ed 12/2008 : caiman.de

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brasilien: Die Welle, die aus dem Meer kam (Teil I)
Brasilien und der Bossa Nova
THOMAS MILZ
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


spanien: Málaga
Für immer und nie wieder (Romanauszug)
MARKUS FRITSCHE
[art. 2]
argentinien / kuba: Am Grab von Evita und auch von Che
ANDREAS DAUERER
[art. 3]
spanien: Der wundervolle Botanische Garten von La Orotava
BERTHOLD VOLBERG
[art. 4]
helden brasiliens: Gesehen mit anderen Augen (Teil II)
Wie man Fußballjournalist wird
THOMAS MILZ
[kol. 1]
pancho: Pfannkuchen mexikanisch zur Aggressionsbewältigung
DIRK KLAIBER
[kol. 2]
amor: Tangos
NORA VEDRA
[kol. 3]
lauschrausch: Ausnahmepianist trifft Kartoffelband
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Brasilien: Die Welle, die aus dem Meer kam (Teil I); (Teil II)
Brasilien und der Bossa Nova



Rio de Janeiro / Wave von A Três: [a-tres-wave.mp3]

Am Anfang war das Meer. Und die Sehnsucht.
Am Anfang war "Schluss mit Sehnsucht" – "Chega de saudade", eine Gemeinschaftskomposition des jungen Musikers Antonio Carlos "Tom" Jobim und dem Dichter Vinicius de Moraes. Am 10. Juli 1958 nahm es der aus Salvador da Bahia stammende João Gilberto im Odeon Studio in Rio de Janeiro auf, zwar nicht als erster, aber dafür am Nachhaltigsten.

Der Musiker Gilberto Gil, bis vor kurzem noch Brasiliens Kulturminister: Ich war vollkommen verrückt nach dieser Neuigkeit, nach dieser Poesie, die ja gleichzeitig etwas Klassisches hatte, und die über eigentlich gewöhnliche Dinge sprach. Die vom Alltag erzählte, aber mit einer derartigen Eleganz, einem neuen poetischen Ansatz.


Gilberto Gil


João Gilbertos synkopisches Gitarrenspiel war neu und löste eine Welle der Begeisterung aus. Heerscharen von jungen Leuten kauften sich eine Gitarre und begannen, sehnsüchtige Melodien vor sich hin zu summen. Der Musiker, Filmregisseur und Maler Sergio Ricardo war einer der ersten Musiker, der sich der Bossa Nova Bewegung anschloss:
João Gilberto besaß eine große musikalische Intuition. Die Akkorde, die er auf der Gitarre entdeckte, sind fantastisch. Und diese Art zu singen... er schmiss die Stimme nicht einfach nach vorne, er benutzte nicht ihr ganzes Volumen. Er sang wie mit einem Schalldämpfer. Das ist Joãos Charakteristik, die der Musik ihre große Leichtigkeit gibt. Und gleichzeitig Schönheit. Mit dieser Art zu singen war es möglich, in Nuancen der Musik vorzudringen, die den Liedern eine wunderschöne Melodie gaben.



Sergio Ricardo

Jobim, Moraes und João Gilberto – geboren war das magische Dreieck des Bossa Nova, oder, wie man in Brasilien sagte, die "heilige Dreifaltigkeit". Sie sollten in den nächsten Jahren den Ton angeben.

Chico Buarque, der neben Tom Jobim wohl einflussreichste brasilianische Komponist der letzten 40 Jahre: Die Zeit vor "Chega de Saudade" und die Zeit danach, das waren zwei unterschiedliche Welten. Ich sagte: Papa, gib mir etwas Geld, ich will die Platte von Vinicius und Tom kaufen. Damals wusste ich nicht, wer Tom Jobim war, und niemand kannte João Gilberto. Und Vinicius war auch nicht vielen geläufig. Das ganze war ja kein riesiger Verkaufserfolg, zumindest nicht am Anfang. Es war Musik, die in den Radios lief, Musik, die wir Jungs damals hörten.

Letztlich ist der Bossa Nova langsam gespielter Samba, aber die Art und Weise wie er gespielt wurde war neu: versetzt mit Anleihen aus dem Jazz und beeinflusst von anderen Musikrichtungen der Zeit.

Der brasilianische Historiker und Bossa Nova Biograph Ruy Castro: Man muss sich nur die Platten von João Gilberto anhören; er spielt stets Klassiker, brasilianische Sambaklassiker der 30er, 40er und 50er Jahre, die er in Bossa Nova verwandelt. Es kommt halt auf die Art und Weise an, wie man die Gitarre spielt. Man nimmt ein Lied aus vergangenen Zeiten und spielt es in der für João Gilbert typischen Art – und schon wird es zum Bossa Nova.



Ruy Castro

Bis Mitte der 40er Jahre wurde der Samba lediglich in den Vororten Rio de Janeiros gespielt. Erst als 1946 zahlreiche kleine Nachtclubs an den Stränden ihre Tore öffneten, hielt er Einzug in die Mittel- und Oberschichtviertel Copacabana, Ipanema und Leblon.

Hier war das Publikum kosmopolitischer als in den armen Vorstädten der damaligen Hauptstadt. Die wohlhabenden Bewohner hörten amerikanischen Jazz und französische Chansons und waren weniger an den "wilden Rhythmen" der Samba interessiert. Zudem waren die Nachtklubs derart winzig, dass oft nicht mehr als vier Musiker auf die winzigen Bühnen passten – Gitarre, Bass, Piano und Schlagzeug.

Die Atmosphäre der Klubs und die damals noch nicht ausgereifte Verstärkertechnik führten dazu, dass die Musik intimer wurde. Doch noch fehlte ein entscheidendes Moment, damit der Bossa Nova geboren werden konnte.

Es waren die Jugendlichen der an den Stränden der Südzone, Copacabana, Leblon und Ipanema, lebenden Oberschicht, die nachts verzaubert in den Clubs den neuen Klängen lauschten und diese tagsüber an den Stränden nachspielten. Hier wurde das große Thema des Bossa Nova geboren – das Meer!

Das Auf und Ab, das Geschwungene der Wellen spiegelte sich in João Gilbertos Gitarrenspiel wider, und man war sich einig: dies ist neu, dies ist ein neuer "Bossa" – der "Bossa Nova".



Sergio Ricardo
Sergio Ricardo: Der wichtigste Baustein des Bossa Nova ist João Gilberto. Tom Jobim war ein großer Erschaffer, ein Genie was die Erschaffung von immer neuen Schönheiten anging. Aber die Erfindung dieser Bewegung, die Erschaffung einer Ästhetik, wurde durch die Hand von João Gilberto geboren. Es war jener Gitarrenschlag, und nicht nur das, sondern die ganze Art seiner Musik, die Zartheit, das Timbre der Harmonie.

