ed 05/2013 : caiman.de

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spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Sechste Etappe: Zum rätselhaften Heiligtum Santa María de Eunate
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Maracanã reloaded – der Gigant lebt (wieder)
THOMAS MILZ
[art. 2]
brasilien: Rio von oben - Annäherung an eine Traumstadt
THOMAS MILZ
[art. 3]
peru: Clark und die absolute Glückseligkeit
NIL THRABY
[art. 4]
erlesen: Fahrstuhl zum Arschlecken
Zwei Fälle für Olga Forever / Paco Ignacio Taibo II
DIRK KLAIBER
[kol. 1]
amor: Wortspiele und Lebensweisheiten (Teil 11)
CAMILA UZQUIANO
[kol. 2]
grenzfall: Grenzgänger in Katalonien 1939 – 1945 (Teil 2)
WOLFGANG HÄNISCH
[kol. 3]
lauschrausch: Mediterraneo und Latin America
Christina Pluhar trifft Lateinamerika für Kinder
TORSTEN EßER
[kol. 4]


[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Etappen [12] [11] [10] [9] [8] [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Sechste Etappe: Zum rätselhaften Heiligtum Santa María de Eunate
 
21. August 2012. Um den frühen Aufbruch (6.00 Uhr morgens) zu garantieren, hatte ich meinen Wecker gestellt und so raffen wir uns in der Herberge von Izco auf, um uns erneut auf den Weg zu machen und eine große Strecke vor der glühenden Mittagshitze zu schaffen. Sichtlich widerwillig packt Cayetana ihren Rucksack zusammen und wirft einen letzten langen Blick auf Alejandro, den Radfahrer, der noch schläft und wohl deutlich später starten wird.

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Die nächsten zwei Tage werden uns durch eine der landschaftlich schönsten Gegenden des Camino führen, vielleicht weniger spektakulär als die Bergetappen in den Pyrenäen oder San Juan de la Peña, aber dafür teils an Arkadien oder die Toskana erinnernd. Vor allem zwischen Abinzano und Otano rund um Monreal führt der Weg abwechselnd durch wunderschöne Feld- und Waldwege, Bachauen mit Schilfinseln und sanfte Kornfeld-Hügel mit dekorativen Zypressen. Sogar die Vögel singen schöner als anderswo. Und als die Sonne dann aufgeht, ist man erstaunt, wie schön und golden ein abgeerntetes Weizenfeld im ersten Morgenlicht aussehen kann.

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Cayetana hat noch keinen Blick für die arkadische Schönheit der Landschaft. Missmutig stapft sie neben mir her, den Blick zu Boden gerichtet. Ich muss sie an den Wegesrand ziehen, als uns ein Bauer auf seinem Traktor entgegen kommt. Dann nehme ich sie kurz in den Arm und flüstere ihr zu: "Jetzt vergiss mal den Radfahrer. Der fährt sowieso nicht hier über diesen Feldweg, sondern nimmt mit seinem Rennrad die Nationalstraße und ist morgen schon weit weg in Logroño…"

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Ich sehe schon: meine Begleiterin aufzuheitern, wird eine Tagesaufgabe werden. Nach einer Etappe, die uns durch einen sehr dichten, finsteren Wald führt, und nach zehn Kilometern ohne Frühstück kommen wir endlich nach Monreal, wo wir sofort nach dem vielleicht einzigen Laden des Dorfes suchen. Sehr erfreulich, dass er zugleich eine Mini-Cafetería mit vier Plätzen beherbergt. Und noch erfreulicher: Cayetanas Laune hellt sich auf, denn sie entdeckt im Kühlregal des Ladens einige Magnum-Tafeln Milka-Schokolade (Lindt gab es nicht). Natürlich kaufe ich ihr eine davon, sie ist riesig. Erst beim Kaffee wird uns klar, dass wir diese Tafel komplett aufessen müssen, denn draußen steigt die Temperatur auf 36 Grad. Bevor wir weiter nach Tiebas gehen, machen wir noch einen Rundgang durch den Ort. Monreal ist ein hübsches Dorf mit schöner alter Brücke, steilen Treppen, die alle irgendwie zur Kirche führen, und hier fällt uns das erste Mal auf, dass alle Schilder zweisprachig (spanisch und baskisch) sind.

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Hinter Monreal steigt der Weg steil empor und führt an bewaldeten Berghängen voller Wacholder und Brombeerhecken entlang. Da es keine Schokolade mehr gibt, greift Cayetana in eine Brombeerhecke und scheucht damit eine ganze Wolke von gelben Schmetterlingen auf. Sogar am Geschmack der Brombeeren erkennt man die für Nordspanien ungewohnte Dürre, die schon seit Wochen andauert. Die kleinen Früchte sind saftlos und extrem süß – wie Trockenobst. Die letzten vier Kilometer bis zum Tagesziel Tiebas ziehen sich endlos und Cayetanas Motivation sinkt im Minutentakt. Da sorgt ein kaputter Wanderschuh in apartem Lila, abgestellt wie ein Mahnmal auf einem der Camino-Wegweiser, für Erheiterung. Endlich ist Tiebas in Sicht, aber der erste Anblick ist frustrierend. Es bleibt dabei: auch in Navarra, wie schon in Aragón, scheint jeder Ort den Pilger höhnisch grinsend auf einem hohen Hügel zu erwarten. Cayetanas befürchtete Klagen bleiben diesmal aus, während wir uns in Schweiß gebadet die Dorfstraße empor schleppen.

Es ist kurz nach 15.00 Uhr und die Hitze nähert sich dem Zenit. Tiebas wird dominiert von zwei Bauwerken: einer bizarren Burgruine, durch deren Mauerlücken man die Landschaft ringsherum betrachten kann, und die schöne Dorfkirche mit rechteckigem Glockenturm und Säulenhalle als Vorbau. Als wir uns der Pilgerherberge nähern, steht der Herbergsvater in der Tür, als habe er uns erwartet, und blickt uns lächelnd (oder vor Schadenfreude grinsend?) entgegen. Wir müssen ein Bild des Jammers abgeben, wie wir keuchend und ausgehungert die letzten Meter der steilen Calle Mayor hinauf kriechen. Ich versuche, sein Lächeln zu erwidern, während Cayetana eine gewisse Aggressivität in ihren Blick legt. Aber nachdem wir endlich im Schatten der Herberge angekommen sind, sieht nach Duschen und Mittagessen die Welt schon wieder anders aus. Als ich für eine provisorische Siesta auf dem Bett liege (wir sind tatsächlich allein in dieser Herberge!), kommt Cayetana zu mir, um mir begeistert ihre Entdeckung mitzuteilen: im Untergeschoss gibt es einen Kino-tauglichen Flachbildschirm – "und ich darf auch noch nach zehn Uhr abends gucken, hat man mir gesagt!" Damit ist der Abend dann wohl gerettet (oder verloren…)

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22. August 2012: Um 7.00 füllen wir unsere Wasserflaschen am Brunnen von Tiebas auf. Wir sind meiner Meinung nach eine Stunde zu spät aufgebrochen – Cayetana hatte die halbe Nacht vor dem Fernseher gesessen und war um 6 Uhr einfach nicht wach zu bekommen.

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Kurz hinter Tiebas, am Fuß der Sierra de Alaiz, begegnen wir einem alten Schafhirten. Er ist froh, Pilger zu treffen und meint, wenn er jünger wäre, würde er einfach mit uns nach Westen gehen. In der halben Stunde, in der er uns begleitet, sprechen wir über die aktuelle Krise Europas. Er erzählt uns, wie er in seiner Jugend von hier nach Argentinien ausgewandert sei, und dort Jahre lang als Gaucho gearbeitet habe. Und nun müsse er erleben, wie sein Enkel noch in diesem Jahr nach Deutschland auswandern würde, allerdings nicht, um als Hirte zu arbeiten, sondern in der Solarenergiebranche. Aber abgesehen von der Trennung sei es gut, wenn junge Leute in fremden Ländern ihr Glück suchten, das sei bereichernd und ihm habe seine Zeit in Argentinien auch nicht geschadet. Am Ende erklärt er uns, wo wir die A15 am besten überqueren und auf dem schnellsten Weg zu unserem Ziel kommen – der geheimnisvollen Pilgerkirche von Eunate. Er nennt den Namen mit großem Respekt. "Ja, diese Kirche ist klein, aber ganz besonders heilig – ihr werdet sehen!", ruft er uns zum Abschied zu. Weiter geht es noch acht Kilometer durch hügelige, abgeerntete Weizenfelder und kleine Dörfer mit baskischen Namen wie Enériz.

