumen sitzen Affen, Pelikane gleiten übers Wasser, steigen empor und schnappen im Sturzflug zu. Gewaltige Bambuspflanzen ziehen sich bis zu Lupos Bar am Hafen. Am Wochende gibts Fiesta. Dann besteht die Möglichkeit mitzufeiern oder auszuweichen in eine der angrenzenden Buchten.

Über Choroní haben wir schon mehrfach berichtet. Aber jede/r Fotograf/in erzählt eine andere Geschichte...

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Fotos: Frank Sippach

Tipp:
Detaillierte Informationen zu Reisen in Venezuela:
Posada Casa Vieja Mérida



[druckversion ed 11/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: venezuela]





[art_4] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana – Etappe [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Erste Etappe: Von Toulouse / Somport bis Jaca
 
Am 12. August 2012 setzte ich einen schon lange in meinem Kopf herum spukenden Plan um und begab mich auf den Camino de Santiago. Da ich nur drei Wochen Zeit hatte, hoffte ich, ungefähr bis Burgos zu kommen. Ich war überzeugt, dieses sakrale Wanderabenteuer gut vorbereitet und an alles gedacht zu haben. Von Meindl-Schuhen über Magnesiumpulver bis hin zur Muschel, die feierlich am Rucksack befestigt wurde. Was hoffte ich zu finden? Wahrscheinlich dasselbe, was all die Millionen gesucht haben, die schon vor mir auf diesem europäischsten aller Wege gepilgert sind: spektakuläre Landschaften, Kulturschätze bis zum Abwinken, magische Momente, die eine Ahnung vermitteln von dem, was wir Ewigkeit nennen und natürlich die Hoffnung auf den totalen Sündenablass.

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Obwohl ich mit dem Wandern erst an der spanischen Grenze in Somport beginnen wollte, war meine erste offizielle Station Toulouse in Südfrankreich. Denn hier in der wunderbaren romanischen Basilika St. Sernin ist seit Jahrhunderten der gemeinsame Startpunkt der Pilger, die den Weg durch Aragón wählen, nachdem die Pilgerrouten aus Arles und Narbonne hier zusammen treffen. So bekam ich den ersten Stempel für meinen Pilgerpass in der Sakristei von St. Sernin. Und ich entdeckte  im Chor eine muschelgeschmückte Büste des Heiligen Jakobus, an der ich erkannte, dass hier der "mein" Weg beginnen sollte.

Am letzten Abend in Toulouse stehe ich am Aufgang zur schönen Brücke plötzlich vor dem ersten Wegweiser mit der gelben Muschel. Die stilisierte Muschel sieht aus wie ein strahlender Stern und erinnert daran, dass der Camino oft mit der Milchstraße, dem Sternenweg, verglichen wurde. Ein gutes Omen.

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Viele haben gefragt, wieso ich denn nicht den viel populäreren Weg von Roncesvalles über Pamplona als Anfangsvariante gewählt habe, sondern stattdessen den Camino Aragonés, der deutlich länger und einsamer ist. Aber genau deshalb habe ich mich dafür entschieden: die Einsamkeit der Berglandschaft und Geisterdörfer im äußersten Norden von Aragón reizten mich mehr als Pamplona (größte Stadt am Jakobsweg) und der ganze Trubel ringsherum.

Am 14. August stieg ich morgens in den Zug nach Pau. Von dort ging es mit einem entzückenden einwaggonigen Spielzeugzug nach Oloron-Sainte Marie und schließlich mit dem Bus über die Grenze auf die spanische Seite der Pyrenäen. Als der Bus dort aus dem Tunnel fuhr, war ich schon in Canfranc Estación, dem zweiten Ort des aragonesischen Jakobsweges. Und alle stiegen aus, sogar einige Pilger mit Jakobsmuscheln. Aber  man muss den Weg ganz am Anfang beginnen. Und so ließ ich mich zum Somport bringen. Auf diesem mit 1.632 Metern höchsten Pyrenäen-Pass steht das offizielle Start-Schild des Camino de Santiago und kündigt – etwas entmutigend – an: 858 Kilometer bis Santiago. (Wenn man den ca. 20 Kilometer langen Umweg über das Kloster San Juan de la Peña mitrechnet, sind es 878 Kilometer.)

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Auf einem Felsblock ein paar Meter neben dem Schild sitzt meine Reisebegleiterin und wartet auf mich. Es war eine Riesenüberraschung, als mich drei Tage vor Abfahrt folgende SMS erreichte: "Will mitkommen auf dem Camino. Treffen uns am 14.8. in Somport. Besitos, Cayetana" – Cayetana, die 22-jährige Tochter von Freunden aus dem andalusischen Cádiz, der ich 2005 Deutschunterricht gegeben hatte. Seitdem hatte sie mich jedes Jahr während der Semana Santa in Sevilla begleitet. Und jetzt war sie entschlossen, auch auf dem Jakobsweg mit mir zusammen mystische Momente (oder das, was sie dafür hielt) zu finden.

Da sitzt sie nun mit lila Trainingsjacke, schicker Sonnenbrille, Kopfhörern und schlägt mit den Füßen den Takt. An ihren Füßen registriere ich normale Turnschuhe in grellem Orange. Neben ihr steht ein erstaunlich kleiner Rucksack (wo hat sie nur ihre ganzen Kosmetika gelassen?), den sie sogar brav mit einer Jakobsmuschel verziert hat. Jetzt hat sie mich entdeckt, schüttelt ihr langes schwarzes Haar nach hinten und springt lächelnd auf mich zu.

Eigentlich hatte Cayetana schon wieder ihren Urlaub auf Ibiza gebucht, aber vor einer Woche storniert. Es sei ja dort immer dasselbe, erklärte sie bei unserem letzten Telefongespräch, und sie habe keine Lust mehr auf endlose Partys und die Anmachsprüche von braungebrannten Beaus.

Stattdessen fasziniert sie plötzlich die Idee, dass nach der Bewältigung des Camino alle Sünden erlassen werden. "Naja, in Deinem Alter lohnt sich das sicher noch nicht…", war vorgestern mein Kommentar durchs Telefon. Am anderen Ende der Leitung ein genervter Seufzer: "Was weißt Du schon, Don Carmelo!" So nannte sie mich scherzhaft, weil ich mich ausgiebig mit dem Studium der Karmeliter-Mystik befasst und irgendwann behauptet hatte, den Jakobsweg zu gehen sei wie der mystische Aufstieg zum Monte Carmelo, den San Juan de la Cruz beschrieben hat. Ich glaube nicht, dass sie das verstanden hat, aber seitdem belegt sie mich mit diesem Spitznamen. Und so bricht das ungleiche Paar Don Carmelo und Cayetana auf, um den Camino zu erobern.

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Vor dem ersten Schritt müssen wir natürlich unseren Pilgerpass stempeln lassen. Die Herberge von Somport wirkt geschlossen – 16 Uhr: Siestazeit. Aber der Hintereingang steht offen und wir bekommen den begehrten blauen Start-Stempel mit dem Wappen und der Inschrift "Summus Portus" sowie einen nicht ganz unwichtigen Kaffee. Während der ersten Kilometer führt der Weg durch in den Fels geschlagene Durchgänge und über holprige, mit hölzernen Geländern abgesicherte Pfade steil nach unten. Ringsumher hohe, teils mit einzelnen Bäumen bewachsene Felsen im Licht der Nachmittagssonne oder von Wolkenschatten verdüstert.