Diese Charakteristik des Bossa Nova hielt einige Jahre lang an und brachte Nachahmer hervor. Die Menschen folgten diesem Rhythmus, dieser Art, dieser Schönheit der Melodien und Harmonien. Und dazu kam der gute Geschmack bei den Texten. Mit dem Einzug des Poeten Vinicius de Moraes in die Texte des Bossa Nova bekamen die Lieder eine poetische Schönheit.

Und das hat die Arbeit von Tom Jobim maßgeblich charakterisiert, von Carlos Lyra, und anderen wie Baden Powell, eigentlich allen Partnern von Vinicius, die mit sehr schönen Melodien zu ihm kamen, und die dann einen Text erhielten, der voller Poesie war.

"Garota de Ipanema" (Garota de Ipanema von A Três: [a-tres-garota-de-ipanema.mp3]) ist eine weitere Gemeinschaftskomposition von Jobim und Moraes und heute, nach Yesterday von den Beatles, das meistgespielte Lied der Welt. Sein Text erzählt von der Grazie der Mädchen von Ipanema, die einem Gedicht gleich die Strandpromenade entlangflanieren und alle Welt bezaubern – besonders Vinicius de Moraes, damals berüchtigter Boheme mit einer ausgefallenen Schwäche für die knapp bekleideten Strandschönheiten Rio de Janeiros.

Hier finden wir es wieder, das zentrale Thema des Bossa Nova: die Suche und Sehnsucht nach der (form-)vollendeten Schönheit, nach der Perfektion der Ästhetik. "The girl from Ipanema" sollte zur globalen Hymne werden.

Weltweit setzte sich der Bossa ab 1962 durch, nachdem amerikanische Jazzmusiker wie Stan Getz ihn in ihr Repertoire aufnahmen. Ende 1962 machten sich auch Tom Jobim, João Gilberto und andere brasilianische Bossa Nova Musiker auf nach New York, um in der Carnegie Hall aufzutreten. Jobim und João Gilberto (wie auch Sergio Mendes) blieben nach dem Konzert in der Stadt und nahmen 1963 gemeinsam mit Stan Getz einem Meilenstein der Musikgeschichte auf: "Getz / Gilberto". Gilbertos damalige Frau Astrud sang darauf "Garota de Ipanema" auf Englisch und legte damit den Grundstein für ihre spätere Weltkarriere. Doch unvergesslich blieben auch Jobims Klavierspiel, Gilbertos Gesang kombiniert mit Stan Getz traumhaftem Saxofon.

Der Bossa Nova hatte seinen Höhepunkt erreicht. Was jetzt noch kommen sollte, war das langsame Ausrollen am Strand. Doch davon mehr in der nächsten Ausgabe des Caiman.



Interview mit Ruy Castro
Der Caiman traf den brasilianischen Historiker und Bossa Nova Biographen Ruy Castro in São Paulo:

Was ist eigentlich Bossa Nova?

Ruy Castro: Bossa Nova ist im Grunde Samba, mit verschiedenen Elementen all jener Populärmusik und klassischer Musik, die Musiker wie Tom Jobim, Nilton Mendonça und Carlos Lyra beeinflussten. Da gibt es Einflüsse der französischen impressionistischen Musik, des Bolero, aus Mexiko und Cuba, der französischen Populärmusik, des Jazz und der amerikanischen Populärmusik. Also eine Mischung aus allem, aber im Grunde ist es Samba.

Wie müssen wir uns denn das soziokulturelle Ambiente im Rio der 50er Jahre vorstellen?

Ruy Castro: Rio war damals Brasiliens Hauptstadt. Es war Brasiliens "most sophisticated city", das kulturelle Zentrum. Hier lebten die am besten informierten Menschen Brasiliens, denn sie reisten. Und es gab ein außergewöhnliches Nachtleben. Die Diplomaten aus allen Ländern der Welt kämpften darum, nach Rio versetzt zu werden; Botschafter liebten es, in Rio zu leben, aufgrund der Schönheit der Stadt und der kulturellen Feinheit, der "Sophistication" des diplomatischen Zirkels in jener Zeit. Das Nachtleben war sehr animiert, allein in Copacabana und Leme gab es um die 200 Nachtclubs. Dort spielten äußerst berühmte Musiker. Klar dass man als Vanguardist wohl nicht verstanden worden wäre, denn die Leute gingen schließlich in die Nachtclubs um sich zu vergnügen.



Rio de Janeiro, Lagune

In der selben Nacht konnte man von einem Nachtclub zum nächsten gehen und Leute spielen hören wie Antonio Carlos Jobim, João Gilberto, Milton Mendonça, Dolores Duran, Maysa – all die großen Namen, die später die Stars des Bossa Nova wurden, spielten hier zur selben Zeit in verschiedenen Clubs.

Sie sagen, dass letztlich jedes Lied ein Bossa Nova werden kann – es kommt halt auf die Spielweise an.

Ruy Castro: Diese Jungs wie João Gilberto, Donato, Johnny Alf und Gesangsgruppen wie "Garotos da Luz", "Os Cariocas" und andere, waren musikalisch gesehen im Jahr 1950, 1951 schon äußerst kultige Leute. Sie kannten die großen modernen Musiker der damaligen Szene. Diese Gruppe von jungen Leuten war äußerst gut informiert.

Rio de Janeiro war in jener Zeit musikalisch gesehen sehr verfeinert, in den Nachtclubs der Stadt konnte man in den 50er Jahren sämtliche Musikstile hören. Boleros aus Mexiko und Kuba, französische Chansons, portugiesische Fados, argentinische Tangos, Wiener Walzer, amerikanische Foxtrotts – jedwede Form von Musik. Beeindruckend wie verfeinert und kosmopolitisch die Musikszene damals war.

Der weltweite Siegeszug des Bossa Nova lief über die USA, genauer gesagt über New York. Warum dieser Umweg?

Ruy Castro: Das gleiche ist mit einer Musikgruppe passiert, die in Europa im Jahre 1963 auftauchte, die aber weltweit erst bekannt wurde, nachdem sie 1964 in New York aufgetreten ist: den Beatles. Man konnte sich halt nicht der Bedeutung der USA entziehen – man musste über diesen Markt gehen, um weltweit berühmt zu werden. Unglücklicherweise ist dies halt so.