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"Da ist sie!", weist Cayetana nach vorn. Tatsächlich, isoliert und fernab von jedem Ort, einsam inmitten eines üppig wuchernden Maisfeldes, sieht man endlich den ersehnten Tempel von Eunate, erbaut kurz vor 1200 von den Tempelrittern. (Es bleibt zu hoffen, dass hier jede Bebauung im Umkreis von drei Kilometern für alle Zeiten verboten bleibt.) Ungeduldig beschleunigen wir unseren Schritt, bis wir vor dem rätselhaften achteckigen Ring der romanischen Arkaden stehen, die den ebenfalls achteckigen Kirchenbau wie eine magische Schutzmauer umschließen. Von der Apsis blicken 15 merkwürdige Dämonenköpfe auf die ankommenden Pilger.

In Sangüesa hatte sich meine Begleiterin noch lustig gemacht über die Fassadenfiguren. Aber an diesem Ort schweigt Cayetana. Wie in Trance schreitet sie den magischen Ring der Arkaden ab. Wie von einem Hypnotiseur gelenkt, hebt sie vor jedem Kapitell, auf dem rätselhafte Dämonen abgebildet sind, ihre Kamera und lässt sie dann wie in Zeitlupe sinken, bevor sie zum nächsten marschiert. Fasziniert folge ich ihr durch den Arkadengang rund um das Kirchlein. Die noch tief stehende Morgensonne malt lange Schatten neben die 800-jährigen Steinbögen, illuminiert golden die rätselhaften Fratzen und Ornamente auf den Kapitellen und lässt im Maisfeld ringsumher jeden einzelnen Tautropfen funkeln. Spätestens jetzt wird klar: es gibt viele besondere Orte am Pilgerweg nach Santiago, aber ganz wenige von einer solch mystischen Strahlkraft wie Eunate. Der alte Hirte hatte nicht zu viel versprochen.

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Dabei ist dieser Tempel weder groß noch spektakulär, er kommt auch im Innenraum fast ohne jeden Schmuck aus. Was also ist das Geheimnis dieser winzigen, achteckigen Kirche, die der Ewigen Mutter geweiht wurde? Vielleicht spüren viele die Seelen der Pilger, die rund um diesen Tempel begraben wurden, die irgendwann vor Jahrhunderten auf dem beschwerlichen Weg nach Santiago hier zusammen gebrochen und nie ans Ziel gelangt waren, deren Traum hier auf der Strecke blieb. Denn Eunate war wahrscheinlich als Friedhofskirche für gestorbene Pilger erbaut worden. Vielleicht spürt man auch etwas vom Geist der Tempelritter, die schon damals, beflügelt von islamischen Einflüssen, die sie aus dem Heiligen Land mitbrachten, der primitiven Idee des "Santiago als Maurentöter" mit diesem perfekt proportionierten Bau, inspiriert vom muslimischen Achteck des Felsendoms auf dem Jerusalemer Tempelberg (der wiederum auf das christliche Achteck der Himmelfahrtskirche auf dem Ölberg zurück ging), etwas Zeitloses, allen Religionen Heiliges, entgegen setzen wollten. Zudem ist die Acht die religiöse Symbolzahl der Vollkommenheit und der Wiedergeburt – und damit eine sehr passende Form für eine Kirche am Pilgerweg, der ja im besten Fall die Pilger auch zu einer spirituellen Wiedergeburt führt.

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Eunate ist ein magisches Achteck, beschützt von einem mystischen Arkadenring mit Monster-bewehrten Kapitellen, einer Art Kreuzgang, der rund ist statt quadratisch und sich außen statt innen befindet, einladend zum Rundgang, zur vorbereitenden Meditation vor dem Eintritt ins Allerheiligste. Die Templer haben mit diesem Heiligtum mitten in den Feldern Navarras eine einzigartige Verschmelzung von Kultur und Natur geschaffen, einen Ort, der mit seiner harmonischen Vollkommenheit jeden zum Schweigen bringt. Der ganze Bau ist eine Hommage an die Symbolzahl Acht: auch innen wird die Kuppel von acht Rippen mit acht achteckigen Dachfenstern gebildet, die man schon von außen sehen kann.

Ich trete ein und höre eine Frau neben mir weinen. Ich folge ihrem Blick und bin geblendet von einem Sonnenstrahl, der durch eines der wenigen Fenster exakt ins Zentrum des Oktogons fällt. Als ich mich an die überaschende Helligkeit gewöhnt habe, suchen meine Augen Cayetana. Und finden sie vorn rechts vor der einsam in der Apsis thronenden Madonna, erleuchtet von diesem mystischen Sonnenstrahl, der quer durch den Raum flimmert.

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Cayetana kniet! – Dass ich diesen Anblick noch erleben darf! Und auch bei ihr sehe ich Tränen. Diese unscheinbare Kirche scheint wirklich über unerklärliche Kräfte zu verfügen, wenn alle, die hier eintreten, in Tränen ausbrechen. Bevor sie sich wieder erhebt, wischt Cayetana mit der Faust die Tränen von ihren Wangen und wirkt etwas verlegen, als unsere Blicke sich treffen. Wenig später, als sie auf dem Weg nach Puente la Reina noch einmal zurück sieht auf Eunate, fragt die 22-jährige mich plötzlich: "War das also jetzt Mystik – wenn man heulen muss, ohne überhaupt zu wissen warum?" Erstaunt blicke ich sie an und muss zugeben: "Ja, das kannst Du in diesem Fall so sehen…" Und als ich Cayetana zwei Wochen später frage, was der emotionale Höhepunkt unseres Camino gewesen sei, antwortet sie ohne zu zögern: "Santa Maria de Eunate".

Text + Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
www.turismonavarra.es

http://de.wikipedia.org/wiki/Santa_Mar%C3%ADa_de_Eunate

Etappe Izco nach Tiebas: ca. 24 Km, Etappe Tiebas nach Eunate: knapp 13 Km (bis Puente la Reina 16 Km)

Unterkunft in Tiebas:
Pilgerherberge der Gemeinde, Calle Mayor 18, Tel. 948-104777 oder mobil 600-941916: alles ganz neu, es fehlt an nichts, Ausstattung für eine Pilgerherberge fast schon luxuriös: sehr gute Duschräume, im Untergeschoss Waschmaschine, Trockner, Küche, Internet. Neben der Küche Aufenthaltsraum mit großem Flatscreen-TV und Getränkeautomat für kalte und warme Getränke (Kaffee!), herzlicher Empfang. Übernachtung 8 Euro.

Verpflegung in Tiebas:
Am Ende der Calle Mayor (hinter der Kirche, ca. 200 m von der Herberge entfernt) befindet sich die sympathische Dorfkneipe, in der mittags und abends (Pilger-) rustikale Menüs für 10 Euro serviert werden (3-Gänge inkl. Wein, große Portionen)

Kapelle Santa María de Eunate:
Geöffnet: Di. – So. 10.30 – 13.30 und 16.00 – 19.00 (Montag geschlossen!) Am Ostermontag, 01. Mai und 24. August finden hier Wallfahrtsmessen statt.

Im einzigen Haus neben der Kapelle gibt es eine "inoffizielle" Pilgerherberge mit allerdings sehr wenigen Plätzen – eine mögliche Zuflucht, wenn man abends die letzten Sonnenstrahlen in diesem geheimnisvollen Templerbau erleben möchte.

[druckversion ed 05/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_2] Brasil: Maracanã reloaded – der Gigant lebt (wieder)
 
Mit viermonatiger Verspätung eröffnete Rios Fußballtempel Maracanã Ende April 2013 endlich seine Tore. Zumindest für einige geladene Gäste. Das Chaos, das bereits die sich seit 2010 hinschleppende Renovierung begleitete, herrschte auch bei der Neueröffnung. Immerhin, jetzt hat Rio einen ultramodernen Fußballtempel, in dem Deutschland 2014 in würdigem Umfeld die WM gewinnen kann.



