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[art_4] Peru: Clark und die absolute Glückseligkeit
 
Mein Freund Clark ist der glücklichste Mensch der Welt gewesen. Wenn ich das so provokativ sage, dann nur weil ich es genau so und nicht anders meine. Sie werden schon sehen, warum das eindeutig stimmt, ich muss es nur noch erklären. Clark ist nicht etwa der glücklichste Mensch der Welt gewesen, weil er viel Glück gehabt hätte, das nicht. Clarks Biographie verdient vielmehr nur ein einziges Deskriptiv: katastrophal. Zweites Kind einer siebenköpfigen Familie aus allerärmsten Verhältnissen. Wenn das Essen auf den Tisch kam, erzählte Clark immer, beeilten sich alle mörderisch, vor den Kakerlaken am Tisch zu sitzen. Sein Vater, ein Säufer, bereicherte eines verregneten Abends die Statistik Familienmord mit anschließender Selbsttötung – nur Clark kam wegen eines Schulausflugs davon. Man steckte ihn daraufhin in eines dieser Heime (was das dieser heißt, dürfen sie sich selbst ausmalen).

Er haute von dort mit siebzehn ab, verbrachte ab achtzehn zwei Jahre im Knast wegen terroristischer Propaganda (ein paar Kumpels hatten ihn gebeten, einige Flugblätter zu verteilen, und er – dümmer als Brot – tat ihnen den Gefallen), hatte die miesesten Jobs, die man sich nur vorstellen oder eigentlich schon nicht mehr vorstellen kann.

Und nicht einmal diese Jobs, für die Leute zu finden schwer genug sein muss, nicht einmal diese hielten bei ihm lange: alle zwei, drei Monate stand er wieder auf der Straße und vor einem Problem.

Überflüssig fast schon zu erwähnen, dass Clark schwul war, ohne es sich eingestehen zu können. Krampfhaft pflasterte er sein Zimmer mit Bildern von primären und sekundären femininen Geschlechtsmerkmalen und sprach auf der Straße und in Gesellschaft fast ausschließlich von Titten, Ärschen und Mösen. Seine Freundinnen, von denen manche das anfangs ja noch ganz frisch fanden, waren binnen kurzem oder längerem so genervt, dass sie ihn zum Teufel schickten. Selbst die eine, die er – wenn auch nicht mit echter Libido, behaupte ich – geliebt hat, verließ ihn eines Tages. Ich habe jeden der drei Gründe verstanden, die sie mir nachts vor einem löslichen Kaffee in der Küche wie eine Platte mit Sprung immer wieder erläuterte. Und dennoch bestehe ich darauf, dass Clark der glück-lich-ste Men-sch der Welt gewesen ist.

Nicht, dass er das alles unbeschadet überstanden hätte – er hat es nicht. Und bestimmt trug die ganze Scheiße, die um ihn herum gurgelte und rülpste, ihren Teil dazu bei, dass er letzten Montag die Reise in die ewigen Jagdgründe (er hatte einen winzigen Teil Indianerblut in seinen Adern und bestand darauf, dass er im Zweifelsfalle dort unterkommen würde) antrat. Aber dass er dabei lächelte, dass ich ihn am Dienstag Mittag von der Uni kommend, verdammt noch mal lächelnd inmitten seiner eigenen Exkremente fand, das hatte einen anderen Grund.

Als ich mit Flausen im Kopf und ein Zimmer suchend in diese Stadt kam, war Clark gerade 28 geworden, hatte schon mehr erlebt, als ich je gelesen hatte, und stand kurz davor, eine Entdeckung zu machen. Wir lebten ein halbes Jahr zusammen, verstanden uns im großen und ganzen prima, hatten schon unseren ersten fetten Krach hinter uns (Clark hatte mich mit der Miete beschissen; ich verzieh ihm, denn schließlich zahlten meine Eltern), als Clark Das Buch fand. Das Buch hieß Das Buch nicht nur, weil es Clark zum glücklichsten Menschen auf diesem Planeten machte, sondern auch, weil es mit großer Sicherheit das einzige gewesen ist, dass er je freiwillig angefasst hat. Ich erinnere mich genau an den Tag, als er es nach Hause brachte. Er trug es wie selbstverständlich unter dem Arm, so als ob er jeden Tag seines Lebens Bücher unter seinem Arm getragen hätte. Ich, der ich den ganzen Tag mit mindestens einem durch die Gegend lief – nicht nur, weil ich studierte: die Intellektuellen standen damals bei den Frauen hoch im Kurs – wusste es nicht halb so gut und natürlich zu tragen wie Clark.