Ruy Castro

Wie groß war denn der Einfluss des "Gringo" Stan Getz auf den Bossa Nova? War er wirklich so prägend?
Ruy Castro: Damals sagte man dies so. Und selbst João Gilberto und Tom Jobim waren damals dieser Meinung. Aber das behaupteten sie wohl eher um Stan Getz zu gefallen. Denn Stan Getz war in den 50er und 60er Jahren ja gar kein so populärer Musiker. Man kannte ihn, aber er war kein Großer der Jazzmusik. Niemals kam er an Dizzie Gillespie heran, und selbst Gerry war bekannter als Getz.

Aber es gab eine Identität zwischen der Art des Gesangs von João Gilberto und dem Saxofonspiel von Stan Getz. Er spielte sein Sax relaxter und etwas höhertonig, zarter. Allerdings war Stan Getz nicht der erste Saxofonist, der dies so gemacht hat.

Text + Fotos + Interview: Thomas Milz

mp3-Files: A Três, http://www.myspace.com/grupoatres

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[art_2] Spanien: Málaga (Romanauszug)
Für immer und nie wieder

Er fuhr auf der alten Küstenstraße nach Malaga, Fliehkräften folgend schoss sie an ihm vorbei, die Geschwindigkeit tat seinen Augen gut. Vor dem alten Fischerviertel, ein noch sehr ursprünglicher Vorort der Großstadt, lagen vier Tanker im ölverschmierten Wasser. Ihre Rümpfe glänzten stumpf in der tief stehenden Sonne, stumm und höhnisch widersprachen sie der Hoffnung, dass irgendwann einmal die Zeit stehen geblieben war. Ernst lächelte zartbitter und tauchte mehrspurig in die Häuserschluchten ein. Er hatte einmal ein halbes Jahr in dieser Stadt gelebt, eine Art von Aussteigertrotz trieb ihn damals unermüdlich voran. Ernst kannte sich in dem Gewirr von Haupt-, Quer-, Neben- und Verbindungsstraßen sofort wieder aus, ihm war, als ob Gott damals ein Foto von diesem asphaltierten Adergeflecht in seinem Gedächtnisarchiv hinterlegt hätte. Zielstrebig parkte er sein Auto in der Nähe der Einarmigen Kathedrale.

Ernst mochte diese Stadt, den Blick oben von der Burg hinunter in die Stierkampfarena auf die bunt leuchtenden, geschwenkten Tücher und die weitläufigen Hafenanlagen dahinter, an klaren Tagen bis zu den Felsen von Gibraltar reichend. Malaga war nicht klassisch schön wie Granada oder Cordoba, aber es hatte sich intensiver seine spanisch-afrikanischen Wurzeln bewahrt.

Touristenströme, die einfielen, blieben nicht lang und hinterließen nicht diese entfremdenden Narbengeschwüre in den einheimischen Gassen, eine Krankheit, an der zum Beispiel die gesamte Umgebung der Alhambra flächendeckend litt.


Die Malagueños schafften es auch an eiskalten Wintertagen, nachts um drei Uhr, die engen Gassen der Innenstadt mit leicht bekleidetem, aus unzähligen Bars quellendem Leben zu füllen, so dass ein Durchkommen fast unmöglich war. In diesem durcheinander wirbelnden, orgiastischen Puls gab es immer wieder kleine, unantastbare Oasen der Stille, die einen daran erinnerten, dass man vergessen hatte zu atmen.

Ernst wankte ergriffen durch die Gassen, die gemeinsam mit seinem Kopf glühten. Aus einer Flamenco-Schule klapperten stolz und messerscharf punktiert Kastagnetten, wie Peitschenhiebe fielen dazu schwer atmende Schritte auf schwingendes Holz, die klagenden Zwischenrufe der Tänzer schienen direkt aus dem Geschichtsbuch der einstigen Kolonialmacht zu stöhnen.

Ernst wurde schwindelig. Er lehnte sich gegen eine Straßenlaterne, die Gasse hinunter floss feuerrot das Abendlicht wie in einem Rinnstein ab. Er wäre jetzt gern ohnmächtig geworden, um wie in Zeitlupe in diesen göttlichen Feuerstrahl zu sinken und mit ihm, über Kaskaden hüpfend, hinunter ins Meer zu tanzen.

Er wusste nicht, wie lange er so gestanden hatte, vor seinem Kopf tat sich ein Schleiervorhang auf. Besorgte Kinder- und Greisenaugen trafen ihn öffentlich, eine schwere knorrige Männerhand lag auf seiner Schulter. Er drückte sie und lächelte ungefiltert.

Ernst schenkte den Kindern eine Handvoll Scheine, die er einem Geldautomaten entlockt hatte, und stürzte sich in einer Art Stechschritt verbissen in den Kauf von klassisch-altmodischen Unterhosen, schlicht-eleganten Schuhen und exklusiv schimmernden Oberhemden. Das schützte ihn nicht davor, dass er mehrmals nach dem Ankauf von Haschisch gefragt wurde, und er fand es auch nicht schützenswert. Im Gegensatz zum Straßenhandel in Deutschland mochte er die kühle Unaufdringlichkeit und stolze Gelassenheit der Händler. Es genügte ein klares, freundliches Nein, ohne danach stundenlang das Warum diskutieren zu müssen. Er setzte sich vor das Theater-Café und bestellte ein Bier.

In seinem halben Jahr Malaga hatte er oft vor diesem Café gesessen. Er mochte die vormittelalterliche Architektur, die vertrauensvoll das postmoderne Publikum umschloss. Sein oder Design war hier jedenfalls nicht die Frage. In den letzten Jahren hatte er das oft gemacht, über Monate hinweg raus aus dem Geburtsland, oft unter dem sehr hilfreichen Vorwand, brandaktuelle Reportagen vor Ort zu machen, meistens sogar erfolgreich. Griechenland, Türkei, Italien, Kuba und Schottland, neben oder mit den Einheimischen sitzend und glücklich starrend, in der Fortbewegung das stationäre Unterwegs, schmecken, riechen, fühlen, hören, ertasten und verstummen.

Dann immer wieder zurück nach Deutschland, die Rückflucht in die Realität, in möglichst immer kürzerer Zeit immer mehr Geld machen, um möglichst schnell wieder rauszukommen. Immer häufiger durchsuchten ihn immer unverschämtere Zollbeamte. Wohnen in Bruchbuden, Bauwagen oder im Schlafsack am Lagerfeuer, genährt mit dem stinkenden Holz von Mülldeponien und Treibgut von geteerten Stränden. Immer häufiger nur noch auf einen Sprung nach Deutschland kommend, wie um einen Pickel auszudrücken. So war er zum Gastarbeiter in seinem eigenen Land geworden. Er verbrachte seine freie Zeit hauptsächlich mit so genannten ausländischen Gastarbeitern, er lernte deren Sprache, sprach selbst fast kein Deutsch mehr. Sein Vater hielt ihn für asozial, er hielt sich für vogelfrei. Wüsten, innere und äußere, waren für ihn zu Grenzen geworden, die es nicht mehr geben durfte.