Ein Event als Dankeschön für die Tausenden Arbeiter, die den 1950 eröffneten Tempel der Ballspielkunst wieder auf Vordermann gebracht haben. Zum wievielten Mal eigentlich? Waren es vier Umbauten seit 1999? Man verliert leicht den Überblick, wird doch jetzt bereits gemurmelt, dass man zu Olympia 2016 gleich noch einmal umbauen müsse. Erst recht wenn das seit einigen Wochen wegen rostigen Daches gesperrte Olympiastadion für Olympia 16 definitiv ausfallen sollte.

Hoffentlich droht dem neuen Maracanã nicht das gleiche Schicksal, denkt man so in Anbetracht der über einem schwebenden Dachkonstruktion. Das Maracanã ist übrigens zehnmal so alt wie das erst 2007 eröffnete Olympiastadion. Kann man Brasiliens Baufirmen trauen? Rund um den Tempel baut man noch kräftig weiter und bis Ende Mai soll alles endgültig fertig sein. "Klappt schon", meint ein FIFA-Beobachter. Die FIFA traut also den Baufirmen.

Trauen darf man anscheinend auf keinem Fall der (noch) für das Maracanã verantwortlichen Landesregierung. Die Verteilung der Akkreditierungen für das Eröffnungsspiel zwischen den “Freunden von Ronaldo” gegen die “Freunde von Bebeto” geriet zur Hängepartie. “Wir können nichts dafür, die mit dem Ausdrucken beauftragte Drittfirma kommt mit dem Drucken nicht nach.” Besagte Drittfirma bestand aus einem Computer und einem Drucker, der in einem Hinterzimmer angesichts des Andrangs der Weltpresse heiß lief. Aber was sind drei oder vier Stunden Wartezeit, wenn es um die Ewigkeit geht? Demnächst soll alles besser werden, wenn erst einmal die Privatisierung des Stadions spruchreif ist. Favorit ist übrigens der Unternehmer Eike Batista, der letztes Jahr 25 Milliarden Dollar an Privatvermögen verloren hat. Das schafft Vertrauen.



Aber noch herrscht die Landesregierung. In der Nacht vor dem Showdown jagten sich dann noch die von den Organisatoren eiligst verschickten E-Mails mit neuesten Infos zur “Anreise”. “Abfahrt Sambódromo”, da rund um das Maracanã alle Straßen gesperrt seien. Dilma komme höchstpersönlich, Lula auch. Sicherheitsstufe Rot!

So musste man also erst zum Carnavalstempel, um von dort ins neue, alte Maracanã gefahren zu werden. Dabei verlor unser Fahrer komplett die Übersicht, strandete an Polizeisperren und Verkehrshütchen. Nach einer halben Stunde Irrfahrt waren wir endlich drinnen. Kein Kontakt mit den Menschen draußen, Arbeiter mit ihren Familien und eine Hand voll Demonstranten.

Im Pressebereich Schnittchen und Cola, auf der improvisierten Pressetribüne keinerlei Infra. “Bitte ausreichend Batterien mitbringen”, hatte es in einer der nächtlichen E-Mails geheißen, weder Internet noch Stromanschlüsse stünden zur Verfügung. Auch an einer Herrentoilette mangelte es, was den Autor in arge Bedrängnis brachte. “Die Toilette draußen kannst Du gerade nicht benutzen, da der Korridor gesperrt ist. Aber Du kannst das WC im VIP-Bereich benutzen.” Gesagt, getan, nur dass die Dame am VIP-Eingang was dagegen hatte. Diskussion hin, Diskussion her, ich tippte ihr an die Schulter und deutete auf den Sicherheitsmann der mich hierher geschickt hatte. “Du hast mich geschlagen”, schrie sie und rief Verstärkung. 10 Sekunden später begleiteten mich drei Bodyguards aus dem VIP-Bereich. Viva! Olé!


Das Spiel? Ronaldos Freunde gewannen 8 zu 5. Ein Altherrenkick, mehr nicht. Einige Arbeiter beklagten sich, man habe bei der Vergabe der Dankeschön-Tickets geschwindelt, die Familie hätte zuhause bleiben müssen. “Enttäuscht bin ich, hab ich doch mein Blut für das neue Maracanã gegeben.” Auf den Bildschirmen wurden knutschende Paare gezeigt. “Das erinnert alles doch sehr an amerikanischen Hollywood-Kitsch,” unkte ein norwegischer Journalist.

Plötzlich Aufregung im Pressebereich, Demonstranten hatten es irgendwie in den Innenbereich geschafft und entrollten ein Spruchband. “Nein zur Privatisierung und den Räumungen!” Das Schwimm- und Leichtathletikstadion neben dem Maracanã dürfe nicht abgerissen werden, genau wie die Schule daneben. “Keine Parkplätze für die FIFA und Batista,” rief eine der Demonstrantinnen. Und das Indio-Museum, das erst vor wenigen Wochen von der Polizei zwangsgeräumt wurde, solle man den Indigenen zurückgeben.



Draußen löste die Polizei den Protest von Schülern besagter dem Abriss geweihter Schule und von ehemaligen Bewohnern des Indio-Museums auf. Tränengas schwirrte durch die Luft, die Demonstranten flohen. Rund um das Stadion patrouillierten anschließend Hunderte Polizisten, es sah nach Ausnahmezustand aus. Ist dann aber doch nur Fußball. Oder etwa nicht?

Text + Fotos: Thomas Milz

PS: Ach ja, das Stadion! Es sehe wie eine Sporthalle aus, nicht mehr wie ein Tempel für Fußballgötter, meinte ein Sportjournalist später im TV. FIFA-Standard halt, man rieche nicht mehr den an den Stollen klebenden Rasen. Immerhin, die Sicht auf den Platz ist spektakulär. “Früher musste man ein Fernglas mitnehmen, jetzt denkt man, dass man mitten auf dem Rasen sitzt,” berichtete ein begeisterter Arbeiter. Die WM kann kommen. Endlich!

[druckversion ed 05/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_2] Brasilien: Rio von oben - Annäherung an eine Traumstadt (Bildergalerie)
 
“O Rio de Janeiro continua lindo…”

Ja, wunderschön ist Rio aus der Höhe. Das türkise Meer, die sich am weißen Sand brechenden Wellen der Strände die alle kennen: Copacabana, Ipanema, Leblon…

Der Cristo lächelt vom Corcovado herunter, die Touristen knipsen vom Zuckerhut auf die Guanabara-Bucht hinaus. Im Hintergrund die grünen Hügel des Tijuca-Parks.

Von hier oben rücken die alltäglichen Sorgen der acht Millionen Bewohner dort unten in weite Ferne. Die Favelas bilden einen farbigen Klecks im Kontrast gegen die weißen Hochhausblöcke der Mittelklasse. “Fare away, so close”, möchte man da summen.

Fliegt mit uns über die “cidade maravilhosa”. Die Stadt, die Gott an jenem siebten Tag erschuf, an dem er eigentlich ruhen sollte…

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Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 05/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_4] Peru: Clark und die absolute Glückseligkeit
 
Mein Freund Clark ist der glücklichste Mensch der Welt gewesen. Wenn ich das so provokativ sage, dann nur weil ich es genau so und nicht anders meine. Sie werden schon sehen, warum das eindeutig stimmt, ich muss es nur noch erklären. Clark ist nicht etwa der glücklichste Mensch der Welt gewesen, weil er viel Glück gehabt hätte, das nicht. Clarks Biographie verdient vielmehr nur ein einziges Deskriptiv: katastrophal. Zweites Kind einer siebenköpfigen Familie aus allerärmsten Verhältnissen. Wenn das Essen auf den Tisch kam, erzählte Clark immer, beeilten sich alle mörderisch, vor den Kakerlaken am Tisch zu sitzen. Sein Vater, ein Säufer, bereicherte eines verregneten Abends die Statistik Familienmord mit anschließender Selbsttötung – nur Clark kam wegen eines Schulausflugs davon. Man steckte ihn daraufhin in eines dieser Heime (was das dieser heißt, dürfen sie sich selbst ausmalen).