Er sah zwar im ersten Moment wie ein Rhinozeros mit einem Sonnenschirm aus, aber dieser Sonnenschirm stand ihm verdammt gut. Es war grün, zerfleddert und von einem Typen namens Johnstone. Er hatte es auf einer Mülltonne liegend gefunden und weiß der Teufel, warum er es mitgenommen hatte. Ganz ehrlich: ich war bis dahin nicht sicher, ob er überhaupt lesen konnte.

Ich weiß nicht, ob Sie Johnstone kennen. Ich selber kann das nicht behaupten, obwohl ich dieses Buch – dank Clark – nun fast auswendig kenne, ohne es allerdings je angefasst zu haben. Dieser Johnstone jedenfalls war erst Lehrer für Kinder und später für Schauspieler (ich spare mir hier jeden dummen Witz: meine derzeitige Freundin ist Schauspielerin), bevor er in einem grünen Buch seine Ideen und Erfahrungen aufschrieb. Ich glaube, er ist damit sogar so was wie berühmt geworden. An einer Stelle, ganz am Anfang, beschreibt Johnstone wie er auf die Idee gekommen ist, ein schönes und ausgefülltes Leben zu führen. Ich denke, das wird es gewesen sein, was Clark angezogen hat: ein schönes und ausgefülltes Leben zu führen. Was er schließlich auch geschafft hat, trotz des beschissenen Anfangs.

Johnstone beschreibt in seinem grünen und zerfledderten Buch die letzten Momente kurz vorm Einschlafen und die in diesem Augenblick entstehenden verrückten und aberwitzig tollen Bilder. Er nennt sie hypnagogische Bilder; weil sie so heißen, nehme ich an. Johnstone beschließt, sich ihnen hinzugeben. Wenn Sie wie ich zu denen zählen, die in den letzten Momenten vorm Einschlafen nur ekelerregend dreidimensionale Bilder Ihres meistgehassten Insektes, widerlich maliziös lächelnde Fragezeichengesichter Ihrer Prüfer oder Schwänze, die – mindestens 5cm länger als Ihr eigener – gerade in ihre Freundin eindringen, ohne auf geringsten Widerstand zu stoßen (hey, Frauen: ich weiß nichts von Euren Lieblingseifersuchtsphantasien: setzt sie hier stellvertretend ein!) sehen, werden Sie vermutlich die Idee, sich diesen Momenten hinzugeben, wenig verlockend finden. Auch ich war skeptisch. Clark aber fand das einfach genial, phantastisch und verzog sich in sein Bett, um es auszuprobieren.

Zu Beginn war ich von den Resultaten nicht sehr überzeugt, aber das lag weniger an Johnstones Idee als an Clarks Art der Umsetzung. Clark hatte anfangs das Problem, dass er nicht müde genug war, um soviel zu üben, wie er es gewollt hätte. Also holte er sich einen nach dem anderen runter, bis er schließlich erschöpft und zufrieden hypnagogische Bilder sah.

Nun wäre das an und für sich kein Problem gewesen, aber Clark hatte eine unerfreuliche Angewohnheit: er stöhnte und schrie dabei jede Sorte von Obszönitäten (rein hetero, versteht sich), so dass ich mich am Küchentisch wirklich nicht auf numerische Mathematik, Compilerbau oder was immer ich damals gerade lernte, konzentrieren konnte. Ich bat ihn, seinen Studien (oder besser: den Vorbereitungen dazu) so leise nachzugehen wie ich: schließlich lief ich auch nicht eine Stunde lang brüllend durch die Wohnung, bevor ich mich hinter meine Bücher setzte. Aber Clark meinte, dass er unmöglich oft genug einen hochkriegen würde, wenn er nicht stöhnte, und schrie weiter, während ich alle Ohrstöpsel durchprobierte, die es in der Apotheke an der Ecke zu kaufen gab. (Ich habe sehr kleine Gehörgänge, und Sie können sich nicht vorstellen, wie kompliziert es ist, passende Stöpsel zu finden!)

Aber die Nerv tötenden Manöver waren bald nicht mehr notwendig. Und dann kam der Tag, an dem ich meine ganze Skepsis über den Haufen warf und mich selber wichsend aufs Bett legte (allerdings ohne zu schreien: ich mag’s diskreter), um mich meinen hypnagogischen Bildern hinzugeben.