Nachdem wir sechs Kilometer hinter uns gebracht haben, bemerkt Cayetana, dass es hier sehr einsam sei – kein einziger Mensch ist uns bisher begegnet. An drei Stellen zweifeln wir, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind, da wir länger keinen gelben Pfeil mehr entdeckt haben. Doch endlich leuchtet auf einem Steinblock mitten auf dem Pfad ein gelber Santiago-Pfeil. Und kurz dahinter gleich ein zweiter. Cayetana kichert: "Guck mal, direkt neben den Pfeilen ist Kuhscheiße – als ob die Kühe hier den Camino zusätzlich markieren wollten."  Schon seit einer halben Stunde begleitet uns das Echo von Kuhglocken aus dem Tal – und plötzlich stehen wir vor ihnen. Prächtige Almkühe mit Glocken um den Hals, so wie man sie aus den Alpen kennt.

Kurz nach 18 Uhr erreichen wir Canfranc Estación. Wie schon der Name sagt, wird das Dorf dominiert von seinem Bahnhof. Korrekt müsste man sagen von seinem Ex-Bahnhof. Denn dieser riesige Bau aus den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war bei seiner Eröffnung der zweitgrößte Bahnhof Europas. Jetzt ist er schon seit über vier Jahrzehnten außer Betrieb – eine majestätische Ruine vor grandiosem Bergpanorama, ein architektonischer Torso aus einer Epoche, die noch hemmungslos an den Fortschritt glaubte.

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Cayetana merkt an, dass man in diesen unheimlichen Kulissen ganz tolle Horrorfilme wie eine Fortsetzung von Shining drehen könnte. Fasziniert wandern wir über die still gelegten Gleise entlang an dem bröckelnden Bauriegel. Kurz vor Sonnenuntergang kommt ein kühler Wind auf und wir beschließen, ein Bett in der Herberge "Pepito Grillo" zu suchen. Wir kommen gerade noch rechtzeitig, denn es ist voll und wir erhalten das letzte freie Etagenbett. Beim Abendessen ist es höchste Zeit, Cayetana über die Sitten in Pilgerherbergen aufzuklären. "Dir ist hoffentlich klar, dass hier ab 22 Uhr Nachtruhe herrscht und das Licht ausgeschaltet wird. Und morgens ist es üblich, früh aufzustehen und los zu marschieren, also zwischen 6 und 7 Uhr." Sie schaut etwas gequält, bevor sie antwortet: "Na ja, solange ich zum Frühstück Colacao und Croissants mit Nutella bekomme, soll mir das recht sein." "Welches Frühstück?", frage ich mit bösem Lächeln. "Cayetana, wir sind hier nicht im Hotel. In Pilgerherbergen gibt es normalerweise kein Frühstück – und mit Nutella schon mal gar nicht!" Ihr Gesichtsausdruck ist filmreifes Entsetzen. "Kein Nutella?! Und überhaupt nix zum Frühstück?" Sie schlägt vor, das Gewünschte im Laden einzukaufen, aber ich erkläre ihr, dass es im einzigen Dorfladen mit Sicherheit kein Nutella zu kaufen gäbe, sondern Bergkäse und vielleicht Almblütenhonig. Schmollend steigt sie die Leiter des Etagenbetts hoch und vergräbt sich in ihrem Schlafsack.

Am 15.08. (Maria Himmelfahrt!) kurz vor 6.30 Uhr morgens stapfen wir entschlossen durch die Tür ins noch mit Nebel verhangene Tal. Ich bin überrascht, dass Cayetana ohne großes Lamentieren aus dem Bett gekommen ist und nun Schicksal ergeben die ersten Schritte Richtung Westen macht. Wir überqueren den Rio Aragón. Mitten auf der Brücke begutachtet sie mit verschlafenem Rundum-Blick die Landschaft und murmelt: "So richtig hell würde ich das ja noch nicht nennen…" Wird es auch zunächst nicht, denn der Weg führt uns fast eine Stunde lang durch einen düsteren Märchenwald.

Gegen 8 Uhr erreichen wir Canfranc Pueblo, aber das ganze Dorf schläft noch. Spätestens jetzt wirkt Cayetana doch genervt: "Wieso sind wir überhaupt so früh aufgestanden, wenn hier noch jedes Café zu ist?" Die Schönheit der Berglandschaft scheint sie wieder zu beruhigen. Das erste offene Café gibt es endlich um halb elf in Villanúa. In Ermangelung von Nutella bestellt Cayetana an der Theke gleich zwei Schokoladen-Croissants und Kakao, um ihre Schoko-Sucht zu stillen. Und blickt plötzlich völlig entrückt Richtung Theke, als wäre dort ein Altar. Nichts Gutes ahnend, folge ich ihrem Blick. Nein, es ist kein Engel, auch wenn er vielleicht so aussieht. Er poliert Gläser und wirkt eher germanisch als spanisch: groß und blond, Augen so tiefblau wie gefärbte Kontaktlinsen und reichlich muskulöse Wölbungen unter einem zwei Nummern zu kleinen Pulli, der so blau ist wie seine Augen. Cayetanas Müdigkeit ist wie weggeblasen, aber sie ist keineswegs aufbruchsbereit. Sie schlägt ernsthaft vor, wir könnten doch hier ausruhen und zum Mittagessen bleiben. "Du stehst doch eigentlich nicht auf blond", erwidere ich leicht genervt, "und wenn Du aus Liebeskummer den Camino gehst, erwarte ich eine etwas längere Trauerphase. Außerdem – lange Pausen gibt’s heute nicht, wir müssen es auf jeden Fall bis Jaca schaffen!" Sie schmollt, akzeptiert aber – da der Theken-Engel sie und ihre Haarmähnen-Zurückwerf-Aktionen gar nicht beachtet – einen Kompromiss. Ein Gläschen Pacharán (Schlehen-Likör) und dann Aufbruch.

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Mit frischer Energie geht es über schöne Feldwege Richtung Südwesten nach Castiello de Jaca. Inzwischen ist es richtig heiß geworden und unsere Wasserflaschen sind vollkommen leer. Deshalb würdigen wir in Castiello die schöne alte Kirche aus Bruchsteinen nur kurz, weil Durst unsere Gedanken beherrscht. Direkt an der Kirche, wie so oft in Aragón, befindet sich der Dorfbrunnen, an dem wir endlich unseren Wasservorrat auffüllen können. Neben dem Brunnen stützt sich ein Großmütterchen auf ihren Stock und nickt uns freundlich zu. "Jaja, der Camino…", murmelt sie. Sie selbst hätte schon Rekorde aufgestellt. "Schließlich gehe ich jeden Tag den Jakobsweg – die 500 Meter zu meinem Garten und zurück!" Sie lacht laut, zeigt mit ihrem Stock in südwestliche Richtung und wünscht uns einen guten Weg.