Sie waren nur noch da, um überflogen, überrannt oder unterkrochen zu werden. Ernst fühlte sich dabei immer mehr jünger als ein Kind. Im Grunde wurde er zunehmend vorgeburtlich.


Nach Malaga kam er damals eher kriechend. Er wohnte mit spanischen und deutschen Studenten in einer Wohngemeinschaft im Stadtzentrum zusammen. Er besuchte gewissenhaft lückenlos die Vorlesungen, um die Sprache schneller zu erlernen. Dabei hieß zu studieren zuallererst einmal zu leben. Fast jede Nacht zog sich trinkend, rauchend, schwatzend, feiernd, tanzend und geschlechtsverkehrend in den Morgen. Nur die Nachmittagsvorlesungen waren gut besucht.

Ernst lernte eine Modeverkäuferin aus Valencia kennen. Sie verliebten sich überströmend heftig ineinander, ihre Drogenabhängigkeit wurde unter dem Tisch gelassen, sozusagen überliebt, bis sie eines Tages von einem Drogenstadtbummel in Marokko nicht mehr zurückkam. Trotz verzweifelter, fast professioneller Recherchen hatte er nie wieder etwas von ihr gehört.

Das Theater-Café war damals ihre Stammkneipe gewesen, und irgendwie hatte Ernst jetzt gehofft, dass sie spätestens nach der zweiten Bierbestellung um die Ecke kommen würde, so selbstverständlich grüßte, als ob man sich erst am Morgen mit einem überhaupt nicht flüchtigen Kuss verabschiedet hätte.

In den Gassen dunkelte es bereits, oben am Himmel war es noch heller. Ernst bestellte ein weiteres Bier. Manchmal gefror ihm auch ohne Temperatursturz das Lächeln. Abendland. Um die Ecke, unten am Meer, würden jetzt die Fischkutter mit großen Netzen die Dünung hinter sich herschleppen und Möwen ihren Aufschrei in der vergoldeten Dämmerung festpicken. Ernst fühlte sich sprachlos stumm und blicklos blind. Stolze, aufrechte Frauen in fast indianischer Schönheit flanierten an seinem Gesichtsfeld vorbei. Und er?

Er hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als seinen Vater umzubringen. Er musste die Frauen sozusagen einfach passieren lassen, weil sein ehemals dann heftiger schlagendes Herz zu einem erschlagenen Mörderherz geworden war.

Text + Fotos: Markus Fritsche

Lesetipp:
Málaga ist ein Auszug aus: Markus Fritsche: Für immer und nie wieder
Schardt Verlag in Oldenburg, 1999, ISBN 3-933584-19-1

Markus Fritsche: Wenn Dali noch leben würde. Streifschüsse in Cadaqués
Schardt Verlag in Oldenburg, 2005, ISBN 3-89841-165-6

Bestellen könnt ihr beide Romane bei: Schardt Verlag in Oldenburg, Tel.: 0441-21779287,
E-Mail: schardtverlag@t-online.de, www.schardtverlag.de

oder direkt beim Autor:
Markus Fritsche, E-Mail: altmar.fritsche@t-online.de

[druckversion ed 12/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_3] Kuba / Argentinien: Am Grab von Evita und auch von Che

Nein, komisch ist das schon. Da geht man das ganze Jahr über nicht auf den Friedhof, aber kaum ist man in fremden Städten unterwegs, möchte man wissen, wie und wo die lokalen Größen des Landes ihre letzte Ruhe gefunden haben. Mittlerweile gehört ein Abstecher zu den Gräbern illustrer Töchter und Söhnen der jeweiligen Stadt gewissermaßen zum Pflichtprogramm.

María Eva Duarte de Perón, Buenos Aires, Argentinien, Cementerio de Recoleta
In ganz Buenos Aires hätte es keinen treffenderen letzten Ruheplatz für die Präsidentengattin Juan Peróns geben können: Sie liegt im Cementerio de Recoleta im gleichnamigen Viertel.

Dort konkurrieren höherpreisige Restaurants um die dólares der Touristen und besser Betuchte können hier vortrefflich Shoppen. In den unzähligen Cafés trifft man sich, nicht nur wenn man Geld hat, auf ein Eis oder eben einen Kaffee in der Sonne. Wer am Wochenende kommt, hat dann sogar die Gelegenheit auf dem Mercado de artesanías mehr oder weniger kitschige Mitbringsel für die Daheimgebliebenen zu erstehen.

Es trifft also alles zusammen, was vordergründig so gar nicht zusammen passen will: Schönheit und Reichtum auf der einen, Mittelschicht und ein bisschen Armut auf der anderen Seite, vereint in argentinischer Lebensfreude - und mittendrin liegt María Eva Duarte de Perón, kurz: Evita. Schön, stolz und vom Volk als eine der ihrigen verehrt, hat der Klang ihres Namens auch über die Jahre nichts von seiner Anziehungskraft verloren.

Ganz nüchtern betrachtet, ist der Recoleta-Friedhof nichts Besonderes. Ein Friedhof wie so viele im Konglomerat Buenos Aires. Mit hohen Mauern, imposanten Gräbern, kunstvoll verzierte Mausoleen, mal klassizistisch, mal barock und einem Hauch von vergangenen, weil goldenen, Zeiten. Tagein tagaus kommen Scharen von Touristen, Einheimischen und glühenden Verehrern an das Grab mit der Nummer 42 auf dem Friedhofsplan. Diesen erhält jeder, der noch nicht da war, an der Eingangspforte.

Außer Peróns Gattin liegen hier etwa auch der Nobelpreisträger Luis Federico Leloir, der Schriftsteller Adolfo Bioy Casares oder die Schauspielerin Zully Moreno. Doch diese Namen sind nur wenigen interessierten Friedhofsbesuchern bekannt. Die Meisten wollen nur ein kleines Stückchen vom Evita-Mythos abbekommen. Jene Frau, die mit 15 Jahren aus dem hohen Norden des Landes in die Hauptstadt kam, zunächst im Radio moderierte und sich eher erfolglos als Schauspielerin durchschlug. Als Präsidentengattin Peróns wurde sie jedoch unsterblich. Unermüdlich kämpfte sie für die politischen Interessen ihres Mannes, forderte aber auch die Armen auf, sich gegen die Reichen zur Wehr zu setzen, was selbstredend nicht von allen politischen Seiten geschätzt wurde. Schließlich erreichte sie, dass in Argentinien das Frauenwahlrecht durchgesetzt wurde. Gerade für ihre aufopfernde Haltung, um ihre Ziele zu erreichen, lieben sie die Argentinier noch immer.

