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[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
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Elfte Etappe: Die Kathedrale mit Hühnerstall
 
Montag, 27. August 2012.Am nächsten Tag geht es weiter durch die Weinfelder der Rioja, in der Morgensonne wandern wir durch eine sanft hügelige Landschaft mit kleinen Wäldchen, umschwirrt von unzähligen Schmetterlingen.



Nur das letzte Stück des Weges ist mühsam, mit der Mittagshitze verdrängen Fliegenschwärme die Schmetterlinge und attackieren uns während des langen Abstiegs nach Santo Domingo de la Calzada. Hier kommen wir an der ältesten Pilgerherberge des ganzen Jakobsweges vorbei. Der Hauptgrund, in diesem Ort zu verweilen, ist aber einer der größten Kunstschätze des Camino. Die Dorf-Kathedrale von Santo Domingo de la Calzada übertrifft die Klosterkirche von Nájera, obwohl sie von außen – bis auf den schönen barocken Glockenturm – zunächst enttäuschend wirkt. Die Renaissance-Fassade will nicht zum romanisch-gotischen Rest des Bauwerks passen. Aber innen kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus.



Die vier Etagen hohe, großzügig vergoldete Altarwand ist das Werk des genialen Renaissance-Bildhauers Damian Forment (1480 – 1540) aus Valencia, der außerhalb von Spanien weitgehend unbekannt ist. Ein halbes Leben lang dürfte der Künstler an diesem Universum, das von tausenden Figuren bevölkert wird, gearbeitet haben, bevor er – das gigantische Opus fast vollendet – an Weihnachten 1540 mit dem Meißel in der Hand starb.



Dieser Hochaltar übertrifft zwar nicht an Größe, aber vielleicht an künstlerischer Qualität die Hauptaltäre der drei größten spanischen Kathedralen (Sevilla, Toledo, Burgos). Hier ist jede Skulptur ein Meisterwerk, umrankt von phantasievollen Fabelwesen. Besonders beeindruckend in ihrer dynamischen Lebendigkeit sind die Figuren des heiligen Evangelisten Johannes mit dem Adler zu seinen Füßen und der heilige Sebastian.



Dass die Kathedralen von Burgos oder León zu den schönsten der Welt gehören, weiß man vorher, aber vor diesem golden strahlenden Geniestreich in einer unbekannten Dorf-Kathedrale steht man – wie jetzt Cayetana – überrascht mit offenem Mund und könnte stundenlang davor verweilen, immer neue Details sind zu entdecken.



Und diese Kirche hat noch mehr erstrangige Kunstwerke zu bieten: gotische Hochaltäre mit wunderbar gemalten Passionsgeschichten, eine elegante Verkündigungsszene mit dem Engel Gabriel und der Jungfrau Maria aus Alabaster, hoch oben rätselhafte Fratzen an den Säulenkapitellen und unter den Sterngewölben der Vierungskuppel der kleine gotische Tempel von 1513, unter dem sich das Grabmal des heiligen Domingo (1019 – 1109) befindet.



Dieser hünenhafte Heilige wollte unbedingt in ein Kloster eintreten, wurde aber zweimal abgewiesen, weil er nicht lesen konnte. Beleidigt wurde er zu einem Einsiedler, der in Wäldern lebte. Er war also kein großer Intellektueller, doch er wurde zu einem heiligen Herkules, der seine immense Körperkraft in den Dienst des Camino stellte. Er baute eine Brücke, rodete allein halbe Wälder, um den mittelalterlichen Pilgern einen Weg durch die Montes de Oca zu bahnen, und er zerquetschte angeblich wilde Stiere mit purer Muskelkraft.



"Sehr sympathisch, dieser Heilige", resümiert anerkennend meine andalusische Begleiterin, nachdem sie sich alle Legenden über ihn angehört hat. An das berühmteste Wunder, das dem heiligen Domingo zugeschrieben wird, erinnert eine weltweit einmalige Einrichtung: ein Hühnerstall mitten in der Kirche! Im 14. Jahrhundert kam eine deutsche Pilgerfamilie nach Santo Domingo und die Tochter des spanischen Herbergsvaters verliebte sich in den Sohn der Deutschen. Da dieser ihre Liebe nicht erwiderte, versteckte sie aus Rache einen goldenen Becher in seinem Gepäck, um ihn als Dieb anzuklagen. Er wurde zum Tod durch den Strang verurteilt. Die Legende erzählt, dass Domingo aus seinem Grab stieg und den unschuldig Verurteilten am Galgen stützte, so dass er am Leben blieb. Als die Leute dies aufgeregt dem Richter mitteilten, der ihn verurteilt hatte, meinte dieser nur, verärgert über die Störung seines Mittagsmahls: "Der Junge wird so lebendig sein wie das gebratene Huhn hier auf meinem Teller!" Da erhob sich das Brathuhn und flog durchs Fenster und der junge Pilger wurde nach diesem Gottesurteil begnadigt und durfte nach Santiago ziehen. So erklärt sich das spanische Sprichwort:

"In Santo Domingo war es Gottes Willen, dass die Henne noch krähte nach dem Grillen."