Er haute von dort mit siebzehn ab, verbrachte ab achtzehn zwei Jahre im Knast wegen terroristischer Propaganda (ein paar Kumpels hatten ihn gebeten, einige Flugblätter zu verteilen, und er – dümmer als Brot – tat ihnen den Gefallen), hatte die miesesten Jobs, die man sich nur vorstellen oder eigentlich schon nicht mehr vorstellen kann.

Und nicht einmal diese Jobs, für die Leute zu finden schwer genug sein muss, nicht einmal diese hielten bei ihm lange: alle zwei, drei Monate stand er wieder auf der Straße und vor einem Problem.

Überflüssig fast schon zu erwähnen, dass Clark schwul war, ohne es sich eingestehen zu können. Krampfhaft pflasterte er sein Zimmer mit Bildern von primären und sekundären femininen Geschlechtsmerkmalen und sprach auf der Straße und in Gesellschaft fast ausschließlich von Titten, Ärschen und Mösen. Seine Freundinnen, von denen manche das anfangs ja noch ganz frisch fanden, waren binnen kurzem oder längerem so genervt, dass sie ihn zum Teufel schickten. Selbst die eine, die er – wenn auch nicht mit echter Libido, behaupte ich – geliebt hat, verließ ihn eines Tages. Ich habe jeden der drei Gründe verstanden, die sie mir nachts vor einem löslichen Kaffee in der Küche wie eine Platte mit Sprung immer wieder erläuterte. Und dennoch bestehe ich darauf, dass Clark der glück-lich-ste Men-sch der Welt gewesen ist.

Nicht, dass er das alles unbeschadet überstanden hätte – er hat es nicht. Und bestimmt trug die ganze Scheiße, die um ihn herum gurgelte und rülpste, ihren Teil dazu bei, dass er letzten Montag die Reise in die ewigen Jagdgründe (er hatte einen winzigen Teil Indianerblut in seinen Adern und bestand darauf, dass er im Zweifelsfalle dort unterkommen würde) antrat. Aber dass er dabei lächelte, dass ich ihn am Dienstag Mittag von der Uni kommend, verdammt noch mal lächelnd inmitten seiner eigenen Exkremente fand, das hatte einen anderen Grund.

Als ich mit Flausen im Kopf und ein Zimmer suchend in diese Stadt kam, war Clark gerade 28 geworden, hatte schon mehr erlebt, als ich je gelesen hatte, und stand kurz davor, eine Entdeckung zu machen. Wir lebten ein halbes Jahr zusammen, verstanden uns im großen und ganzen prima, hatten schon unseren ersten fetten Krach hinter uns (Clark hatte mich mit der Miete beschissen; ich verzieh ihm, denn schließlich zahlten meine Eltern), als Clark Das Buch fand. Das Buch hieß Das Buch nicht nur, weil es Clark zum glücklichsten Menschen auf diesem Planeten machte, sondern auch, weil es mit großer Sicherheit das einzige gewesen ist, dass er je freiwillig angefasst hat. Ich erinnere mich genau an den Tag, als er es nach Hause brachte. Er trug es wie selbstverständlich unter dem Arm, so als ob er jeden Tag seines Lebens Bücher unter seinem Arm getragen hätte. Ich, der ich den ganzen Tag mit mindestens einem durch die Gegend lief – nicht nur, weil ich studierte: die Intellektuellen standen damals bei den Frauen hoch im Kurs – wusste es nicht halb so gut und natürlich zu tragen wie Clark.

Er sah zwar im ersten Moment wie ein Rhinozeros mit einem Sonnenschirm aus, aber dieser Sonnenschirm stand ihm verdammt gut. Es war grün, zerfleddert und von einem Typen namens Johnstone. Er hatte es auf einer Mülltonne liegend gefunden und weiß der Teufel, warum er es mitgenommen hatte. Ganz ehrlich: ich war bis dahin nicht sicher, ob er überhaupt lesen konnte.

Ich weiß nicht, ob Sie Johnstone kennen. Ich selber kann das nicht behaupten, obwohl ich dieses Buch – dank Clark – nun fast auswendig kenne, ohne es allerdings je angefasst zu haben. Dieser Johnstone jedenfalls war erst Lehrer für Kinder und später für Schauspieler (ich spare mir hier jeden dummen Witz: meine derzeitige Freundin ist Schauspielerin), bevor er in einem grünen Buch seine Ideen und Erfahrungen aufschrieb. Ich glaube, er ist damit sogar so was wie berühmt geworden. An einer Stelle, ganz am Anfang, beschreibt Johnstone wie er auf die Idee gekommen ist, ein schönes und ausgefülltes Leben zu führen. Ich denke, das wird es gewesen sein, was Clark angezogen hat: ein schönes und ausgefülltes Leben zu führen. Was er schließlich auch geschafft hat, trotz des beschissenen Anfangs.

Johnstone beschreibt in seinem grünen und zerfledderten Buch die letzten Momente kurz vorm Einschlafen und die in diesem Augenblick entstehenden verrückten und aberwitzig tollen Bilder. Er nennt sie hypnagogische Bilder; weil sie so heißen, nehme ich an. Johnstone beschließt, sich ihnen hinzugeben. Wenn Sie wie ich zu denen zählen, die in den letzten Momenten vorm Einschlafen nur ekelerregend dreidimensionale Bilder Ihres meistgehassten Insektes, widerlich maliziös lächelnde Fragezeichengesichter Ihrer Prüfer oder Schwänze, die – mindestens 5cm länger als Ihr eigener – gerade in ihre Freundin eindringen, ohne auf geringsten Widerstand zu stoßen (hey, Frauen: ich weiß nichts von Euren Lieblingseifersuchtsphantasien: setzt sie hier stellvertretend ein!) sehen, werden Sie vermutlich die Idee, sich diesen Momenten hinzugeben, wenig verlockend finden. Auch ich war skeptisch. Clark aber fand das einfach genial, phantastisch und verzog sich in sein Bett, um es auszuprobieren.

Zu Beginn war ich von den Resultaten nicht sehr überzeugt, aber das lag weniger an Johnstones Idee als an Clarks Art der Umsetzung. Clark hatte anfangs das Problem, dass er nicht müde genug war, um soviel zu üben, wie er es gewollt hätte. Also holte er sich einen nach dem anderen runter, bis er schließlich erschöpft und zufrieden hypnagogische Bilder sah.

Nun wäre das an und für sich kein Problem gewesen, aber Clark hatte eine unerfreuliche Angewohnheit: er stöhnte und schrie dabei jede Sorte von Obszönitäten (rein hetero, versteht sich), so dass ich mich am Küchentisch wirklich nicht auf numerische Mathematik, Compilerbau oder was immer ich damals gerade lernte, konzentrieren konnte. Ich bat ihn, seinen Studien (oder besser: den Vorbereitungen dazu) so leise nachzugehen wie ich: schließlich lief ich auch nicht eine Stunde lang brüllend durch die Wohnung, bevor ich mich hinter meine Bücher setzte. Aber Clark meinte, dass er unmöglich oft genug einen hochkriegen würde, wenn er nicht stöhnte, und schrie weiter, während ich alle Ohrstöpsel durchprobierte, die es in der Apotheke an der Ecke zu kaufen gab. (Ich habe sehr kleine Gehörgänge, und Sie können sich nicht vorstellen, wie kompliziert es ist, passende Stöpsel zu finden!)

Aber die Nerv tötenden Manöver waren bald nicht mehr notwendig. Und dann kam der Tag, an dem ich meine ganze Skepsis über den Haufen warf und mich selber wichsend aufs Bett legte (allerdings ohne zu schreien: ich mag’s diskreter), um mich meinen hypnagogischen Bildern hinzugeben.