Ein Jahr vor ihrem Tod gründete sie die Eva-Perón-Stifung, eine Wohltätigkeitseinrichtung, die es bis heute gibt. Das ganze Land betrauerte Evitas Tod - und das bis heute. Täglich kann man Besucher, vornehmlich ältere Frauen, an der Krypta aus schwarzem Marmor stehen und, den Tränen nahe, beten sehen.

Zwischendurch drängeln sich Bauarbeiter mit Schubkarren und Touristen knipsen schnell ihre Bilder von den Gedenktafeln am Familiengrab der Duartes. Erst wenn der Friedhof um kurz vor sechs am Abend seine Pforten schließt, hat Evita bis morgens um sieben tatsächlich ihre wohlverdiente Ruhe.

Ernesto Guevara de la Serna, Santa Clara, Cuba
Ach, wie wurde er von verschiedenen Seiten nicht alles benannt? Revolutionär, Guerillero, Volksheld, Märtyrer - Gerade posthum treffen auf Che Guevara all jene Begriffe voll ins Schwarze. Dem Argentinier, der maßgeblich an der kubanischen Revolution unter der Regie Fidel Castros beteiligt war, wurde stolze 30 Jahre nach seinem Tod noch eine ganz besondere Ehre zuteil: ein Begräbnis auf kubanischem Boden.

Nicht allerdings wie man zunächst annehmen könnte, in Havanna, sondern in Santa Clara, etwa 230 Kilometer von der kubanischen Hauptstadt entfernt.

Doch die Wahl ist keineswegs so beliebig wie sie dem unbedarften Reisenden auf den ersten Blick erscheinen mag. In dieser Stadt erzielte der Commandante Ende 1958 gegen die Batista-Armee seinen wohl wichtigsten Sieg und ebnete damit den Weg für den Erfolg der Revolution.

Dementsprechend sieht die letzte Ruhestätte "Ches" auch aus, die stark an alte Sowjetzeiten erinnert. Bereits Ende 1987 wurde etwas außerhalb des Stadtzentrums ein Denkmal zum 20. Todestag Guevaras errichtet. Nachdem schließlich 1997 seine sterblichen Überreste in Bolivien gefunden und ausgegraben worden waren, überführte man diese mit einem Staatsbegräbnis in das eigens daneben erbaute Mausoleum. Zusammen mit 16 weiteren Weggefährten ruht der Revolutionär jetzt dort unmittelbar hinter seinem eigenen, wenngleich etwas entstelltem, Konterfei in einer mächtigen Wand. Das Grab unterscheidet sich, wie es sich für einen ordentlichen Sozialisten gehört, nicht sonderlich von den übrigen. Lediglich die etwas hervorstehende Wand, eine Extrakerze und eine Handvoll Blumen deuten den ganz besonderen Stellenwert des kubanischen Idols an.

Tritt man anschließend aus der kühlen Grabkammer wieder auf den sonnigen Vorplatz, wird man von der dumpfen sozialistischen Architektur und der Hitze fast erdrückt. Über das weitläufige, betonierte Areal blickt ein bronzener "Che" von einem Sockel herab; darunter die unvermeidlichen Worte Hasta la victoria siempre - bis zum immerwährenden Sieg.

Wer des Spanischen mächtig ist, kann auf dem etwas abseits stehenden Marmorblock Guevaras letzten Brief an Fidel Castro lesen, ehe er sich nach Bolivien davon machte. Mehr über das bewegte Leben des wohl berühmtesten Argentiniers, der sogar Maradona in den Schatten stellt, erfährt man im an das Mausoleum angeschlossenen Museum.

Text: Andreas Dauerer
Fotos: Andreas Dauerer (Evita) + Felix Hinz (Che)

[druckversion ed 12/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien / kuba]





[art_4] Spanien: Der wundervolle Botanische Garten von Puerto de La Cruz, Teneriffa

Wer im Badeort Puerto de la Cruz auf Teneriffa ein paar Stunden abseits von Strandtrubel und Wellenreiten verbringen möchte und die üblichen Naturausflüge zum Teide-Nationalpark und zur Masca-Schlucht sowie die Kulturexkursion nach La Laguna schon abgehakt hat, der kann auch in Puerto etwas unternehmen, das mit Sand und Meer einmal gar nichts zu tun hat.

Gemeint ist der Besuch des Botanischen Gartens. Der "Botánico" von Puerto de la Cruz ist nach dem Garten in der Hauptstadt Madrid der zweitälteste von Spanien. Gegründet wurde er bereits 1788 auf Initiative des Bourbonen-Königs Karls III., der hier auf der Atlantikinsel auf der Höhe Südmarokkos exotische Pflanzen aus aller Welt in einer Art Übergangsstation an das Klima in Kastilien gewöhnen wollte. Deshalb beauftragte er Don Alonso de Nava, einen "Akklimatisierungsgarten" für Pflanzen anzulegen, die später in den Königsresidenzen Kastiliens gedeihen sollten. Der Plan funktionierte zwar nicht, weil viele importierte Tropenpflanzen im milden Klima der Kanaren noch prächtig gedeihen, aber in den langen, kontinentalen Wintern der kastilischen Hochebene nicht überleben konnten.

Frangipani [zoom]
Helikonie [zoom]

Dem königlichen Wunsch nach exotischen Pflanzen verdanken wir aber einen der interessantesten Botanischen Gärten, der weniger durch seine bescheidene Größe (ein Rechteck von zurzeit 20.000 Quadratmetern), sondern vielmehr durch dichten Bewuchs und eine Fülle wertvoller lebender Exponate aus dem faszinierenden Reich der (überwiegend tropischen) Flora.

Natürlich durfte in dieser exklusiven Sammlung nicht die Blütenpflanze mit dem betörendsten Duft fehlen: die aus Mexiko und Mittelamerika eingeführte Frangipani. Die schönen, weißen, rosa oder meist zartgelben Blüten, die auf den ersten Blick einer Vanilleblüte ähnlich sehen, verströmen vor allem nachts einen Duft, der sich mit der Intensität von Jasmin messen kann, dabei jedoch variantenreicher ist. Es überrascht also nicht, dass schon die Indios der Westindischen Inseln und Mittelamerikas Frangipani-Duftwasser benutzten und dass diese Blüten nach der Entdeckung Amerikas ein unverzichtbarer Bestandteil bei der Herstellung von "Eau de Parfume" in Europa wurden.