Bald überqueren wir zum sechsten oder siebten Mal den Río Aragón, einen mittleren Bach, den in Deutschland niemand Fluss nennen würde. Mitten auf der Brücke schaut Cayetana hinunter und erklärt feierlich: "Das ist wohl der einzige Bach, nach dem ein ganzes Königreich benannt wurde!" Kurz nach der Brücke gabelt sich der Weg und weit und breit ist kein Pfeil zu sehen. Auf einem Stein entdecken wir etwas Gelbes (das aber eher wie ein Kreis aussieht) und entscheiden uns für die Variante, die leicht bergauf führt. Nach ein oder zwei Kilometern ganz ohne Pfeile führt der Weg zurück nach Norden. Ringsherum hügelige Waldlandschaft. Sehr schön, aber nicht zielführend. Wir bleiben stehen. Cayetana stemmt die Hände in die Hüften und blickt mich empört an. "Das sind wir jetzt alles umsonst gegangen und sogar bergauf!" Wir haben uns zweifellos verirrt und ich ärgere mich selbst am meisten darüber. Also zurück. Später erscheint – deutlich hinter der Weggabelung – der nächste gelbe Pfeil.

Beim Endspurt nach Jaca sind vor allem die letzten drei Kilometer eine Qual. Die erste Hauptstadt von Aragón liegt auf einem Hügel und es geht steil bergauf. Die ehemalige Keimzelle des Königreichs ist heute ein beschauliches Städtchen von 12.000 Einwohnern. Endlich oben angekommen, irren wir etwas durch die Gassen, bevor wir kurz nach 16 Uhr vor der Pilgerherberge in der Calle Conde Aznar (Nebenstraße der Calle Mayor) stehen. Als wir eintreten, müssen wir uns in eine Warteschlange einreihen, Dutzende von Rucksäcken mit Muscheln schieben sich Richtung Ruheoase. Ein Stück davor sitzt die Hüterin derselben, die Herrscherin der Herberge, die den Pilgerstempel schwingt, als sei er ein Zepter und sie eine Königin. Streng betrachtet sie uns durch ihre Brille. Woher wir denn kämen, will sie wissen. "Aus Cádiz!", platzt es aus Cayetana heraus. "Soso, aus Andalusien…", murmelt die Herrscherin und blickt Cayetana an, als ob sie etwas Unanständiges gesagt hätte oder Andalusien noch muslimisch sei. "Und Du?", fragt sie ungeduldig. "Aus Deutschland." – "Aha! Aus dem Land von Angela Merkel, die uns jetzt Sparbefehle gibt als wären wir kleine Kinder, die um Taschengeld betteln!" Ich hebe abwehrend die Hände und schwöre bei Santiago, Angie nie gewählt zu haben. Die Herrscherin von Aragón glaubt mir nicht. Sie schaut finster und der Stempel schwebt eine Minute in der Luft. Ganz kurz fühlen wir uns wie Hänsel und Gretel vor der bösen Hexe. Doch dann lächelt sie gnädig und lässt den Stempel  mit heftigem Schwung nieder sausen. Sie zwinkert uns zu, aus der bösen Hexe wird eine gute Fee, die uns den Pilgerpass gestempelt zurückgibt: "Willkommen in Jaca! In Aragón soll niemand auf der Straße schlafen..."

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Nach einer sehr kurzen Siesta schlendern wir zur Kathedrale. Unsere erste Kathedrale auf dem Weg! Nach einem ganzen Tag voller Natur und Bergeinsamkeit ist am Abend Kulturzeit. Cayetana schaut etwas gequält, aber dann blickt sie doch neugierig auf die Monster, die vom Portal grüßen. Die Kathedrale von Jaca mit ihrem festungsartigen Turm gilt als die älteste romanische in Spanien, wurde jedoch stark verändert. Sehr beeindruckend in jedem Fall das rätselhafte Chrismon zwischen zwei Löwen, das am Hauptportal die Besucher empfängt. Innen wollen die einzelnen Bauteile des Tempels aber nicht recht zusammen passen. Es gibt sakrale Kunstwerke von hohem Wert: die romanischen Säulen, eine schöne Christusskulptur rechts in einer Seitenkapelle, ein plateresker Altar mit Anna und Maria im Zentrum. Auch die spätgotischen Gewölbe sind kunstvoll, passen aber nicht zur romanischen  Struktur; dasselbe gilt für die barocken Kuppelfresken im Chorraum über der Orgel – zu prächtig für einen Bau aus der Romanik. In der Kapelle der Heiligen Orosia ist Cayetana enttäuscht, weil ich diese Heilige nicht kenne und ihr nichts darüber erzählen kann – soll sie halt bei Wikipedia nachschauen.

Als wir aus der Kathedrale kommen, ist es erstaunlich düster. Es regnet! Zum Glück nur ein kurzes Gewitter, das danach den Vorhang vom Himmel zurückzieht und die Bühne frei gibt für ein Abendlichtspektakel der besonderen Art. Wir laufen zur Ciudadela, der gewaltigen Burg in Form eines riesigen Pentagons aus dem 16. Jahrhundert. Eine flammende Abendsonne taucht nach gewonnenem Kampf die finstere Festung und die ganze Stadt in goldenes Licht, die abziehenden lila Gewitterwolken bilden die Kulisse für dieses Wettertheater.
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Cayetana ist begeistert, rennt im Kreis um die ganze Burg herum und fotografiert, bis der Akku ihrer Kamera kapituliert. Unsere Freundin Carmen würde jetzt sagen: "Dieses Licht bringt selbst Atheisten zum Beten."

Apropos Beten: das sollte ja an einem Pilgertag auch nicht ganz vergessen werden. Als ich kurz vor 20 Uhr nochmals die Schuhe schnüre, um zur Pilgermesse in der Kirche Santiago zu gehen, streikt Cayetana sehr entschieden: "Ich habe jetzt acht Stunden und 30 Kilometer Gott mit meinen Füßen gelobt – das reicht für heute!" Dann springt sie mit Kopfhörern auf die Matratze und fügt vorsorglich hinzu: "Und in Burgos ist sowieso Schluss!" Viel hat sie nicht verpasst: ein alter, nicht sehr motivierter Priester leierte den Text lustlos herunter, als wäre die Heilige Schrift ein Beipackzettel für Kopfschmerztabletten.

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Diese Nacht habe ich einen Alptraum. Ich gehe in den Bergen durch einen labyrinthischen Waldweg, wo Hunderte von gelb leuchtenden Pfeilen alle in verschiedene Richtungen zeigen. Ich gehe im Kreis, weil ich mich nicht entscheiden kann, welcher gelbe Pfeil die einzig wahre Richtung anzeigt. Vor lauter Ratlosigkeit wache ich auf. Cayetana hat einen ähnlichen Traum – aber bei ihr führen die vielen gelben Pfeile alle in dieselbe Richtung. Im Traum mündet ihr Weg auf einer blühenden Almwiese und endet vor einem gigantischen, zehn Meter hohen Nutella-Glas.