Denn eines Nachmittags kam Clark aus seinem Zimmer und setzte sich neben mich an den Küchentisch. Ich wollte ihn nicht beachten, weil ich einen Moment vorher festgestellt hatte, nach der Lektüre von zehn Seiten eines Buches nicht ein einziges Wort zu verstanden zu haben. Ich saß also am Tisch, mit meinen gelben Schaumstoffohrstöpseln in situ und wollte Clark nicht beachten, da spürte ich zu meiner großen Belästigung eine tiefe Zufriedenheit an meiner Seite. Ich sah sie nicht, ich spürte sie. Wahrscheinlich war ich empfänglicher als sonst, weil ich selber so genervt und unzufrieden war, und weil meine Psyche so funktioniert, dass sie das, was mir auf den Wecker fallen könnte, doppelt deutlich wahrnimmt. Jedenfalls spürte ich warm an meiner Seite, dass Clark glücklich war. »Warum zum Teufel bist du so zufrieden?«, fragte ich ihn, meine Stöpsel aus den Ohren nehmend und mein Buch vergessend. »Weil ich gerade einen wunderbaren hypnagogischen Traum hatte«, antwortete er schlicht, und sein Körper strahlte dabei, dass man eine Sonnenbrille hätte aufsetzen mögen. Ich dachte, nun ist es soweit, nun ist er abgetickt, und dennoch bat ich ihn zu erzählen. Aber Clark war, solange diese Glückseligkeit anhielt, einsilbig. Später, als sie abgeklungen war, erzählte er mehr, aber dann war es schon nicht mehr authentisch, denn Clark mischte viel Titten, Ärsche und Mösen in seine Erzählung, und das klang falsch und erfunden. Dennoch hatte sein Zustand tiefen Eindruck auf mich gemacht, und wie gesagt, ich zog mich später zurück und versuchte ohne Erfolg, es ihm nachzutun. Ich dachte weiterhin kurz vorm Einschlafen nur an Viecher, Profs und fremde, gut gebaute Typen, die bei meinen Freundinnen lagen.

Clark aber begann, seine Hingabe zu perfektionieren. Er machte weiter diese miesen Jobs, hatte Ärger überall und mit allen, unterdrückte – sage ich – nach wie vor seine eigene Sexualität, aber von nun an war er jeden Tag mindestens einmal glücklich. Er kam geschafft nach Hause (von was auch immer), aß eine Kleinigkeit und verzog sich für eine Stunde oder so in sein Zimmer, um danach als Zufriedenheitsstrahler unsere spärliche Bude zu erleuchten. Manchmal erzählte er von wirren Farbmustern, die aus irgendeinem unerfindlichen Grund ihn selber dargestellt hätten, manchmal von hellen Lichtern, manchmal von richtigen Geschichten, und immer davon, wie er – sich hingebend – neue Welten entdecken würde, von deren Existenz er nichts gewusst hätte.

Als Clark anfing, mit den hypnagogischen Bildern zu spielen, ver-schär-fte sich die Sache. Ich bekam ihn immer weniger zu Gesicht, denn er verschwand kaum angekommen in seinem Zimmer und spielte mit sich und seinen Vortraumbildern. Stundenlang lag er dort. Aber wenn er dann aus seiner Höhle hervorkam... In dieser Zeit waren abends fast immer einige Freunde von mir da. Wir spielten irgendwas, wir sahen uns Videos an, wir diskutierten über Religion (von der wir nichts wussten), Politik (wir verwechselten ständig die Abgeordneten der Regierungspartei mit denen der Opposition) oder Drogen (die wir nicht probiert hatten: schließlich studierten wir Informatik und nicht Geschichte oder Philosophie). Aber egal, welcher Beschäftigung wir uns gerade hingegeben hatten und wie sehr wir darin vertieft waren, LSD von Kokain auseinander zu halten (sind schließlich beides weiße Pulver... oder?), wenn Clark ins Zimmer kam, verstummte das Gespräch augenblicklich. Es ist einfach nicht möglich, über irgendetwas Vernünftiges zu reden, wenn einer in den Raum kommt und in eine Wolke absoluter Glückseligkeit eingehüllt ist. Meine Freunde dachten anfangs, dass Clark durchgeknallt sei, aber als ich ihnen sagte: »Er ist einfach glücklich«, da dachten sie, dass ich durchgeknallt sei. Mit der Zeit gewöhnten sie sich an den Gedanken, auch weil, wenn man Clark bei anderen Gelegenheiten traf, er immer noch fast ausschließlich von Titten, Ärschen und Mösen sprach. Das beruhigte ungemein, denn die Wahrheit ist, dass jemand im Zustand vollkommener Zufriedenheit schwer zu ertragen ist.

Ich machte mir indessen immer mehr Sorgen darum, dass Clark kaum noch aus seinem Zimmer kam, wenn er nicht gerade arbeiten musste. Ich dachte mir mehrmals einen geschliffenen und unwiderlegbaren Diskurs aus, warum man nicht nur in der Traumwelt, sondern auch in der Realität etc. etc. Aber meine eloquenten Sentenzen bargen immer denselben logischen Fehler: wenn – wie ich der allzu oft hinausposaunten Meinung war – es im Leben darum ging, Spaß zu haben und glücklich zu sein, warum er sollte er dann nicht genau das tun? Ich unterließ es also, ihm väterliche Ratschläge zu geben und versuchte stattdessen ihn zum Kino einzuladen, was er ablehnte.

Aber nach einer Zeit, es mochten ein paar Monate vergangen sein, seit er das Grünbuch gefunden hatte, regulierte sich das alles selbst. Clark kam aus seinem Zimmer, schwebte etwa fünf Zentimeter über dem Boden und sagte: »Ich kann’s!« Meine nächste Frage brauche ich wohl kaum niederzuschreiben, denn es wird unter den intelligenten Lebewesen (das, was man so intelligent nennt) wohl nur drei geben, die jetzt nicht »Waaas?« gefragt hätten. Clark erzählte mir, dass er seine hypnagogischen Bilder nunmehr kontrollieren könnte. »Also nichts mehr mit hingeben«, fragte ich nicht wenig bösartig zurück. Doch, antwortete er, ohne auch nur einen Moment aus der Ruhe bringen zu lassen, es sei jetzt aber eine kontrollierte Hingabe. Er könne jetzt ein Bild, das ihm besonders gefiele, festhalten, in Ruhe betrachten und dann fortspinnen, eintauchen in das Bild, daraus, wenn er wolle, eine Geschichte entstehen lassen, oder aber eine Farbschleife drehen, abtauchen in etwas, in dem er sich wiedererkannte, das ihm eine Art Wissen von sich selber gebe und mit Worten nicht auszudrücken sei. Es fehle nur der Ton zur endgültigen Vervollkommnung. »Der Ton?«, fragte ich zurück, meinen Ärger längst vergessen habend. Ja, der Ton. Seinen Bilder, die ihn so leicht machen würden, dass er sicher war dabei schweben, seinen Bildern fehle der Ton. Er wisse genau, dass sie eigentlich Ton hätten, aber er höre ihn nicht. Es sei wie ein Fernseher, den man stumm gestellt hat, weil das Telefon klingelt. Man sieht, dass es Ton geben muss, aber man kann ihn nicht hören. Aber er sei auch so zufrieden (man sah es ihm an!), und eines Tages würde er vielleicht auch den Ton hören. Und ging wieder fort, noch eine Weile glücklich sein.

Ja, damit sind wir eigentlich auch schon am Ende der Geschichte. Clark litt nicht unter dem Fehlen des Tones, er kümmerte sich in Wirklichkeit kaum darum. Er war viel zu beschäftigt mit dem Glücklichsein, abends nach der weiterhin miesen und stetig wechselnden Dreckarbeit. Er träumte wahrscheinlich so von dem Ton, wie ich von einem Lottogewinn träume und doch nie ein Los kaufe.

