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[art_1] Brasilien: Caetano Veloso zum 70.
Teil 7: Ein Fremder in neuen Zeiten

"Violão e banquinho" – ein Barhocker und eine Akustikgitarre, das ist Caetanos neues Rezept nach dem Elektro-Pop von "Velô". Mit der LP "Totalmente demais" von 1985 nimmt Caetano das einige Jahre später aufkommende "MTV Unplugged" Prinzip vorweg. Die Platte beginnt mit einem echten Kracher: "Vaca profana". Es handelt sich um einen Song, den Caetano für seine Langzeitkollegin Gal Costa geschrieben hat. Ein Meisterwerk gespickt mit Wortspielen. (Die Version von Gal Costa ist ebenfalls eine Bombe!). Weiter geht es mit "Oba-lá-lá / Bim bom", ein Stück zusammengesetzt aus zwei Lieder von Altmeister João Gilberto. Überhaupt eine Platte voller Höhepunkte: "Kalu", "Nosso estranho amor", "Dom de iludir", "Solidão" und "Amanhã". Und eine tolle Version von Noel Rosas "Pra que mentir". Ein Album, das einem den Atem raubt. Und ein absoluter Verkaufsschlager.


Das gleiche Rezept verfolgt Caetano auch mit "Caetano", eine Art Zwillingsalbum, das 1986 zuerst nur auf dem us-amerikanischen Markt erscheint (in Brasilien folgt die Veröffentlichung dann1990). "Caetano" ist ein wenig intimer, ohne die Publikumsovationen von "Totalmente demais". Wir hören "Trilhos urbanos", "O homem velho", "Luz do sol", "O leãozinho" und andere Klassiker wie "Terra" und "Saudosismo". Eigentlich ein akustisches "Best of". Zum ersten Mal erscheint Caetanos Version von Michael Jacksons "Billie Jean", später ein Dauerbrenner bei seinen Liveauftritten.


Die nächste LP von 1987 heißt auch "Caetano". Sie zeigt seinen Kampf mit schmerzlichen Verlusten – kurz zuvor verstarb der geliebte Vater und seine erste Ehe mit Dedé geht in die Brüche. "Estou no fundo do poço" – ich bin ganz unten angekommen, beginnt das Album in schleichendem Rhythmus. Freudiger zeigt sich das mit seiner Band "Banda nova" aufgenommene "Eu sou neguinha". Die erste Zusammenarbeit mit der Band seit "Velô".


Höhepunkte sind "Valsa de uma cidade" von Ismael Netto und Antonio Maria, eine Hymne an Rio de Janeiro, und "O ciúme", ebenfalls eine Hymne, dieses Mal aber an seine Heimatregion, den Nordosten Brasiliens. Grandios kommt Jahre später eine Version dieses Liedes auf der LP "O grande encontro" von Geraldo Azevedo, Zé Ramalho, Elba Ramalho und Alceu Valença daher. Stark ist auf dieser LP der Mix aus afrikanischen Rhythmen und elektronischer Musik. Obwohl die ganz großen Hits fehlen, ist die LP ein gelungenes Comeback des Komponisten Caetano.

"Estrangeiro", Der Fremde, so der Titel der nächsten LP von 1989, gibt die neue Richtung vor. Aufgenommen in der Fremde, sprich New York, und produziert vom US-amerikanischen Gitarristen Arto Lindsay, zeigt sie einen für Caetano ganz untypischen Sound. Man fühlt sich an die Talking Heads erinnert, obwohl es sich bei dem vorherrschenden Musikstil um Samba handelt.


Neue Zeiten brechen an: das Ende des Kalten Kriegs, der Vormarsch des Neoliberalismus. Caetano wirkt verloren in der neuen Gemengelage. Das Stück "O estrangeiro", das den Einstieg in das Album bildet, ist ein weiteres Meisterwerk: "O amor é cego, Ray Charles é cego" – die Liebe ist blind, Ray Charles ist blind. Caetano wagt sich an neue Sounds, wirkt internationaler denn je, kein Wunder, spielt er die Platte doch im eigentlichen Schmelztiegel (New York) ein.

Das leichte "Branquinha" widmet er der neuen Partnerin Paula Lavigne, "Meia-Lua inteira" von Carlinhos Brown wird DER Hit. In "Genipapo Absoluto" besucht er erneut seine Heimatstadt Santo Amaro, eine Erinnerung an seinen verstorbenen Vater. Das Stück ist ein zweites "Trilhos urbanos".

Die LP "Circuladô" aus dem Jahre 1991 ist eine zweite Version von "Estrangeiro". Wieder der gleiche Produzent (Arto Lindsay) und das erste Stück "Fora da Ordem" (Aus der Reihe getanzt) folgt den Gedanken von "Estrangeiro". "Itapuã" und "Boas vindas" sind einfach nur schön, "A terceira margem do rio" eine interessante Zusammenarbeit mit Meister Milton Nascimento. Trotz allem dominiert Traurigkeit dieses Werk, eine Uneinigkeit mit der Welt und der ihn umgebenden Gesellschaft.


1992 feiert Caetano seinen 50. Geburtstag. Zeit für eine Zwischenbilanz, für eine Werkschau, die er mit dem Klassikmeister Jaques Morelenbaum auf die Beine stellt: "Circuladô ao vivo". Der Beginn einer jahrelangen Zusammenarbeit. Caetano singt Bob Dylan ("Jokerman"), zitiert (wieder einmal) Michael Jackson ("Black and white") und Altmeister João Gilberto ("Chega de saudade"). Zudem singt er Roberto Carlos "Debaixo dos caracóis dos seus cabelos". Dieses Lied hatte Carlos als Trost für den traurigen Caetano geschrieben, als sich dieser im Londoner Exil befand.


Und Caetano besucht seine wilden Zeiten der "Doces Bárbaros" ("Um índio") und bringt einen Karnevalsschlager auf die Bühne: "A filha da Chiquita Bacana". Eine tolle Platte, eine fulminante Show mit einem die Bühnenbretter dominierenden Caetano. Er ist jetzt ein Star von internationaler Größe, der sich in Zukunft eher den spektakulären Live-Shows widmet und weniger dem tristen Studioalltag. Seltsam aber wahr – mit abnehmender Schöpfungskraft steigt sein internationales Ansehen.

Zumindest als Bühnenkünstler. Das werden wir im nächsten Monat sehen, wenn es zur nächsten Folge unserer Reihe Caetano Veloso zum 70. kommt.

Text + Fotos: Thomas Milz

Hier kommt ihr zu:
Teil 1: Vom Bossa zum Tropicalismo
Teil 2: London, London
Teil 3: Ergrautes Chamäleon, ewig junger Romantiker
Teil 4: Araçá Azul und die Frustrationen eines verwöhnten Jungen
Teil 5: Tudo Jóia?
Teil 6: Outras palavras - auf der Suche nach neuen Worten

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