Text und Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Der vielleicht beste Jakobsweg-Führer:
Cordula Rabe: "Spanischer Jakobsweg – von den Pyrenäen nach Santiago de Compostela in 41 Etappen" (Reihe Rother Wanderführer, Bergverlag Rother GmbH, München 2011)

Zur kulturhistorischen Ergänzung:
Juan Ramón Corpas Mauleón: "Kuriositäten auf dem Jakobsweg" (Übersetzung Albert Weindl, PanOptikum Verlag Köln 2008)

Vor der Abreise:
Unbedingt den Pilgerpass bei einem der Jakobusvereine bestellen (z.B. www.jakobusfreunde-paderborn.eu/pigerbuero.html) Denn nur mit Pilgerpass ist man berechtigt, in Herbergen zu übernachten und ohne ihn gibt es am Ende in Santiago keine Urkunde. Jakobsmuschel als Erkennungszeichen an Rucksack oder Kleidung befestigen.

Unverzichtbar:
Schlafsack, gute Schuhe (z.B. Meindl, Modell "Arizona"),  nahtlose Mikrofaser-Strümpfe, Hirschtalg für die Füße, Compeed-Blasenpflaster, schnell trocknende Mikrofaser-Sportkleidung; Fotokamera mit Akkus und Aufladegerät, jeden Tag mindestens 3 Liter Wasser und kalorienreiche Kleinigkeiten (Trockenobst, Mandeln, Kekse) mitnehmen.

Transport von Toulouse nach Somport:
Mit dem Zug über Pau nach Oloron-Sainte Marie (mit Umsteigen ca. 4 Stunden)
Von Oloron mit dem Bus nach Somport (knapp 1,5 Stunden)
Etappe Somport – Canfranc Estación (knapp 8 Kilometer, ca. 2 Stunden Wanderzeit)
Etappe Canfranc Estación – Jaca (26 Kilometer, ca. 7 Stunden)

Unterkunft:
In Canfranc Estación: Albergue Pepito Grillo (keine reine Pilgerherberge, an der Straße gelegen, Tel. 974373123, Preis: 18 Euro, für Pilger Rabatt)
In Jaca: Albergue Municipal (gut ausgestattet), Calle Conde Aznar, Tel. 954355758
Generell ist der Empfang in Pilgerherbergen meist zwischen 16 und 21 Uhr geöffnet, man sollte aber besser vor 18 Uhr ankommen, ab 22 Uhr geschlossen + Nachtruhe

Verpflegung:
Canfranc Estación: Albergue Pepito Grillo (abends preiswertes 3-Gänge-Menü, morgens Frühstück ab 7.30 Uhr)
Jaca: Café Babelia, Zocotín 11, Tel. 974355093 (mittags und abends 3-Gänge-Menüs, gute Weine), Konditoreien in der Calle Mayor, Spezialität v.a. Mandelgebäck

[druckversion ed 11/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]




[kol_1] Hopfiges: 1906 Reserva Especial
 
Auf meinem Grabstein wird stehen: Sie hätte 20 Jahre älter werden können, doch sie hatte uns. Papi und Prinzessin

Vorübergehende Demenz durch Schlafentzug. Und in diesem Zustand soll ich möglichst objektiv Bier verkosten. Immerhin rücke ich schon vor dem ersten Schluck ab von meiner Prämisse Was nicht schmeckt, wandert in den Ausguss, kann ich jetzt echt einen kräftigen Zug vertragen.

Zu verkosten gilt es eine 1906 Reserva Especial. Eine weitere Reserva im seit einigen Jahren in Spanien aufkommenden Reserva-Dschungel. Form und Layout der 1906 Dose sind gelungen. Sie ist gestreckt, aber nicht übertrieben gertig. Die Grundfarbe schwarz, durch die Kühlung mit einem frischen perligen Silberschatten überzogen. Die verschiedenen Schrifttypen schaffen ein harmonisches Verhältnis von Tradition – Braukunst seit 1906 – und zeitgemäßer Verlockung: Anfassen, aufreißen, austrinken.



Mit dem Austrinken warte ich noch, erst einmal darf das durch Schlafmangel erkältete Näschen ran. Ich beuge mich tiefer und tiefer und endlich als der Bierschaum schon die empfindliche Nasenspitze kitzelt, stellt sich ein wohltuendes, wenig süßliches Aroma nach Brombeere und Heideröslein ein. Farblich passt die 1906er zu rustikalem Ambiente und Kaminfeuer. Den zwischen Bernstein und Mahagoni liegenden Sud bedeckt eine ordentliche Schaumkrone. 6,5% Alkohol Volumen verwundern nicht angesichts von Form und Farbe.

Der Geruch setzt sich im Geschmack fort. Leicht beerig und blumig. Erstaunlich wohltuend und abgerundet. Die süßliche Schwere fehlt. Puh! Gleiches gilt für den metallenen Dosengeschmack. Dafür sorgt der Hopfen für eine angenehme Bitternote. Und schon ist es leer. Fazit: In Berlin sagt man War gut gewesen. In Stuttgart Scho recht. Und in Köln Wat en fein Stöffje.

1906?
Das Jahr 1906 ist für den caiman ein außerordentlich wichtiges Jahr, denn das Büro der Redaktionen Deutsch, Bild und Layout, mit dem bevorzugten Verkostungsambiente befindet sich in einem 1906 erbauten Haus aus der Gründerzeit in Berlin. Deutschland hielten 1906 die Marokko-Krise und der Stadtkassenraub des Hauptmanns von Köpenick in Atem. In Spanien kehrt D. Jose Mª Rivera Corral aus Veracruz (Mexiko) in die spanische Heimat zurück und gründet in La Coruña die Brauerei La Estrella de Galicia. 106 Jahre später wird das jüngste Bier-Produkt, die 1906 Reserva Especial, aus dem Hause Hijos de Rivera (Söhne des Gründers, die heute in der 4. Generation die Firma weiterführen) mit der Goldmedaille der World Beer Challenge 2012 und der Auszeichnung für einen hervoragenden Geschmack mit drei Goldenen Sternen des International Taste & Quality Institute 2012 ausgezeichnet.


Und dann gibt es im Internet noch reihenweise Jazz-Momente, die sehr hörenswerten 1906 Momentos Reserva Especial. Etwa dieser:



Bewertung 1906 Reserva Especial:

1. Hang over Faktor
(4 = kein Kopfschmerz):
2. Wohlfühlfaktor (Hängematte)
(4 = Sauwohl):
3. Etikett/Layout/Flaschenform
(4 = zum Reinbeißen):
4. Tageszeit Unabhängigkeit
(4 = 26 Stunden am Tag):
5. Völkerverständigung
(4 = Verhandlungssicher):

Text, Foto + Verkostung: Maria Josefa Hausmeister

[druckversion ed 11/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: hopfiges]





[kol_2] Erlesen: Don Winslow – Zeit des Zorns
 
Mit einer Geschwindigkeit, die ihres gleichen sucht, treibt Don Winslow die Leser durch den 340 Seiten starken Roman. Die Zeilen rattern durchs' Hirn, das sich anfühlt wie Speedgepuscht. Er hat mich, spricht mich an, zieht mich in die Handlung mit ein. Zwischen den Zeilen ruft er mir entgegen: Soll ich dir die Charaktere immer wieder erklären oder hast dus’ endlich. Es gibt Seiten, die schaff ich in Sekunden. Zeigefinger und Daumen der rechten Hand wurden noch nie so beansprucht. Gefühlt liest sich der Roman in einem knappen Stündchen – was natürlich Blödsinn ist. Aber einen Gedanken zu fassen zum konsumierten Stoff, gelingt erst nach der Lektüre.