Ich jedoch kümmerte mich darum. Wenn man jemanden im Nebenzimmer wohnen hat, der nur ein Schrittchen von etwas entfernt ist, was wir alle als göttlich und also unerreichbar betrachten, dann kann man schon nervös werden. Ich wollte auf Teufel komm raus, dass Clark seinen Ton kriegt. Nun ist es nicht gerade so, dass man in den nächsten Buchladen geht und sagt: »Hallo, ich möchte gerne ein Buch über die Vertonung hypnagogischer Bilder kaufen.« Aber dann fand ich zufällig letzten Montag einen Artikel über die Erlebnisse vom Tode Wiedererweckter. Die üblichen Sachen, dachte ich, Tunnel mit hellem Licht am Ende und so. Trotzdem las ich den Artikel und dort bezeugte ein gewisser Franz K., dass er bei seinem Übergang in die andere Welt (aus der er dann ja zurückgeholt wurde) wunderbare Töne, unvergleichlich viel schöner als jedes irdische Konzert, gehört hätte. Ich nahm die Sache nicht sehr ernst und dachte mehr so an ein biblisch verdrehtes Hirn, legte Clark aber dennoch den Artikel zum Lesen hin. Na ja, das war’s dann.

Aber ein Zweifel ist mir noch geblieben: war das Lächeln auf seinem Gesicht ein eindeutiger Beweis dafür, dass er es geschafft hat?

Text + Fotos: Nil Thraby

[druckversion ed 05/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]




[kol_1] Erlesen: Fahrstuhl zum Arschlecken
Zwei Fälle für Olga Forever / Paco Ignacio Taibo II
 
Wenn meine Tochter etwas hasst, dann auf ein Handtuch gebettet zu werden. Doch was sollte ich machen, die Windel hatte wie so oft den Wassermassen nicht standgehalten. Solang sie schlief, war die Nacht friedlich. Mit dem Halbwach aber trübte sich ihre Laune und sie rückte mir unablässig und quengelnd näher und nach. So dass ich umständlich gekrümmt am Fußende dem Morgen entgegen kauerte. Als dann meine Liebste nach neun Stunden sanftesten Schlafes von der großen, trockenen Seite des Bettes herüberstöhnte, dass sie sooo verspannt sei, hatte ich nur noch einen Gedanken: Rein in den Fahrstuhl zum Arschlecken.

Olga Forever

Autor: Paco Ignacio Taibo II
Taschenbuch: 192 Seiten
Verlag: Edition Nautilus (1998)
ISBN-10: 3894012927 / ISBN-13: 978-3894012922



Seit Nächten herrschte Schlafentzug und als einzigen Trost blieb mir der Ritt durch die Straßen Mexiko-Stadts auf der Vespa Olga Forevers. Olga ist Journalistin, klein, gedrungen, Jungfrau, reichlich unverschämt, zynisch angehaucht, eine belesene Lumpenproletarierin, trinkfest, nicht korrupt, gutherzige Tante, verbunden mit der Stadt und Angehörige der Generation Vom Winde verweht. In Sachen Liebe hält sie es mit der Quantität und dem Platonischen.

Mit maximal 35 Stundenkilometern jagt sie Verbrecher, meist Polizisten, oder flieht vor ihnen. Ihre Bekannten stammen von der Journalistenschule, die sie vor nicht allzu langer Zeit besucht hat. Das sind junge, aus dem Leben gegriffen Menschen wie der Niño de Oro, der unkontrolliert furz und rülpst, wenn er spricht und vor Olgas Augen von zwei Bullen hingerichtet wird oder die Schwarze Witwe, die wunderschön ist. Leider sterben ihre Exfreunde, ohne dass die Witwe Notiz davon nimmt. Darunter auch die beiden hübschen Kommilitonen Olgas, die gemeinsam den Fahrstuhl zum Arschlecken wählen.

Olgachen – so nennt sie ihr kleiner Neffe, der nebenan wohnt und immer wenn seine Mutter auf Party ist, bei Olga reinschneit – löst den ersten Fall: Die fünf Koksnasen aus der Mittelschicht sind nicht bei einer gemeinsamen schwarzen Messe verendet, sondern durch Schüsse aus Polizei-Dienstwaffen. Die Opfer wurden von Polizisten entführt und gefoltert, mit dem Ziel ihren mageren Sold aufzubessern. Leider befand sich unter den Gekidnappten eine Anwältin, die die Folter nicht überlebte. So mussten auch die anderen vier dran glauben. – Aber so richtig scheint sich für Olgas Enthüllungsbericht, für den sie während ihrer Recherche viel Scheiße schwitzte, niemand zu interessieren.

Ende Roman 1/Nacht 1

P.S.: Olga tröstet sich auf ihrem Ritt durch die Stadt mit den unzähligen Botschaften an den Häuserwänden. Für sie die echten und wahren Nachrichten, die sie den Meldungen der Tageszeitung vorzieht. Folgende küre ich zu meiner persönlichen Losung des Tages:

Die Optimisten sind die, die glauben, dass diese Scheiße für immer ist.

Beginn Roman 2/Nacht 2

Eine weitere unsäglich fiese da schlaflose Nacht treibt mich erneut in die Straßen Mexikos. Weitere Tote gestalten ein wenig die Rahmenhandlung des zweiten Olga Forever Romans im selben Buch wie gestern. Olgachen erhält Besuch von ihrem 87-jährigen Großvater, den sie nur vom Hörensagen kennt. Der Großvater nistet sich bei ihr ein und trinkt und verhurrt das Geld seiner Nichte. Dafür revanchiert er sich mit brillanter Unterhaltung, die Olga das ein oder andere Mal den Eisengürtel um den Bier-Kühlschrank lockerer schnallen lässt. Während Olga die Vespa durch den Dschungel der von den Wänden strahlenden Weisheiten lenkt, hüllt sich der Großvater in die selbst gefertigte Franziskanerkutte und verfolgt Politiker und korrupte Mönche, einfach alle, die seinem geliebten Mexiko Schaden zufügen wollen.

Wieder deckt Olgachen auf: Der Mörder ist der Chef der Notenbank. Hahaha, lacht ihr Vorgesetzter bei der Nachrichtenagentur, in dessen Auftrag sie ermittelt hat. Und auch der zweiten Story mag er keinen Glauben schenken: Der „...Geschichte von einigen pfiffigen Pfaffen, die mit dem Innenministerium über die Anerkennung des Vatikans verhandeln und als Gegenleistung gefälschte Wahlzettel für die PRI hergestellt haben.“

Ende Roman 2/Nacht 2

P.S. 2: Neben Weisheiten und Unterhaltung nehme ich eine bedingt durch den Schlafentzug sehr treffende Passage aus Olgachens Leben mit zum Drucker und klebe sie mit Tesa auf die Fliesen neben dem Spiegel über dem Waschbecken:

Du bist hübsch, ein Hübschchen, ein hübsches Früchtchen, eine fruchtige Hübsche, ein hübsches Püppchen, Püppchenhübschchen sagte ich zu mir im Spiegel, dem Feind aller Morgenstunden, im Versuch, die schwarzen Ringe unter den Augen angesichts dessen, was sie da sahen, vor Scham zum Verschwinden zu bringen.

Nacht 3

In der dritten Nacht gibt es keine weitere Forever-Story. Ein neues Buch mag ich nicht beginnen, denn da ist noch etwas, was mir Olgachen mit auf den Lebensweg geben möchte. Ich blättere also noch mal vor und zurück, lese quer und blättere wieder vor und zurück. Ich werde nicht fündig.

Ich drehe mich um, schaue auf meine friedlich schlummernden Liebsten, die mich mit ihrer grenzenlosen Liebe beknutschen und verdrücken, um mich im gleichen Moment als Sünden-Büßer für ihre angeschlagene Laune mit Füßen zu treten. Und dann setze ich mich an den runden Küchentisch und schreibe Gründungsidee und Satzung des seit Jahren in meinem Herzen schlummernden Freitod-Clubs Fahrstuhl zum Arschlecken. – Danke Olgachen.

Text: Dirk Klaiber
Fotos: amazon

[druckversion ed 05/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





[kol_2] Amor: Wortspiele und Lebensweisheiten (Teil 11)
 
Original: Consejos vendo y para mí no tengo.
Wortwörtlich: Ich verkaufe Ratschläge und für mich habe ich keine.
Sinngemäß: Wasser predigen und Wein trinken.



Original: Con paciencia y una caña.
Wortwörtlich: Mit Geduld und einem Stück Zuckerrohr.
Sinngemäß: Abwarten und Tee trinken.