Strelitzie [zoom]
Calliandra [zoom]

Heute findet man zahlreiche Frangipani-Sträucher auf Teneriffa, ebenso wie eine andere botanische Exotin, die inzwischen zur Symbolpflanze der Kanaren geworden ist: die Strelitzie. Allerdings kommt diese auch Papageienblume genannte Schönheit, die trotz des lilienartigen Aussehens zur Gattung der Bananengewächse gehört, ebensowenig von den Kanarischen Inseln wie die Frangipani, sondern ursprünglich aus Südafrika.

Insgesamt stammen die meisten der hier im "Botánico" präsentierten Pflanzen – sofern es nicht endemische kanarische Arten sind wie die Königspalme – natürlich aus den ehemals spanischen Vizekönigreichen in Amerika. Dabei findet man Nutzpflanzen wie Baumtomate und Mango- , Papaya- sowie Avocadobäume (manche Touristen, die seit Jahren diese Früchte essen, sehen hier zum ersten Mal den ganzen Baum) neben Zierpflanzen (Helikonien, Calliandra, Trompetenbaum). Und zwischen allen Blüten und Blättern kann man plötzlich auch Vertreter der kanarischen Fauna entdecken: erst auf den zweiten Blick erkennt man die endemischen Eidechsen, die in großer Zahl durch diesen künstlichen Dschungel huschen.

Eidechse [zoom]
Bananengewächs [zoom]

Man kann diesen Park auch ohne botanischen Wissensdurst durchstreifen und einfach nur die Farbenpracht der Blüten, das Licht- und Schattenspiel auf dem Blattwerk und die tausend verschiedenen Farbstufungen der Grüntöne genießen. Besonders facettenreich sind die Fächerpalmen (verschiedene Arten von fast jedem Kontinent) und Bananengewächse vertreten.

Das Prunkstück des Botanischen Gartens von Puerto de la Cruz ist jedoch ein monumentaler Ficus macrophylla mit spektakulären Luftwurzeln und enormem Gesamtumfang. Er gehört vielleicht zu den "Gründerpflanzen" Ende des 18. Jahrhunderts und stammt von der einsamen Lord Howe Insel, einem Weltnaturerbe weit vor der Ostküste Australiens mit zahlreichen endemischen Arten.

Insgesamt wirkt dieser Garten trotz der oft dichten Bepflanzung wohl geordnet. Aber an einigen Stellen würde man sich für herausragende Exemplare etwas mehr an Information wünschen, wie z. B. (geschätztes) Alter, Höhe und Umfang des Stammes, Blütenphasen, Seltenheit des Vorkommens usw. Trotzdem ist er auf jeden Fall einen Besuch wert. Und wenn der "Botánico" den Besucher nur für die exotischen Pflanzenschönheiten der Insel sensibilisiert, die es an jeder Ecke zu entdecken gibt. Denn eigentlich ist ganz Teneriffa ein riesiger Botanischer Garten.

Ficus macrophylla [zoom]
Pflanzenpracht außerhalb des Botánico

Text + Fotos: Berthold Volberg



Öffnungszeiten: 9.00 – 18.00 (Oktober – März) bzw. 9.00 – 19.00 (April – September)
Eintritt: 3 Euro
Adresse: C. Retama 2, Puerto de la Cruz
Tel. ++34-922383572
E-mail: jao@icia.es

[druckversion ed 12/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[kol_1] Helden Brasiliens: Gesehen mit anderen Augen (Teil II)
Wie man Fußballjournalist wird

Als Kind hatte ich zwei Träume: ich wollte Auslandskorrespondent und Fußballreporter werden. Mit zehn Jahren kommentierte ich die aus deutscher Sicht überraschende WM 1982 in Spanien (Deutschland scheiterte erst im Finale mit 1:3 an Italien, inklusive eines Tores von Paolo Rossi; die Brasilianer erinnern sich bestimmt an ihn…). Seitenweise ließ ich mich in meinem kleinen Schulheft über das grandiose Spiel Brasilien gegen Italien aus, jenem 2:3 im Sarriá-Stadion, das mir seitdem auf wundersame Weise immer wieder aufs Neue begegnet. Neben die Spielberichte klebte ich Fotos, die ich aus der Tageszeitung ausgeschnitten hatte.



Mit Zico

Wie es mit Kindheitsträumen nun einmal so ist, nimmt man sie meist nicht ernst genug, versucht sich in anderen Dingen, nur um auf tausend Umwegen letztlich doch wieder bei ihnen anzukommen. Zumindest den Traum Auslandskorrespondent ging ich aktiv an, machte mich nach dem Studium nach São Paulo auf und versuchte einen Start als Freelancer.

Das Schicksal ereilte mich dort in Form eines Telefonats. Ein argentinischer Freund, der neben seiner Tätigkeit als Volleyballtrainer, Tangolehrer, Journalist und Buchautor (!) für das italienische Fernsehen Interviews mit südamerikanischen Fußballhelden filmte, bat mich um Hilfe. Er hatte ein Interview mit Diego Maradona ausgemacht. Das Honorar würde die TV-Anstalt übernehmen. Doch wenige Stunden später brach Maradona zusammen und schwebte tagelang zwischen Leben und Tod. Danach verlangte er das Doppelte. Jetzt war es an mir, das für das Interview fehlende Geld bei deutschen Sendern einzutreiben. Allerdings ohne Erfolg, da niemand "Herrn Maradonas Drogenkonsum" finanzieren wollte.

Was folgte, waren ein halbes Dutzend Interviews mit brasilianischen Fußballern, bei deren Organisation (von wirklicher Produktion konnte man in diesem rudimentären Stadium meiner Fähigkeiten wohl kaum sprechen) ich meinem argentinischen Freund zur Seite, oder wie er sagen würde, im Wege stand. (Er widmete mir anschließend eines seiner Bücher mit einem wenig schmeichelhaften "Für meinen lieben deutschen Produzenten. Als Dank für all seine Mühe, mein Leben unglücklich zu machen - Para meu caro produto alemão. Por todos seus esforços para fazer minha vida infeliz.".)



Mit Careca

Neben diesen unschätzbar wertvollen Einblicken in die Funktionsweise der argentinischen Seele brachten mir die Interviews mit Idolen wie Zico, Careca, Casagrande und Toninho Cerezo die alte Liebe zum Fußball zurück. Cerezos Schilderung seines unglücklichen Passes, der von Paolo Rossi abgefangen wurde und zum zweiten italienischen Tor führte, war einfach grandios ("Es war kein Fehlpass, sondern ein Pass in den freien Raum, den niemand außer Rossi annehmen wollte…"). Und von Sócrates und Casagrande über die Democracia Corintiana zu hören, katapultierte mich direkt hinein ins Brasilien der frühen 80er Jahre und der Diretas Já Bewegung.