Zeit des Zorns

Autor: Robert Wilson
Taschenbuch: 640 Seiten
Verlag: Goldmann Verlag (1. März 2004)
ISBN-10: 3442456371 / ISBN-13: 978-3442456376



Kostprobe Kapitel 59-61:

59
[...]
Trotzdem...
Ihr wollt unser Marihuana-Unternehmen? Ihr könnt es haben.
Wir kommen nicht gegen euch an. Wir geben uns geschlagen. Hasta la.
Vaya con.
AMF.
(Adiós Motherfuckers.)

60
Alex wendet sich an Chon. "Was sagst du dazu?"
Oh Mann, komm schon.
Komm schoooon.
Wir wissen, was Chon dazu sagt.
Darüber haben wir bereits gesprochen.

61
Das ist seine baditude.
Die ihn glücklich macht.

62
[...]

Zwei super sympathische Superhirne kultivieren das weltfeinste Dope für jedwede Situation: Sex, Arbeit, Entspannung. Die Pharmaindustrie könnte mit Lizenzen der verschiedenen Mischungen den Weltfrieden herbeiführen.
Erstklassiges, unüberbietbar sicheres, gesundes, biologisch angebautes Spitzen-Hydro-Gras.

Ben und Chon lieben – ganz offen und schmerzfrei – O. O heißt O, weil sie ihren Namen (Ophelia) nicht mag und ohrenbetäubend kommt. Die beiden Superhirne führen ihr Unternehmen mit super innovativ betriebswirtschaftlichem Händchen. Ben finanziert damit Psychotherapeutische Kliniken für Vergewaltigungsopfer im Kongo, Chan, der im Krieg für sein Land getötet hat, erledigt – was Ben bewusst ausblendet – den minimalen gewaltunabdingbaren Anteil des Geschäftlichen.

Das Leben könnte schöner nicht sein, wenn sich nicht eines Tages das Baja-Kartell für den nordamerikanischen Marihuanamarkt interessieren würde. Sie entführen O. Ben zögert Chans Strategie des brutalen Gewalt-Erstschlags zu folgen. Schade! Denn radikalisieren muss er sich doch, worunter die Genialität der Roman-Figur leidet. Im gleichen Rhythmus flacht die Geschichte langsam aber stetig ab. Den bereits eingeführten charmant, gewieft, interessant, hart und durchgeknallt Charakteren aus Laguna Beach folgen nur noch schwache, dekadente, langweilige und brutal dumme aus Baja California – Bens und Chons Gegenspieler auf Seiten der Drogenkartelle.

Und mit dem Nachlassen der Superlative verschwinden zunehmend auch Sprachwitz und Überraschungseffekte. Die Wirkung des Speeds lässt nach und die Geschichte wird in unspektakulärer Fleißarbeit nach Hause gebracht.

Fazit: Leider bleibt mir die Genialität von Don Winslows Roman "Zeit des Zorns" nach der letzten Seite kaum noch in Erinnerung. Den ersten Teil werde ich aus diesem Grund aber auf jeden Fall noch einmal lesen, denn er ist sprachlich und in seinen Gedankensprüngen unübertroffen kurzweilig interessant. Auch wenn ich gerade ein wenig die Schnauze voll habe, so freue ich mich in absehbarer Zeit doch schon auf die gerade auf Deutsch erschienene, zeitlich vorangestellte zornige Fortsetzung "Kings of cool".

Text: Dirk Klaiber
Foto: amazon

[druckversion ed 11/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





[kol_3] Amor: Wortspiele und Lebensweisheiten (Teil 10)
 
Original: La madera vieja quema mejor.
Wortwörtlich: Altes Holz brennt besser.
Sinngemäß: Altes Fleisch gibt fette Suppen.

Original: Entre más conozco a la gente, más quiero a mi perro.
Wortwörtlich: Je besser ich die Leute kennen lerne, desto mehr liebe ich meinen Hund.
Sinngemäß: Der Hund ist der beste Freund des Menschen.



Original: A la mejor cocinera se le quema la tortilla.
Wortwörtlich: Auch der besten Köchin brennt mal eine Tortilla an.
Sinngemäß: Niemand ist unfehlbar. Oder: Selbst auf dem höchsten Thron sitzt man auf dem eigenen Hintern.

Original: Gallo que no canta... algo tiene en la garganta.
Wortwörtlich: Hahn, der nicht singt, hat etwas im Hals.
Sinngemäß: Es gibt für alles einen Grund.

Original: Si quieres al perro... acepta las pulgas.
Wortwörtlich: Wenn Du den Hund möchtest, akzeptiere auch die Flöhe.
Sinngemäß: Wer A sagt, muss auch B sagen.

Original: Más vale ser cabeza de ratón... que cola de león.
Wortwörtlich: Besser ist es, der Kopf einer Maus zu sein, als der Schwanz eines Löwen.
Sinngemäß: Besser intelligent als dekorativ.

Original: No se puede tapar el sol con un dedo.
Wortwörtlich: Man kann die Sonne nicht mit einem Finger verdecken.
Sinngemäß: Etwas unmögliches versuchen.

Text + Foto: Camila Uzquiano

Und weitere Wortspiele und Weisheiten:
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 1
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 2
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 3
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 4
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 5
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 6
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 7
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 8
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 9

[druckversion ed 11/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: amor]





[art_4] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana – Etappe [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Erste Etappe: Von Toulouse / Somport bis Jaca
 
Am 12. August 2012 setzte ich einen schon lange in meinem Kopf herum spukenden Plan um und begab mich auf den Camino de Santiago. Da ich nur drei Wochen Zeit hatte, hoffte ich, ungefähr bis Burgos zu kommen. Ich war überzeugt, dieses sakrale Wanderabenteuer gut vorbereitet und an alles gedacht zu haben. Von Meindl-Schuhen über Magnesiumpulver bis hin zur Muschel, die feierlich am Rucksack befestigt wurde. Was hoffte ich zu finden? Wahrscheinlich dasselbe, was all die Millionen gesucht haben, die schon vor mir auf diesem europäischsten aller Wege gepilgert sind: spektakuläre Landschaften, Kulturschätze bis zum Abwinken, magische Momente, die eine Ahnung vermitteln von dem, was wir Ewigkeit nennen und natürlich die Hoffnung auf den totalen Sündenablass.

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Obwohl ich mit dem Wandern erst an der spanischen Grenze in Somport beginnen wollte, war meine erste offizielle Station Toulouse in Südfrankreich. Denn hier in der wunderbaren romanischen Basilika St. Sernin ist seit Jahrhunderten der gemeinsame Startpunkt der Pilger, die den Weg durch Aragón wählen, nachdem die Pilgerrouten aus Arles und Narbonne hier zusammen treffen. So bekam ich den ersten Stempel für meinen Pilgerpass in der Sakristei von St. Sernin. Und ich entdeckte  im Chor eine muschelgeschmückte Büste des Heiligen Jakobus, an der ich erkannte, dass hier der "mein" Weg beginnen sollte.