Denn eines Nachmittags kam Clark aus seinem Zimmer und setzte sich neben mich an den Küchentisch. Ich wollte ihn nicht beachten, weil ich einen Moment vorher festgestellt hatte, nach der Lektüre von zehn Seiten eines Buches nicht ein einziges Wort zu verstanden zu haben. Ich saß also am Tisch, mit meinen gelben Schaumstoffohrstöpseln in situ und wollte Clark nicht beachten, da spürte ich zu meiner großen Belästigung eine tiefe Zufriedenheit an meiner Seite. Ich sah sie nicht, ich spürte sie. Wahrscheinlich war ich empfänglicher als sonst, weil ich selber so genervt und unzufrieden war, und weil meine Psyche so funktioniert, dass sie das, was mir auf den Wecker fallen könnte, doppelt deutlich wahrnimmt. Jedenfalls spürte ich warm an meiner Seite, dass Clark glücklich war. »Warum zum Teufel bist du so zufrieden?«, fragte ich ihn, meine Stöpsel aus den Ohren nehmend und mein Buch vergessend. »Weil ich gerade einen wunderbaren hypnagogischen Traum hatte«, antwortete er schlicht, und sein Körper strahlte dabei, dass man eine Sonnenbrille hätte aufsetzen mögen. Ich dachte, nun ist es soweit, nun ist er abgetickt, und dennoch bat ich ihn zu erzählen. Aber Clark war, solange diese Glückseligkeit anhielt, einsilbig. Später, als sie abgeklungen war, erzählte er mehr, aber dann war es schon nicht mehr authentisch, denn Clark mischte viel Titten, Ärsche und Mösen in seine Erzählung, und das klang falsch und erfunden. Dennoch hatte sein Zustand tiefen Eindruck auf mich gemacht, und wie gesagt, ich zog mich später zurück und versuchte ohne Erfolg, es ihm nachzutun. Ich dachte weiterhin kurz vorm Einschlafen nur an Viecher, Profs und fremde, gut gebaute Typen, die bei meinen Freundinnen lagen.

Clark aber begann, seine Hingabe zu perfektionieren. Er machte weiter diese miesen Jobs, hatte Ärger überall und mit allen, unterdrückte – sage ich – nach wie vor seine eigene Sexualität, aber von nun an war er jeden Tag mindestens einmal glücklich. Er kam geschafft nach Hause (von was auch immer), aß eine Kleinigkeit und verzog sich für eine Stunde oder so in sein Zimmer, um danach als Zufriedenheitsstrahler unsere spärliche Bude zu erleuchten. Manchmal erzählte er von wirren Farbmustern, die aus irgendeinem unerfindlichen Grund ihn selber dargestellt hätten, manchmal von hellen Lichtern, manchmal von richtigen Geschichten, und immer davon, wie er – sich hingebend – neue Welten entdecken würde, von deren Existenz er nichts gewusst hätte.

Als Clark anfing, mit den hypnagogischen Bildern zu spielen, ver-schär-fte sich die Sache. Ich bekam ihn immer weniger zu Gesicht, denn er verschwand kaum angekommen in seinem Zimmer und spielte mit sich und seinen Vortraumbildern. Stundenlang lag er dort. Aber wenn er dann aus seiner Höhle hervorkam... In dieser Zeit waren abends fast immer einige Freunde von mir da. Wir spielten irgendwas, wir sahen uns Videos an, wir diskutierten über Religion (von der wir nichts wussten), Politik (wir verwechselten ständig die Abgeordneten der Regierungspartei mit denen der Opposition) oder Drogen (die wir nicht probiert hatten: schließlich studierten wir Informatik und nicht Geschichte oder Philosophie). Aber egal, welcher Beschäftigung wir uns gerade hingegeben hatten und wie sehr wir darin vertieft waren, LSD von Kokain auseinander zu halten (sind schließlich beides weiße Pulver... oder?), wenn Clark ins Zimmer kam, verstummte das Gespräch augenblicklich. Es ist einfach nicht möglich, über irgendetwas Vernünftiges zu reden, wenn einer in den Raum kommt und in eine Wolke absoluter Glückseligkeit eingehüllt ist. Meine Freunde dachten anfangs, dass Clark durchgeknallt sei, aber als ich ihnen sagte: »Er ist einfach glücklich«, da dachten sie, dass ich durchgeknallt sei. Mit der Zeit gewöhnten sie sich an den Gedanken, auch weil, wenn man Clark bei anderen Gelegenheiten traf, er immer noch fast ausschließlich von Titten, Ärschen und Mösen sprach. Das beruhigte ungemein, denn die Wahrheit ist, dass jemand im Zustand vollkommener Zufriedenheit schwer zu ertragen ist.