Verwundert entdeckte ich, wie viele mythische Figuren der Fußballgeschichte an den Straßenecken São Paulos anzutreffen waren. Torhüter Félix aus der Wunder-Seleção von 1970 lief mir an der Rodoviária Tietê über den Weg. Und die Idee, einfach mal auf gut Glück zu versuchen, Rivelino zu finden, entsprang wohl der Langeweile meines argentinischen Freund inmitten meiner Geburtstagsfeier. Nach einer zweistündigen Kreuz-und-Quer-Taxifahrt durch São Paulo saßen wir schließlich in Rivelinos gerade eröffneter Sportbar im Süden São Paulos. Für das Taxi zurück hatten wir zwar kein Geld mehr, dafür aber Rivelinos Zusage für ein Interview. Zuhause angekommen, waren meine Geburtstagsgäste schon allesamt nach Hause gegangen.



Mit Casagrande

Schließlich begann ich für deutsche Zeitungen Sportartikel zu schreiben. Dabei musste ich schmerzlich feststellen, dass die großen internationalen Nachrichtenagenturen mittlerweile nicht bloße Ergebnismeldungen produzierten, sondern ausführliche Artikel über das Fußballgeschehen nahezu in Realtime in alle Welt lieferten. Gegen solch mächtige Konkurrenz anzuschreiben war eigentlich sinnlos. Die durch das Internet angetretene Globalisierung der Nachrichten ließ für einen Freelancer wie mich kaum Raum zur Publikation.

Glücklicherweise nahte die Fußball-WM 2006 in Deutschland und mit ihr wuchs der Hunger deutscher Zeitschriften nach detaillierten und ausgefallenen Geschichten über die Welt des runden Leders. In langen Artikeln konnte ich mich plötzlich über die historische Rivalität zwischen England und Argentinien auslassen, wurde Portraits des "magischen Quartetts" los und konnte die brasilianische Katastrophe von Sarriá noch einmal episch auferstehen lassen.



Mit Toninho

Nach der Weltmeisterschaft setzte dann wieder die altbekannte Flaute ein. Einen längeren Artikel über Romários verzweifelte Suche nach dem verflixten 1000 Tor konnte ich noch bei einer österreichischen Zeitung unterbringen. Ansonsten stand ich meist nur im passiven Abseits. Zumindest für das deutsche Radio, für das ich mittlerweile arbeitete, durfte ich an einigen Beiträgen rund um den brasilianischen Fußball mitwirken.

Aber zumindest das Rüstzeug für weitere Fernsehproduktionen außerhalb der Fußballwelt hatte ich erworben, und so nahm das Schicksal mal wieder eine unerwartete Wendung, weg vom runden Leder. Doch ganz losgelassen hat mich der Fußball noch nicht. Zurzeit quäle ich mich durch den Schreibprozess für ein Buch über Ronaldinho. Es soll über die Rückkehr des Futebol Arte Zeugnis ablegen, als dessen jüngsten Vertreter ich Ronaldinho ansehe (zumindest was die Saison 2005/2006 angeht…).



Mit Socrates

Der Ausgangspunkt ist wieder einmal die Sehnsucht nach der Magie der Seleção von 1982, die ich als Kind zu lieben gelernt habe. Genau wie so viele Brasilianer suche ich nach ihren Spuren in der Gegenwart, hoffe auf eine Wiedergeburt des schönen Spiels. Mein argentinischer Freund ist inzwischen Parlamentsabgeordneter in Argentinien. Ob dies sein Kindheitstraum war, weiß ich nicht. Aber das Schicksal schlägt halt manchmal komische Haken.

Text + Fotos: Thomas Milz

"Wie man Fußballjournalist wird" ist ein Textauszug (von Thomas Milz übersetzt aus dem Portugiesischen) aus dem Buch "O Brasil dos Correspondentes".

1977, São Paulo, in unruhigen Zeiten. Streiks erschüttern die Metropole, die Militärdiktatur ist besorgt. Ein Gewerkschaftsführer sorgt für Unruhe. Man werde ihn einschüchtern können, glauben die Militärs, und bald schon würde er von der Bühne verschwinden.

2006, São Paulo, in ruhigen Zeiten. Auf der Avenida Paulista jubelt der einstige Gewerkschaftsführer seinen Anhängern zu. Soeben ist Lula im Amt des Staatspräsidenten mit überwältigender Mehrheit bestätigt worden.

Viel ist in São Paulo und Brasilien geschehen in diesen 30 Jahren. Das Ende Herbst 2008 erschienene Buch "O Brasil dos correspondentes" erzählt die Geschichte dieser 30 Jahre aus der Sicht der in São Paulo arbeitenden Korrespondenten. Zugleich gibt es Auskunft darüber, wie sehr sich die Arbeit der Korrespondenten in diesen 30 Jahren verändert hat.

Das Buch erschien anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Gründung der Vereinigung der Auslandskorrespondenten São Paulos. Die erste Pressekonferenz hielt man damals übrigens mit eben jenem von den Militärs verfolgten Gewerkschaftsführer ab, der sich heute als Präsident weigert, vor die ausländische Presse zu treten.

O Brasil dos correspondentes
Herausgegeben von:
Jan Rocha, Thomas Milz und Verónica Goyzueta
Mit Fotografien von:
Paulo Fridman, Roberto Cattani und Thomas Milz

Verlag: Mérito Editora 2008
Preis 62 R$

In allen guten Buchhandlungen Brasiliens erhältlich!

[druckversion ed 12/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





[kol_2] Pancho: Pfannkuchen mexikanisch zur Aggressionsbewältigung

In die Schlange soll ich mich stellen. Niemals! Widersinnig aggressionssteigernde Strapaze. Freund, ich sitze, trinke, rauche! Wozu sonst der Sinn des Kaufmannsladens mit integrierter Bar, von Tisch 3 den Blick frei auf Kasse 5.

Lampista, Lampista (Elektriker), rufe ich ins Telefon, doch nach etlichen Freizeichen stirbt die Leitung. Wiederholung zwei Tage später und dann noch einmal am Freitag. Immerhin erreiche ich die Mailbox: Lampista, hier ist Don Röschen... Bis nächste Woche Freitag bin ich in Spanien. Bitte schau vorbei.

Dann ist Mittwoch. Noch keine Rückmeldung. Ich wähle erneut: Lampista? No. Kann ich mit dem Lampista sprechen? No. Wer ist denn da? Ein Kind. Und der Lampista? No.