Am letzten Abend in Toulouse stehe ich am Aufgang zur schönen Brücke plötzlich vor dem ersten Wegweiser mit der gelben Muschel. Die stilisierte Muschel sieht aus wie ein strahlender Stern und erinnert daran, dass der Camino oft mit der Milchstraße, dem Sternenweg, verglichen wurde. Ein gutes Omen.

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Viele haben gefragt, wieso ich denn nicht den viel populäreren Weg von Roncesvalles über Pamplona als Anfangsvariante gewählt habe, sondern stattdessen den Camino Aragonés, der deutlich länger und einsamer ist. Aber genau deshalb habe ich mich dafür entschieden: die Einsamkeit der Berglandschaft und Geisterdörfer im äußersten Norden von Aragón reizten mich mehr als Pamplona (größte Stadt am Jakobsweg) und der ganze Trubel ringsherum.

Am 14. August stieg ich morgens in den Zug nach Pau. Von dort ging es mit einem entzückenden einwaggonigen Spielzeugzug nach Oloron-Sainte Marie und schließlich mit dem Bus über die Grenze auf die spanische Seite der Pyrenäen. Als der Bus dort aus dem Tunnel fuhr, war ich schon in Canfranc Estación, dem zweiten Ort des aragonesischen Jakobsweges. Und alle stiegen aus, sogar einige Pilger mit Jakobsmuscheln. Aber  man muss den Weg ganz am Anfang beginnen. Und so ließ ich mich zum Somport bringen. Auf diesem mit 1.632 Metern höchsten Pyrenäen-Pass steht das offizielle Start-Schild des Camino de Santiago und kündigt – etwas entmutigend – an: 858 Kilometer bis Santiago. (Wenn man den ca. 20 Kilometer langen Umweg über das Kloster San Juan de la Peña mitrechnet, sind es 878 Kilometer.)

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Auf einem Felsblock ein paar Meter neben dem Schild sitzt meine Reisebegleiterin und wartet auf mich. Es war eine Riesenüberraschung, als mich drei Tage vor Abfahrt folgende SMS erreichte: "Will mitkommen auf dem Camino. Treffen uns am 14.8. in Somport. Besitos, Cayetana" – Cayetana, die 22-jährige Tochter von Freunden aus dem andalusischen Cádiz, der ich 2005 Deutschunterricht gegeben hatte. Seitdem hatte sie mich jedes Jahr während der Semana Santa in Sevilla begleitet. Und jetzt war sie entschlossen, auch auf dem Jakobsweg mit mir zusammen mystische Momente (oder das, was sie dafür hielt) zu finden.

Da sitzt sie nun mit lila Trainingsjacke, schicker Sonnenbrille, Kopfhörern und schlägt mit den Füßen den Takt. An ihren Füßen registriere ich normale Turnschuhe in grellem Orange. Neben ihr steht ein erstaunlich kleiner Rucksack (wo hat sie nur ihre ganzen Kosmetika gelassen?), den sie sogar brav mit einer Jakobsmuschel verziert hat. Jetzt hat sie mich entdeckt, schüttelt ihr langes schwarzes Haar nach hinten und springt lächelnd auf mich zu.

Eigentlich hatte Cayetana schon wieder ihren Urlaub auf Ibiza gebucht, aber vor einer Woche storniert. Es sei ja dort immer dasselbe, erklärte sie bei unserem letzten Telefongespräch, und sie habe keine Lust mehr auf endlose Partys und die Anmachsprüche von braungebrannten Beaus.

Stattdessen fasziniert sie plötzlich die Idee, dass nach der Bewältigung des Camino alle Sünden erlassen werden. "Naja, in Deinem Alter lohnt sich das sicher noch nicht…", war vorgestern mein Kommentar durchs Telefon. Am anderen Ende der Leitung ein genervter Seufzer: "Was weißt Du schon, Don Carmelo!" So nannte sie mich scherzhaft, weil ich mich ausgiebig mit dem Studium der Karmeliter-Mystik befasst und irgendwann behauptet hatte, den Jakobsweg zu gehen sei wie der mystische Aufstieg zum Monte Carmelo, den San Juan de la Cruz beschrieben hat. Ich glaube nicht, dass sie das verstanden hat, aber seitdem belegt sie mich mit diesem Spitznamen. Und so bricht das ungleiche Paar Don Carmelo und Cayetana auf, um den Camino zu erobern.

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Vor dem ersten Schritt müssen wir natürlich unseren Pilgerpass stempeln lassen. Die Herberge von Somport wirkt geschlossen – 16 Uhr: Siestazeit. Aber der Hintereingang steht offen und wir bekommen den begehrten blauen Start-Stempel mit dem Wappen und der Inschrift "Summus Portus" sowie einen nicht ganz unwichtigen Kaffee. Während der ersten Kilometer führt der Weg durch in den Fels geschlagene Durchgänge und über holprige, mit hölzernen Geländern abgesicherte Pfade steil nach unten. Ringsumher hohe, teils mit einzelnen Bäumen bewachsene Felsen im Licht der Nachmittagssonne oder von Wolkenschatten verdüstert.

Nachdem wir sechs Kilometer hinter uns gebracht haben, bemerkt Cayetana, dass es hier sehr einsam sei – kein einziger Mensch ist uns bisher begegnet. An drei Stellen zweifeln wir, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind, da wir länger keinen gelben Pfeil mehr entdeckt haben. Doch endlich leuchtet auf einem Steinblock mitten auf dem Pfad ein gelber Santiago-Pfeil. Und kurz dahinter gleich ein zweiter. Cayetana kichert: "Guck mal, direkt neben den Pfeilen ist Kuhscheiße – als ob die Kühe hier den Camino zusätzlich markieren wollten."  Schon seit einer halben Stunde begleitet uns das Echo von Kuhglocken aus dem Tal – und plötzlich stehen wir vor ihnen. Prächtige Almkühe mit Glocken um den Hals, so wie man sie aus den Alpen kennt.

Kurz nach 18 Uhr erreichen wir Canfranc Estación. Wie schon der Name sagt, wird das Dorf dominiert von seinem Bahnhof. Korrekt müsste man sagen von seinem Ex-Bahnhof. Denn dieser riesige Bau aus den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war bei seiner Eröffnung der zweitgrößte Bahnhof Europas. Jetzt ist er schon seit über vier Jahrzehnten außer Betrieb – eine majestätische Ruine vor grandiosem Bergpanorama, ein architektonischer Torso aus einer Epoche, die noch hemmungslos an den Fortschritt glaubte.