Original: Celos y envidia, quitan al hombre la vida.
Wortwörtlich: Eifersucht und Neid verleiden dem Menschen das Leben.
Sinngemäß: Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft.

Original: Cobra buena fama y túmbate en la cama.
Wortwörtlich: Kassiere (guten) Ruhm und lege Dich ins Bett.
Sinngemäß: Wer den Ruf hat, früh aufzustehen, kann schlafen bis Mittag.

Original: Comer y rascar, todo es empezar.
Wortwörtlich: Wenn man mit essen und kratzen erstmal anfängt...
Sinngemäß: Der Appetit kommt beim Essen.

Original: Cosa mala nunca muere.
Wortwörtlich: Schlechte Sache stirbt niemals.
Sinngemäß: Unkraut vergeht nicht.

Original: Consejos sin ejemplo, letras sin aval.
Wortwörtlich: Ratschläge ohne Beispiel, Buchstaben ohne Billigung.
Sinngemäß: Ein Löffel voll Tat ist besser als ein Löffel voll Rat.

Original: Chica es la punta de espina, mas a quien le duele, no la olvida.
Wortwörtlich: Winzig ist die Dornenspitze, doch wer sich sticht, der vergisst sie nicht.
Sinngemäß: Kleine Ursache, große Wirkung.



Original: Comida hecha, compañía deshecha.
Wortwörtlich: Fertig mit Essen, Runde geht auseinander.
Sinngemäß: Nach dem Schmaus gehn die Freunde nach Haus.

Text: Camila Uzquiano
Foto: Dirk Klaiber

Und weitere Wortspiele und Weisheiten:
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 1
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 2
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 3
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 4
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 5
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 6
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 7
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 8
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 9
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 10

[druckversion ed 05/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: amor]





[kol_3] Grenzfall: Grenzgänger in Katalonien 1939 – 1945 (Teil 2) (Teil 1)
 
Die Grenze zwischen dem französischen Rousillion und dem spanischen Katalonien ist eine künstliche. Gezogen infolge irgendeines Erbfolgekrieges im 17. Jahrhundert. Zwischen dem Ende des spanischen Bürgerkrieges 1939 und dem Ende des zweiten Weltkrieges 1945 kreuzten sich an dieser Grenze die Schicksale zehntausender Menschen. Die folgende historisch-fiktive Reportage handelt von diesen Grenzgängern, die die Grenze in die eine oder die andere Richtung überschritten. Sie handelt von ihrer Not, ihren Hoffnungen, ihren Siegen und Niederlagen und ihrem Willen, den Kampf gegen den Faschismus weiterzuführen.

Februar 1939, Argeles-sur-mer (Frankreich): Ein eisiger Wind wirbelt den Sand am Strand von Argeles auf. Ursprünglich für 30.000 Menschen geplant, sind hier 100.000 spanische Republikaner auf 50 Hektar Strand zusammengepfercht. Wie feine Nadeln brennt der Sand auf ihren Gesichtern.

Es gibt nichts außer Stacheldraht und ein paar Wachttürmen mit Maschinengewehren. Ungeschützt, unter freiem Himmel, sind die Gefangenen den Naturgewalten ausgesetzt. Die sanitären Bedingungen sind katastrophal - erst im April werden Latrinen eingerichtet, bis dahin verrichten die Menschen ihre Notdurft im Meer, kaum in der Lage, ihre Blöße zu bedecken.

Um sich vor dem Wind und dem Sand zu schützen, graben die Menschen Löcher und Kuhlen in den Sand, versuchen sich mit aus Treibholz und Schilf gefertigten Unterständen dem ständigen Wind zu entgehen: "Wir sind zu einem Volk vom Höhlenmenschen geworden", sollte Max Aub später über diese Zustände schreiben.

In einem dieser windzerzausten Unterstände, an einem der tausenden von Lagerfeuern, die mehr Rauch als Wärme produzieren, finden die ersten Treffen von Genossen verschiedener Organisationen statt, um den spanischen Widerstand in Frankreich zu organisieren.

September 2012, Saint Marsal (Frankreich): Saint Marsal ist ein 70 Seelendorf.

Die Ortsmitte besteht aus der Auberge St.-Marsal, einem Restaurant mit von Bäumen beschatteter Terrasse, einer Episcerie, in der man vom Ziegenkäse bis zum Waschmittel alle Güter des täglichen Bedarfs erwerben kann, einem Postamt und der Mairie (Bürgermeisteramt), wo im Dienstzimmer des Bürgermeisters der ausgestopfte Kopf eines Wildschweins an der Wand hängt.

Mai 1943, Saint Marsal: Auf dem Dorfplatz von Saint Marsal treffen sich Ferran und sein Freund Veli. Noch vor Sonnenaufgang machen sie sich schwer bepackt auf den Weg nach Pinatell, einem Versteck am Hang des Canigou. Sie versorgen einmal wöchentlich die Kämpfer des maquis von Valmanya mit Lebensmitteln. Unter den Kämpfern sind viele Spanier, die guerilleros espagnoles: Bürgerkriegsteilnehmer, die jetzt, getarnt als Wald- oder Minenarbeiter, den französischen maquis im Kampf gegen die Nazi-Besatzung unterstützen. Als Teil des Fluchthelferrings Sainte-Jeanne, dessen Kopf der Grundschullehrer von Valmanya, Rene Holt, ist, schleusen sie auch von den Nazis Verfolgte über die Grenze. Das Gelb der Felder und das Weiß der Narzissen auf den Wiesen kündigen den Frühling an.

Rückblende: Der Weg von Ferran nach St.-Marsal war lang und steinig. Ferran wird 1915 in Villalonga de Ter im spanischen Teil Kataloniens, keine 20 Kilometer von der französischen Grenze entfernt, geboren. Als er 10 Jahre alt ist, wird sein Vater während einer Schmuggeltour am Col d' Ares von der Polizei erschossen. Ab 1930 arbeitet Ferran in einer Keksfabrik. Im August 1936, nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges, schließt er sich einer Gruppe der POUM an, geht nach Barcelona und tritt in die Kolonne Durruti ein. Im Oktober 1936 wird er in Farlete verwundet und kehrt zurück nach Villalonga de Ter. Nach seiner Genesung arbeitet er Ausbilder in der Garnison von Lleida. Nach der verlorenen Schlacht am Ebro zieht sich Ferrans Ausbildungseinheit nach Mauresa zurück. Er selbst flieht schließlich nach Villalonga de Ter und von dort weiter nach Le Perthus, wo er die Grenze nach Frankreich überquert. Dort wird sein Bruder erschossen, als er sich weigert, seine Waffe abzugeben. Ferran wird am Strand von Argeles-sur-mer interniert, wo er nach 50 Tagen frei kommt. Er findet Unterschlupf auf dem Hof eines Freundes in Maureillas. Von dort gibt es eine Straße, auf der man in wenigen Stunden Fußweg Saint Marsal erreicht - die heutige D 10.

Sommer 1943, Valmanya: Unter den Stiefeltritten der SS springt krachend die Tür auf. Rene Horte hat sie kommen sehen, er ist schon am Waldrand und klettert den Abhang hinauf. Statt seiner verhaftet die SS seine Frau und in derselben Nacht Mitglieder der Familie Bartoli. In der Folge entwickelt sich der Fluchthelferring Sainte Jeannne unter der Führung von Rene Horte zu einer schlagkräftigen Gruppe des maquis, die die deutschen Besatzer immer wieder in blutige Hinterhalte lockt.

6. Juni 194: Landung der Allierten in der Normandie

8. Juli 1944, Mine von Pinosa: Schon eine Weile beobachten Rene Hortes Männer die bewaffnete Gruppe, die sich mit schleppenden Schritten auf die Ruinen der stillgelegten Mine von Pinosa zu bewegt: Einige bluten aus notdürftig verbundenen Wunden, sie sind abgerissen, hohlwangig, am Ende ihrer Kräfte. Als sie aus ihrer Deckung treten und sich zu erkennen geben, folgt dem ersten Erschrecken große Erleichterung: Es sind unsere Leute, vom maquis. Mit Brot und einem Schluck Rotwein gestärkt, berichten sie: Sie gehören zum maquis Henri Barbusse und sind beim Dorf Fillols auf der anderen Seite des Canigou von den Besatzern angegriffen worden, mussten ihren Stützpunkt aufgeben und bis hierher flüchten, um ihre Verfolger abzuschütteln. Kommandiert werden sie von Julien Panchot, einem Kommunisten aus dem Roussillion, der im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hat.