Seit 600 Jahren befindet sich der gotische Hühnerkäfig mit einem Hahn und einer Henne in der Kathedrale. Deutsche Tierschützer können unbesorgt sein. Die Federviecher müssen nicht ihr ganzes Leben eingesperrt an diesem heiligen Ort verbringen, sondern werden jeden Monat durch eine "Ablösung" ausgetauscht, damit jedes Huhn des Ortes mal in den Genuss der Heiligkeit kommt. Man sagt, es bringt einem Pilger Glück, wenn der Hahn kräht, während man die Kathedrale besichtigt. In unserem Fall blieb er leider stumm. "Blödes Vieh", urteilt Cayetana und wirft dem Hühnerkäfig noch einen bösen Blick zu, als wir das Gotteshaus verlassen.

Bevor wir den heutigen Endspurt durch die Gluthitze der Siesta antreten, müssen wir noch unsere Rucksäcke abholen, die wir während der Besichtigung in der Obhut von zwei entzückenden Omas gelassen haben. Zum Abschied singt die eine uns ein altes Lied über einen Pilger, der sich auf dem Camino verliebt. Die andere will mich mit zwei (!) hübschen Holländerinnen verkuppeln, die auch ihre Rucksäcke abholen. Wir schenken den beiden alten Damen ein paar Madonnenbildchen aus Sevilla. Die ältere lächelt selig beim Anblick der Macarena und meint dann aber, das wäre ja die Madonna in Sevilla, die blutige Tränen weint und bei der letzten Prozession hätte das Publikum zwei Stäbe ihres Baldachins zerbrochen, so dass das Dach über ihr eingestürzt sei. Ich glaube da wirft unsere Rucksack-Hüterin einiges durcheinander (vielleicht hat sie zu oft "Ben Hur" gesehen). Aber eine Prozession ist kein Wagenrennen und meines Wissens ist in 400 Jahren niemals der Baldachin der Macarena eingestürzt. Es wird ein wortreicher Abschied, bei dem man uns viele Enkel wünscht.

Kurz hinter Santo Domingo überholen wir zwei ältere Frauen mit großen Rucksäcken. Eine der beiden sagt etwas auf Italienisch, lächelt mich auffordernd an, als sei sie hier auf einer Cocktail-Party für Singles statt auf einem abgeernteten Weizenfeld. Wir gehen schnell vorbei. Nach einem anstrengenden Marsch durch eine öde Ebene erreichen wir Grañón, wo uns eine besonders heilige Herberge erwartet – sie befindet sich in der Dorfkirche. Die obere Etage im Turm ist schon voll, so dass wir unsere Schlafsäcke in der rechten Seitenkapelle ausbreiten dürfen.



Hier gibt es (ähnlich wie bei unserer "Apostelgemeinschaft" in Arrés – siehe Caiman-Ausgabe 2/2013) ein gemeinsames Abendmahl für alle anwesenden Pilger. Dabei kommt die betagte, aber temperamentvolle Italienerin zufällig genau neben mir zum Sitzen. Überfallartig verwickelt sie mich in ein Gespräch. Ich komme kaum zum Essen. Ich weiß nicht, ob sie meine knappen Antworten auf Spanisch versteht (ich hatte ihr erklärt, dass ich kein Italienisch verstehe). Das scheint sie überhaupt nicht zu beeindrucken, ein Wasserfall von Worten in leidenschaftlichem Italienisch ergießt sich mit Ferrari-Geschwindigkeit über mich. Ihr Lächeln war schon auf dem verdorrten Weizenfeld erschreckend eindeutig, dem lässt sie nun Taten folgen. Sie streichelt plötzlich meinen Bizeps, kurz danach zwickt sie mich in die Hüfte, begleitet von einem unverständlichen Wortschwall, dann tätschelt sie meinen Nacken. Man liest ja ab und zu etwas über sexuelle Belästigung von Frauen durch Männer auf dem Camino – wie man sieht, gibt es auch den umgekehrten Fall. Ich bin ja nun wirklich nicht prüde (wer mich kennt wird dies entschieden bestätigen), aber das ist jetzt zu viel. Denn erstens hasse ich es, beim Essen gestört zu werden, und zweitens gehört eine 20 Jahre ältere Dame nicht zu den Verlockungen, die mein Keuschheitsgelübde ernsthaft gefährden könnte. Sanft aber entschieden führe ich also ihre Hand von meinem Nacken zurück zu ihrer Gabel. Cayetana, die diese Szene mit wachsender Belustigung beobachtet hatte, prustet nun einen Schluck Wein über den halben Tisch.