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Cayetana merkt an, dass man in diesen unheimlichen Kulissen ganz tolle Horrorfilme wie eine Fortsetzung von Shining drehen könnte. Fasziniert wandern wir über die still gelegten Gleise entlang an dem bröckelnden Bauriegel. Kurz vor Sonnenuntergang kommt ein kühler Wind auf und wir beschließen, ein Bett in der Herberge "Pepito Grillo" zu suchen. Wir kommen gerade noch rechtzeitig, denn es ist voll und wir erhalten das letzte freie Etagenbett. Beim Abendessen ist es höchste Zeit, Cayetana über die Sitten in Pilgerherbergen aufzuklären. "Dir ist hoffentlich klar, dass hier ab 22 Uhr Nachtruhe herrscht und das Licht ausgeschaltet wird. Und morgens ist es üblich, früh aufzustehen und los zu marschieren, also zwischen 6 und 7 Uhr." Sie schaut etwas gequält, bevor sie antwortet: "Na ja, solange ich zum Frühstück Colacao und Croissants mit Nutella bekomme, soll mir das recht sein." "Welches Frühstück?", frage ich mit bösem Lächeln. "Cayetana, wir sind hier nicht im Hotel. In Pilgerherbergen gibt es normalerweise kein Frühstück – und mit Nutella schon mal gar nicht!" Ihr Gesichtsausdruck ist filmreifes Entsetzen. "Kein Nutella?! Und überhaupt nix zum Frühstück?" Sie schlägt vor, das Gewünschte im Laden einzukaufen, aber ich erkläre ihr, dass es im einzigen Dorfladen mit Sicherheit kein Nutella zu kaufen gäbe, sondern Bergkäse und vielleicht Almblütenhonig. Schmollend steigt sie die Leiter des Etagenbetts hoch und vergräbt sich in ihrem Schlafsack.

Am 15.08. (Maria Himmelfahrt!) kurz vor 6.30 Uhr morgens stapfen wir entschlossen durch die Tür ins noch mit Nebel verhangene Tal. Ich bin überrascht, dass Cayetana ohne großes Lamentieren aus dem Bett gekommen ist und nun Schicksal ergeben die ersten Schritte Richtung Westen macht. Wir überqueren den Rio Aragón. Mitten auf der Brücke begutachtet sie mit verschlafenem Rundum-Blick die Landschaft und murmelt: "So richtig hell würde ich das ja noch nicht nennen…" Wird es auch zunächst nicht, denn der Weg führt uns fast eine Stunde lang durch einen düsteren Märchenwald.

Gegen 8 Uhr erreichen wir Canfranc Pueblo, aber das ganze Dorf schläft noch. Spätestens jetzt wirkt Cayetana doch genervt: "Wieso sind wir überhaupt so früh aufgestanden, wenn hier noch jedes Café zu ist?" Die Schönheit der Berglandschaft scheint sie wieder zu beruhigen. Das erste offene Café gibt es endlich um halb elf in Villanúa. In Ermangelung von Nutella bestellt Cayetana an der Theke gleich zwei Schokoladen-Croissants und Kakao, um ihre Schoko-Sucht zu stillen. Und blickt plötzlich völlig entrückt Richtung Theke, als wäre dort ein Altar. Nichts Gutes ahnend, folge ich ihrem Blick. Nein, es ist kein Engel, auch wenn er vielleicht so aussieht. Er poliert Gläser und wirkt eher germanisch als spanisch: groß und blond, Augen so tiefblau wie gefärbte Kontaktlinsen und reichlich muskulöse Wölbungen unter einem zwei Nummern zu kleinen Pulli, der so blau ist wie seine Augen. Cayetanas Müdigkeit ist wie weggeblasen, aber sie ist keineswegs aufbruchsbereit. Sie schlägt ernsthaft vor, wir könnten doch hier ausruhen und zum Mittagessen bleiben. "Du stehst doch eigentlich nicht auf blond", erwidere ich leicht genervt, "und wenn Du aus Liebeskummer den Camino gehst, erwarte ich eine etwas längere Trauerphase. Außerdem – lange Pausen gibt’s heute nicht, wir müssen es auf jeden Fall bis Jaca schaffen!" Sie schmollt, akzeptiert aber – da der Theken-Engel sie und ihre Haarmähnen-Zurückwerf-Aktionen gar nicht beachtet – einen Kompromiss. Ein Gläschen Pacharán (Schlehen-Likör) und dann Aufbruch.

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Mit frischer Energie geht es über schöne Feldwege Richtung Südwesten nach Castiello de Jaca. Inzwischen ist es richtig heiß geworden und unsere Wasserflaschen sind vollkommen leer. Deshalb würdigen wir in Castiello die schöne alte Kirche aus Bruchsteinen nur kurz, weil Durst unsere Gedanken beherrscht. Direkt an der Kirche, wie so oft in Aragón, befindet sich der Dorfbrunnen, an dem wir endlich unseren Wasservorrat auffüllen können. Neben dem Brunnen stützt sich ein Großmütterchen auf ihren Stock und nickt uns freundlich zu. "Jaja, der Camino…", murmelt sie. Sie selbst hätte schon Rekorde aufgestellt. "Schließlich gehe ich jeden Tag den Jakobsweg – die 500 Meter zu meinem Garten und zurück!" Sie lacht laut, zeigt mit ihrem Stock in südwestliche Richtung und wünscht uns einen guten Weg.

Bald überqueren wir zum sechsten oder siebten Mal den Río Aragón, einen mittleren Bach, den in Deutschland niemand Fluss nennen würde. Mitten auf der Brücke schaut Cayetana hinunter und erklärt feierlich: "Das ist wohl der einzige Bach, nach dem ein ganzes Königreich benannt wurde!" Kurz nach der Brücke gabelt sich der Weg und weit und breit ist kein Pfeil zu sehen. Auf einem Stein entdecken wir etwas Gelbes (das aber eher wie ein Kreis aussieht) und entscheiden uns für die Variante, die leicht bergauf führt. Nach ein oder zwei Kilometern ganz ohne Pfeile führt der Weg zurück nach Norden. Ringsherum hügelige Waldlandschaft. Sehr schön, aber nicht zielführend. Wir bleiben stehen. Cayetana stemmt die Hände in die Hüften und blickt mich empört an. "Das sind wir jetzt alles umsonst gegangen und sogar bergauf!" Wir haben uns zweifellos verirrt und ich ärgere mich selbst am meisten darüber. Also zurück. Später erscheint – deutlich hinter der Weggabelung – der nächste gelbe Pfeil.

Beim Endspurt nach Jaca sind vor allem die letzten drei Kilometer eine Qual. Die erste Hauptstadt von Aragón liegt auf einem Hügel und es geht steil bergauf. Die ehemalige Keimzelle des Königreichs ist heute ein beschauliches Städtchen von 12.000 Einwohnern. Endlich oben angekommen, irren wir etwas durch die Gassen, bevor wir kurz nach 16 Uhr vor der Pilgerherberge in der Calle Conde Aznar (Nebenstraße der Calle Mayor) stehen. Als wir eintreten, müssen wir uns in eine Warteschlange einreihen, Dutzende von Rucksäcken mit Muscheln schieben sich Richtung Ruheoase. Ein Stück davor sitzt die Hüterin derselben, die Herrscherin der Herberge, die den Pilgerstempel schwingt, als sei er ein Zepter und sie eine Königin. Streng betrachtet sie uns durch ihre Brille. Woher wir denn kämen, will sie wissen. "Aus Cádiz!", platzt es aus Cayetana heraus. "Soso, aus Andalusien…", murmelt die Herrscherin und blickt Cayetana an, als ob sie etwas Unanständiges gesagt hätte oder Andalusien noch muslimisch sei. "Und Du?", fragt sie ungeduldig. "Aus Deutschland." – "Aha! Aus dem Land von Angela Merkel, die uns jetzt Sparbefehle gibt als wären wir kleine Kinder, die um Taschengeld betteln!" Ich hebe abwehrend die Hände und schwöre bei Santiago, Angie nie gewählt zu haben. Die Herrscherin von Aragón glaubt mir nicht. Sie schaut finster und der Stempel schwebt eine Minute in der Luft. Ganz kurz fühlen wir uns wie Hänsel und Gretel vor der bösen Hexe. Doch dann lächelt sie gnädig und lässt den Stempel  mit heftigem Schwung nieder sausen. Sie zwinkert uns zu, aus der bösen Hexe wird eine gute Fee, die uns den Pilgerpass gestempelt zurückgibt: "Willkommen in Jaca! In Aragón soll niemand auf der Straße schlafen..."