20. Juli 1944, Mine von Pinosa: Circa 200 Männer haben sich vor den Ruinen der Mine von Pinosa versammelt, bewaffnet mit Karabinern, englischen Sten-Maschinenpistolen, aber auch Jagdgewehren und Schrotflinten. Heute schließen sie sich zusammen: der maquis Henri Barbusse, die Gruppe von Rene Horte und einige Gruppen bisher unabhängig agierender guerilleros espagnoles. Und ab heute stellen sie für die deutschen Besatzer eine ernste Bedrohung dar.

1. August 1944, Valmanya: Das Tal ist erfüllt vom Dröhnen der Lastwagenmotoren der deutschen Wehrmacht. 500 Soldaten und an die 100 französische Milizsoldaten werden damit nach Valmanya gefahren. Dort angekommen hört man die Kommandos "Absitzen !", "Los, los Flammenwerfer in Position!". Haus für Haus wird angezündet, nur rußgeschwärzte Ruinen bleiben zurück. Das Dorf wird vollständig niedergebrannt. Der Zusammenschluss von maquis und guerilleros espagnoles hat die Bevölkerung rechtzeitig vor dem Racheakt der Nazis gewarnt, 100 guerilleros decken die Flucht der Zivilisten in die Wälder.

Nur vier Zivilisten schaffen es nicht und werden von den Nazis an Ort und Stelle erschossen. Auf dem Bergkamm haben Julien Panchot und seine Männer die Aufgabe, weitere Einheiten, die aus dem Vallespir anrücken, aufzuhalten. Das Rattern  der Maschinenpistolen und die Schüsse aus ihren Karabinern hallen durch das Tal. Julien wird getroffen, seine Kameraden müssen sich zurückziehen, er wird von den Nazis gefangen genommen und in den Ruinen von Pinosa gefoltert und grausam ermordet.



September 2012, Valmanya: In einer kleinen Grotte sind drei Gedenktafeln angebracht: Die erste für Julien Panchot, die Einheit Henri Barbusse und die guerilleros espagnoles, die zweite für die zivilen Opfer der Nazibarbarei in Valmanya, die dritte für die Deportierten. Vor den Gedenktafeln liegen vertrocknete Kränze mit von der Sonne ausgebleichten Schleifen: von der Veteranenorganisation der Resistance, dem Departement, der Gemeinde.



3. August 1944, Saint Marsal: Erst  heute erfahren Ferran und seine Freunde von den Geschehnissen in Valmanya. Der maquis muss sich neu formieren : Eine Gruppe unabhängiger guerilleros wechselt ins Departement Aude, der maquis Henri Barbusse sammelt sich in der Gemeinde Estoher und auch die Gruppe Rene Horte hat sich wieder zusammengefunden. Der nationale Aufstand des maquis ist in vollem Gange: Am 9. August wird als erste Gemeinde Nordkataloniens das Dorf Rabouillet befreit, am 20. August verlassen die Besatzer ganz Nordkatalonien. Bei der Befreiung von Foix (Departement Ariege) spielt ein einzelner Maschinengewehrschütze eine entscheidende Rolle: Unberührt vom heftigen Feuer der Deutschen hält er seine Stellung und überzieht den Feind mit einem Kugelhagel. Ein Kampfgefährte erinnert sich: "Er feuerte wie ein Verrückter " und fügt als eine Art Erklärung hinzu "aber klar, er war Spanier, ein guerillero!" Beim Rückzug der Deutschen nach dem Fall von Marseille attackiert eine Gruppe des maquis bestehend aus 32 Spaniern und vier Franzosen eine 1300 Mann starke Wehrmachtseinheit. Straßen und Eisenbahnbrücken werden gesprengt, die Schlacht tobt einen Tag und eine Nacht, die Deutschen werden vernichtend geschlagen. Der deutsche Kommandeur begeht Selbstmord.

In Südfrankreich kämpften ca. 10.000 Spanier im maquis, teils in gemischten, teils in eigenen Einheiten. Sie befreiten siebzehn Städte. Die Effektivität der Guerrilla-Aktionen bewog Eisenhower zu dem Kommentar, dass die Unterstützung durch die Resistance bei der alliierten Landung 15 reguläre Divisionen aufgewogen habe.

Text + Fotos: Wolfgang Hänisch

Der angekündigte dritte Teil der Serie "Grenzgänger in Katalonien 1939 - 1945" kann leider erst im Oktober erscheinen. Bei den ersten beiden Teilen wurden Motive aus den Arbeiten von Serge Barba, Lisa Fittko,Enrique Lister, Michel Morera, Jean Ortiz, Loic Ramirez sowie diverse Internetveröffentlichungen verwandt

[druckversion ed 05/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_4] Lauschrausch: Mediterraneo und Latin America
Christina Pluhar trifft Lateinamerika für Kinder
 
Das Mittelmeer, oft als "Wiege der Zivilisation" bezeichnet, ist und war vor allem eines: ein dynamisches Netzwerk von Städten, über das Personen, Waren und Ideen ausgetauscht wurden, und eben auch Kultur und Musik. Insofern ist es nur folgerichtig die verschiedenen Musikkulturen von Israel bis Gibraltar (und hier noch bis Portugal) und von Genua bis Tunis zusammenzudenken. Denn es existieren auch viele Mischformen, wie die griechisch-salentinischen Lieder, der seit Jahrhunderten im italienischen Salento ansässigen Griechen (Griko-Kultur), die für die Harfenistin Christina Pluhar der Ausgangspunkt ihres neuen Albums "Mediterraneo" waren. Sie reiste durch Italien, Spanien (Katalonien), Portugal, Griechenland und die Türkei, um Fandangos, Tarantellas etc. (auf) zu spüren und hat dann mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata eine wunderbare Mischung aus Folklore und alter Musik (Pluhar ist Spezialistin für Barockmusik) eingespielt, bei der neben den typischen Barockinstrumenten eben auch jene der Mittelmeerregion zum Einsatz kommen: Saz, Lyra oder Gitarre.

Christina Pluhar / L’Arpeggiata
Mediterraneo
EMI Classics

Sänger aus den jeweiligen Ländern vertonen die Stücke, u.a. Mísia oder Raquel Andueza. Von fröhlichen türkischen Tänzen ("Hicâz mandira") über traurige katalanische ("La dama d’Aragó") und griechische ("Amygdalaki tsakisa"; "Ich knacke die Mandel") Volkslieder, Griko-Musik bis zu portugiesischen Fados reicht das Repertoire der 19 Titel, das aber eher die melancholische Seite der Folkloremusik hervorholt. Eine wunderbare musikalische Reise, die den (utopischen) Wunsch nach einer Mittelmeerunion aufkommen lässt, die über das Kulturelle hinausreicht.


Das Label Putumayo, u.a. bekannt für seine geniale "Playground"-Reihe, die Musik aus aller Welt für Kinder präsentiert, hat zwei weitere Produkte für Kids ins Programm genommen: ein Malbuch und ein Aufkleberbuch, erhältlich in den Ausführungen "Africa", "Europe" und "Latin America", mit kurzen englisch- und spanischsprachigen Begleittexten. Auf den 2x3 Aufkleberbögen "Latin America" finden sich Lamas, Aras, Panflöten, ein bunter Andenbus uvm. im erfolgreichen Putumayo-Coverdesign, um sie in die Landschaft zu kleben (mehrfach nutzbar!). Ergänzt werden sie von einer Karte des Kontinents und einem Miniglossar mit acht Erklärungen (Iguana, Maracas etc.). Das Malbuch enthält 20 große Skizzen von typisch lateinamerikanischen Tieren und Instrumenten sowie eine Karte und ein Glossar.

Putumayo Kids
Latin America
Barefoot Books

Ein tolles Geschenk für Kinder (und auf langen Fahrten auch für Eltern).

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 05/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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