Ich machte mir indessen immer mehr Sorgen darum, dass Clark kaum noch aus seinem Zimmer kam, wenn er nicht gerade arbeiten musste. Ich dachte mir mehrmals einen geschliffenen und unwiderlegbaren Diskurs aus, warum man nicht nur in der Traumwelt, sondern auch in der Realität etc. etc. Aber meine eloquenten Sentenzen bargen immer denselben logischen Fehler: wenn – wie ich der allzu oft hinausposaunten Meinung war – es im Leben darum ging, Spaß zu haben und glücklich zu sein, warum er sollte er dann nicht genau das tun? Ich unterließ es also, ihm väterliche Ratschläge zu geben und versuchte stattdessen ihn zum Kino einzuladen, was er ablehnte.

Aber nach einer Zeit, es mochten ein paar Monate vergangen sein, seit er das Grünbuch gefunden hatte, regulierte sich das alles selbst. Clark kam aus seinem Zimmer, schwebte etwa fünf Zentimeter über dem Boden und sagte: »Ich kann’s!« Meine nächste Frage brauche ich wohl kaum niederzuschreiben, denn es wird unter den intelligenten Lebewesen (das, was man so intelligent nennt) wohl nur drei geben, die jetzt nicht »Waaas?« gefragt hätten. Clark erzählte mir, dass er seine hypnagogischen Bilder nunmehr kontrollieren könnte. »Also nichts mehr mit hingeben«, fragte ich nicht wenig bösartig zurück. Doch, antwortete er, ohne auch nur einen Moment aus der Ruhe bringen zu lassen, es sei jetzt aber eine kontrollierte Hingabe. Er könne jetzt ein Bild, das ihm besonders gefiele, festhalten, in Ruhe betrachten und dann fortspinnen, eintauchen in das Bild, daraus, wenn er wolle, eine Geschichte entstehen lassen, oder aber eine Farbschleife drehen, abtauchen in etwas, in dem er sich wiedererkannte, das ihm eine Art Wissen von sich selber gebe und mit Worten nicht auszudrücken sei. Es fehle nur der Ton zur endgültigen Vervollkommnung. »Der Ton?«, fragte ich zurück, meinen Ärger längst vergessen habend. Ja, der Ton. Seinen Bilder, die ihn so leicht machen würden, dass er sicher war dabei schweben, seinen Bildern fehle der Ton. Er wisse genau, dass sie eigentlich Ton hätten, aber er höre ihn nicht. Es sei wie ein Fernseher, den man stumm gestellt hat, weil das Telefon klingelt. Man sieht, dass es Ton geben muss, aber man kann ihn nicht hören. Aber er sei auch so zufrieden (man sah es ihm an!), und eines Tages würde er vielleicht auch den Ton hören. Und ging wieder fort, noch eine Weile glücklich sein.

Ja, damit sind wir eigentlich auch schon am Ende der Geschichte. Clark litt nicht unter dem Fehlen des Tones, er kümmerte sich in Wirklichkeit kaum darum. Er war viel zu beschäftigt mit dem Glücklichsein, abends nach der weiterhin miesen und stetig wechselnden Dreckarbeit. Er träumte wahrscheinlich so von dem Ton, wie ich von einem Lottogewinn träume und doch nie ein Los kaufe.

Ich jedoch kümmerte mich darum. Wenn man jemanden im Nebenzimmer wohnen hat, der nur ein Schrittchen von etwas entfernt ist, was wir alle als göttlich und also unerreichbar betrachten, dann kann man schon nervös werden. Ich wollte auf Teufel komm raus, dass Clark seinen Ton kriegt. Nun ist es nicht gerade so, dass man in den nächsten Buchladen geht und sagt: »Hallo, ich möchte gerne ein Buch über die Vertonung hypnagogischer Bilder kaufen.« Aber dann fand ich zufällig letzten Montag einen Artikel über die Erlebnisse vom Tode Wiedererweckter. Die üblichen Sachen, dachte ich, Tunnel mit hellem Licht am Ende und so. Trotzdem las ich den Artikel und dort bezeugte ein gewisser Franz K., dass er bei seinem Übergang in die andere Welt (aus der er dann ja zurückgeholt wurde) wunderbare Töne, unvergleichlich viel schöner als jedes irdische Konzert, gehört hätte. Ich nahm die Sache nicht sehr ernst und dachte mehr so an ein biblisch verdrehtes Hirn, legte Clark aber dennoch den Artikel zum Lesen hin. Na ja, das war’s dann.

Aber ein Zweifel ist mir noch geblieben: war das Lächeln auf seinem Gesicht ein eindeutiger Beweis dafür, dass er es geschafft hat?

Text + Fotos: Nil Thraby

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