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Nach einer sehr kurzen Siesta schlendern wir zur Kathedrale. Unsere erste Kathedrale auf dem Weg! Nach einem ganzen Tag voller Natur und Bergeinsamkeit ist am Abend Kulturzeit. Cayetana schaut etwas gequält, aber dann blickt sie doch neugierig auf die Monster, die vom Portal grüßen. Die Kathedrale von Jaca mit ihrem festungsartigen Turm gilt als die älteste romanische in Spanien, wurde jedoch stark verändert. Sehr beeindruckend in jedem Fall das rätselhafte Chrismon zwischen zwei Löwen, das am Hauptportal die Besucher empfängt. Innen wollen die einzelnen Bauteile des Tempels aber nicht recht zusammen passen. Es gibt sakrale Kunstwerke von hohem Wert: die romanischen Säulen, eine schöne Christusskulptur rechts in einer Seitenkapelle, ein plateresker Altar mit Anna und Maria im Zentrum. Auch die spätgotischen Gewölbe sind kunstvoll, passen aber nicht zur romanischen  Struktur; dasselbe gilt für die barocken Kuppelfresken im Chorraum über der Orgel – zu prächtig für einen Bau aus der Romanik. In der Kapelle der Heiligen Orosia ist Cayetana enttäuscht, weil ich diese Heilige nicht kenne und ihr nichts darüber erzählen kann – soll sie halt bei Wikipedia nachschauen.

Als wir aus der Kathedrale kommen, ist es erstaunlich düster. Es regnet! Zum Glück nur ein kurzes Gewitter, das danach den Vorhang vom Himmel zurückzieht und die Bühne frei gibt für ein Abendlichtspektakel der besonderen Art. Wir laufen zur Ciudadela, der gewaltigen Burg in Form eines riesigen Pentagons aus dem 16. Jahrhundert. Eine flammende Abendsonne taucht nach gewonnenem Kampf die finstere Festung und die ganze Stadt in goldenes Licht, die abziehenden lila Gewitterwolken bilden die Kulisse für dieses Wettertheater.
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Cayetana ist begeistert, rennt im Kreis um die ganze Burg herum und fotografiert, bis der Akku ihrer Kamera kapituliert. Unsere Freundin Carmen würde jetzt sagen: "Dieses Licht bringt selbst Atheisten zum Beten."

Apropos Beten: das sollte ja an einem Pilgertag auch nicht ganz vergessen werden. Als ich kurz vor 20 Uhr nochmals die Schuhe schnüre, um zur Pilgermesse in der Kirche Santiago zu gehen, streikt Cayetana sehr entschieden: "Ich habe jetzt acht Stunden und 30 Kilometer Gott mit meinen Füßen gelobt – das reicht für heute!" Dann springt sie mit Kopfhörern auf die Matratze und fügt vorsorglich hinzu: "Und in Burgos ist sowieso Schluss!" Viel hat sie nicht verpasst: ein alter, nicht sehr motivierter Priester leierte den Text lustlos herunter, als wäre die Heilige Schrift ein Beipackzettel für Kopfschmerztabletten.

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Diese Nacht habe ich einen Alptraum. Ich gehe in den Bergen durch einen labyrinthischen Waldweg, wo Hunderte von gelb leuchtenden Pfeilen alle in verschiedene Richtungen zeigen. Ich gehe im Kreis, weil ich mich nicht entscheiden kann, welcher gelbe Pfeil die einzig wahre Richtung anzeigt. Vor lauter Ratlosigkeit wache ich auf. Cayetana hat einen ähnlichen Traum – aber bei ihr führen die vielen gelben Pfeile alle in dieselbe Richtung. Im Traum mündet ihr Weg auf einer blühenden Almwiese und endet vor einem gigantischen, zehn Meter hohen Nutella-Glas.

Text und Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Der vielleicht beste Jakobsweg-Führer:
Cordula Rabe: "Spanischer Jakobsweg – von den Pyrenäen nach Santiago de Compostela in 41 Etappen" (Reihe Rother Wanderführer, Bergverlag Rother GmbH, München 2011)

Zur kulturhistorischen Ergänzung:
Juan Ramón Corpas Mauleón: "Kuriositäten auf dem Jakobsweg" (Übersetzung Albert Weindl, PanOptikum Verlag Köln 2008)

Vor der Abreise:
Unbedingt den Pilgerpass bei einem der Jakobusvereine bestellen (z.B. www.jakobusfreunde-paderborn.eu/pigerbuero.html) Denn nur mit Pilgerpass ist man berechtigt, in Herbergen zu übernachten und ohne ihn gibt es am Ende in Santiago keine Urkunde. Jakobsmuschel als Erkennungszeichen an Rucksack oder Kleidung befestigen.

Unverzichtbar:
Schlafsack, gute Schuhe (z.B. Meindl, Modell "Arizona"),  nahtlose Mikrofaser-Strümpfe, Hirschtalg für die Füße, Compeed-Blasenpflaster, schnell trocknende Mikrofaser-Sportkleidung; Fotokamera mit Akkus und Aufladegerät, jeden Tag mindestens 3 Liter Wasser und kalorienreiche Kleinigkeiten (Trockenobst, Mandeln, Kekse) mitnehmen.

Transport von Toulouse nach Somport:
Mit dem Zug über Pau nach Oloron-Sainte Marie (mit Umsteigen ca. 4 Stunden)
Von Oloron mit dem Bus nach Somport (knapp 1,5 Stunden)
Etappe Somport – Canfranc Estación (knapp 8 Kilometer, ca. 2 Stunden Wanderzeit)
Etappe Canfranc Estación – Jaca (26 Kilometer, ca. 7 Stunden)

Unterkunft:
In Canfranc Estación: Albergue Pepito Grillo (keine reine Pilgerherberge, an der Straße gelegen, Tel. 974373123, Preis: 18 Euro, für Pilger Rabatt)
In Jaca: Albergue Municipal (gut ausgestattet), Calle Conde Aznar, Tel. 954355758
Generell ist der Empfang in Pilgerherbergen meist zwischen 16 und 21 Uhr geöffnet, man sollte aber besser vor 18 Uhr ankommen, ab 22 Uhr geschlossen + Nachtruhe

Verpflegung:
Canfranc Estación: Albergue Pepito Grillo (abends preiswertes 3-Gänge-Menü, morgens Frühstück ab 7.30 Uhr)
Jaca: Café Babelia, Zocotín 11, Tel. 974355093 (mittags und abends 3-Gänge-Menüs, gute Weine), Konditoreien in der Calle Mayor, Spezialität v.a. Mandelgebäck

[druckversion ed 11/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





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