Nach dem Abendmahl ist gottlob Spiritualität angesagt. Zuerst zelebriert der charismatische Priester von Grañón eine der schönsten Pilgermessen, die wir auf dem ganzen Camino erleben durften. Im Anschluss lädt er alle ein zur Gruppen-Meditation im Hochchor der wunderschönen Dorfkirche. Wir sitzen im Kreis im Dämmerdunkel. Die einzigen Lichtquellen sind der ferne Goldglanz des Hochaltars und eine Kerze, die von Hand zu Hand weiter gereicht wird in unserer Runde. Jeder kann spontan sagen, was er oder sie auf dem Camino zu finden hofft oder ein Schlüsselerlebnis schildern, das man auf einer Etappe des Weges schon im Schatz der Erinnerungen abgespeichert hat.

Ich versuche, den sehr emotionalen Moment in der Kapelle von Eunate (siehe Caiman 5/2013) in Worte zu fassen. Eine französische Pilgerin singt mit bezaubernder Stimme ein Taizé-Lied ("Dans les obscurités…" ). Und Cayetana – sie beginnt ihren Wortbeitrag fast flüsternd, aber steigert sich zu einem lauten Appell: "Wieso kann Kirche nicht immer so sein wie hier und heute? Einfach und herzlich statt pompös und bürokratisch, wieso nicht alle zusammen statt einer von oben, von der Kanzel herab? Wieso spielen Kardinäle noch immer gern Inquisition und klagen an, statt wie Jesus zu handeln, der mit Liebe alle umarmt hat?" Zur Bekräftigung ihrer kurzen aber heftigen Predigt umarmt sie stürmisch den jungen Engländer neben sich, der leicht erschreckt wirkt. Sie erklärt ihm, dass ihre Umarmung "mystisch" gemeint sei.

In der Nacht träumt Cayetana in der Kapelle von Grañón, sie sei Maria Magdalena und ginge mit einem Kerzenlicht durch die Finsternis einer nächtlichen Wüste. Sie muss einen hohen Berg erklettern. Auf dem Gipfel steht ein steinernes Tor, davor sitzt auf einem Thron im Purpurmantel der heilige Petrus und will ihr den Eintritt verwehren. "Du hast mir gar nichts zu sagen, denn ICH trage das Licht!", spricht Maria Magdalena Cayetana und schreitet mitten durch das Tor.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Etappe von Nájera über Santo Domingo nach Grañón: knapp 28 Kilometer

Unterkunft in Santo Domingo de la Calzada: Kirchliche Herberge der "Cofradía del Santo", Calle Mayor 42, Tel. 941-343390: älteste Traditionsherberge in prachtvollem, saniertem Palastbau, mit Küche, Internet, Übernachtung: Spende

Verpflegung in Santo Domingo de la Calzada:
Empfehlenswert: Restaurant "Mesón Los Arcos", Calle Mayor 68, Tel. 941-342890
Gediegenes Restaurant mit gutem Pilgermenü (12 Euro) und hervorragendem Hauswein (Señorío de Uñuela)

http://www.lacalzada.com/#
http://www.santodomingodelacalzada.org/contenidos.php?sec=2

Unterkunft in Grañón: Kirchliche Pilgerherberge in der Kirche San Juan Bautista, in den Turmetagen und Seitenkapellen der Kirche, Küche, gemeinsames Abendessen und gemeinsame Meditation nach der Pilgermesse, schöne Atmosphäre, Spendenbasis, das Engagement der Freiwilligen, die hier Dienst tun, ist bewundernswert.

Verpflegung in Grañón: in der Bar "Teo" schräg gegenüber der Kirche, wo man auch den Stempel von Grañón erhält.

Kirchen:
http://es.wikipedia.org/wiki/Catedral_de_Santo_Domingo_de_la_Calzada
www.catedraldomingo.es


Kathedrale Santo Domingo de la Calzada: Geöffnet Mo. – Sa. 9.30 – 13.00 und 16.00 – 18.00 Uhr, So. ähnlich, aber je vor- und nachmittags ca. 1 Stunde wg. Messen nicht für Besichtigung zugänglich, ermäßigter Eintritt für Pilger: 2,50 Euro. Email: catedraldomingo@terra.es

Kirche San Juan Bautista in Grañón: Garantiert geöffnet nur zur täglichen Abendmesse ca. 19.00 – 21.00 Uhr

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