Pfannkuchen mexikanisch mit Tunfisch, Chili, Koriander

Ich bin frustriert, meine Pläne zerschlagen, ein Freund verschwunden. Verschwunden ohne Abschiedsgruß? – Wahrscheinlich ist der Grund eher banal, denn wie einfach ist es, ein Handy zu verlustieren: Es fällt aus der Tasche und der Finder sagt Danke. Es landet im Bierglas, weil für dich der Tanz auf Klapptischgarnituren feiern bedeutet. Du fischt es vom Grund des Beckens, weil auf der Hochzeit deines Freundes spontan die Party in den Pool verlagert wird. Am Flughafen wird es konfisziert, weil Modell Landluft mit Korkenzieher dem Kapitän Angst einjagt. In der Bahn fliegt es aus dem Fenster, weil dein Klingelton geschmacklich extravagant. Oder du bist einfach immer unterwegs und läufst nach Jahr und Tag in den Hafen deiner Heimat ein. Und es ist Karneval, weil in deiner Heimat immer Karneval ist. Und erst mal außer Rand und Band gilt gleiches für dein Handy. – Alles schon erlebt.

Auf dem Bürgermeisteramt erfahre ich, dass mein Lampista unser Dorf verlassen hat. Unbekannt verzogen. Die Handynummer gewechselt. Mich als Heimatlosen sollte so ein Vorfall ungemein in Rage versetzen und die Aggression über den Verstand siegen, ausrasten, nur noch blinder Hass, Gewalt. Doch ich bin vorbereitet. Bevor ich unkontrolliert aufstampfe mit dem Fuß, greif ich hinters Ohr und ziehe Plan Hilfe hervor: Pfannekuchen mexikanisch. Allein der Gedanke beruhigt.

Tunfisch in Olivenöl, Chili, Jogurt, Hackfleisch und Avocada liegen auf dem Band von Kasse 5. Meine Hand wandert zum Halfter, nur zur Vergewisserung. Dann lege ich Geld auf den Tisch, ziehe ein letztes Mal an der Fortuna light, rücke die Short zurecht, schiebe die Sonnenbrille ins Haar.

Zu Hause angekommen, brat ich das Hackfleisch bis es fast schon trocken ist wie Straßenstaub im Spätsommer und hebe reichlich Frühlingszwiebeln unter. Schmecke dann ab mit Dijonsenf, Maggi und viel Salz. Für die Guacamol reicht der Saft einer halben Zitrone oder Limette, fein gehackte Zwiebel, Chili, Salz und Pfeffer. Den Tunfisch mit Jogurt, gewürfelter roter Zwiebel, Dijonsenf, Öl, Zitrone zu einer Paste verrühren – Schmand, Fischkäse kann alles dazu. Pfannekuchen präparieren, jeweils drei pro Teller: einer mit Hack, einer mit Guacamol und einer mit Tunfischpaste. Jeweils reichlich mit Koriander und gehackten frischen Chilischoten bereichern, zusammenrollen und servieren.



Pannkuchen mexikanisch mit Tunfisch, Chili, Koriander

Der Mann von Kasse 5, der sich während ich kochte auf der Terrasse mit Sonne vergnügt hat, dankt mit Appetit. Aggressionen nie gehabt und trotzdem im Griff. Der Tag klingt aus in innerer Ruhe: wenn du dir Plan Hilfe wieder hinters Ohr klemmst! Man kann nie wissen, du kleine tickende Zeitbombe.

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 12/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: pancho]





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[kol_4] Lauschrausch: Ausnahmepianist trifft Kartoffelband

Bruno Böhmer Camacho Trio
Herencías
Neuklang
Als Kauftipps zum Fest möchte ich zwei sehr gute CDs von in Köln beheimateten Bands vorstellen, die schon länger auf meinem Rezensionsstapel liegen.

Bruno Böhmer Camacho, Pianist kolumbianischer Herkunft, und seinem Jazz-Trio ist mit ihrem Debüt „Herencías“ ein großer Wurf gelungen. Spannungsgeladene Latin-Jazz-Titel wechseln sich mit einfühlsamen Balladen ab, einfallsreiche Jazz-Improvisationen mit träumerischen Melodien. Der Ausnahmepianist präsentiert neben Eigenkompositionen drei Stücke seines Großvaters, des bekannten Komponisten Angel Maria Camacho y Cano. Die beiden Vokaltitel werden dabei wunderbar von der vielbeschäftigten venezolanischen Sängerin Yma América Martínez interpretiert.

Bruno Böhmer Camacho Trio
Herencías
Neuklang

Bruno Böhmer

Duke Ellingtons "Caravan" scheint eine besondere Anziehungskraft auf Latin-Jazz-Musiker auszuüben, denn auch das Camacho-Trio interpretiert dieses Stück im perfekten Zusammenspiel. Bruno Böhmer Camacho, der im Alter von gerade mal neun Jahren die Band "Latin Sampling" leitete, die international für Aufsehen sorgte, hat mit seinen gerade mal 22 Jahren bereits eine beträchtliche Anzahl Preise eingeheimst. Ihm, seinen Begleitern Juan Camillo Villa und Rodriga Villalón, und ihrem virtuosen Spiel stehen nach "Herencías" (hoffentlich) alle musikalischen Türen offen.

La Papa Verde
Ich verstehen nicht kann
galileo mc
Party und Politik vereinen "La Papa Verde" auch auf ihrem zweiten Album "Ich verstehen nicht kann". Die Mestizomusik der internationalen "Kartoffelband" - die Mitglieder stammen u.a. aus Chile, Deutschland und Mexiko - verbindet südamerikanische Folklorestile (cueca, cumbia etc.) mit Rockgitarren, Rap-Gesang und Reggae-Beats sowie globalisierungs- und gesellschaftskritischen Texten. Wunderbar gelingt dies im Titelstück, in dem Sänger Fernando zwischen Deutsch und Spanisch hin und her wechselt und darüber singt, wie schwer es für Ausländer ist, Deutsch zu lernen: "singen está verboten... la de Ausländeramt hab' ich nie gemocht". Die Texte sind kritisch und giftig wie eine grüne Kartoffel, sagen sie. Und die Knolle ist (und das wissen die wenigsten) auch das stärkste Bindeglied zwischen Deutschland und Lateinamerika. Denn das als "urdeutsch" geltende Gewächs stammt aus den Anden.

La Papa Verde
Ich verstehen nicht kann
galileo mc

La Papa Verde

Bei "La Papa Verde" fühlt man sich oft wie auf einem lateinamerikanischen Volksfest mit rheinischem Einschlag, eine sehr gelungene Kombination, gut hörbar in "Endlose Straße", einem reggaelastigen Song zu einem Text der antifaschistischen Kölner Jugendgruppe "Edelweißpiraten". Ein Album zum Schunkeln, Feiern und Nachdenken!

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon

[druckversion ed 12/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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