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[art_1] Brasilien: Die Welle, die aus dem Meer kam (Teil I); (Teil II)
Brasilien und der Bossa Nova



Rio de Janeiro / Wave von A Três: [a-tres-wave.mp3]

Am Anfang war das Meer. Und die Sehnsucht.
Am Anfang war "Schluss mit Sehnsucht" – "Chega de saudade", eine Gemeinschaftskomposition des jungen Musikers Antonio Carlos "Tom" Jobim und dem Dichter Vinicius de Moraes. Am 10. Juli 1958 nahm es der aus Salvador da Bahia stammende João Gilberto im Odeon Studio in Rio de Janeiro auf, zwar nicht als erster, aber dafür am Nachhaltigsten.

Der Musiker Gilberto Gil, bis vor kurzem noch Brasiliens Kulturminister: Ich war vollkommen verrückt nach dieser Neuigkeit, nach dieser Poesie, die ja gleichzeitig etwas Klassisches hatte, und die über eigentlich gewöhnliche Dinge sprach. Die vom Alltag erzählte, aber mit einer derartigen Eleganz, einem neuen poetischen Ansatz.


Gilberto Gil


João Gilbertos synkopisches Gitarrenspiel war neu und löste eine Welle der Begeisterung aus. Heerscharen von jungen Leuten kauften sich eine Gitarre und begannen, sehnsüchtige Melodien vor sich hin zu summen. Der Musiker, Filmregisseur und Maler Sergio Ricardo war einer der ersten Musiker, der sich der Bossa Nova Bewegung anschloss:
João Gilberto besaß eine große musikalische Intuition. Die Akkorde, die er auf der Gitarre entdeckte, sind fantastisch. Und diese Art zu singen... er schmiss die Stimme nicht einfach nach vorne, er benutzte nicht ihr ganzes Volumen. Er sang wie mit einem Schalldämpfer. Das ist Joãos Charakteristik, die der Musik ihre große Leichtigkeit gibt. Und gleichzeitig Schönheit. Mit dieser Art zu singen war es möglich, in Nuancen der Musik vorzudringen, die den Liedern eine wunderschöne Melodie gaben.



Sergio Ricardo

Jobim, Moraes und João Gilberto – geboren war das magische Dreieck des Bossa Nova, oder, wie man in Brasilien sagte, die "heilige Dreifaltigkeit". Sie sollten in den nächsten Jahren den Ton angeben.

Chico Buarque, der neben Tom Jobim wohl einflussreichste brasilianische Komponist der letzten 40 Jahre: Die Zeit vor "Chega de Saudade" und die Zeit danach, das waren zwei unterschiedliche Welten. Ich sagte: Papa, gib mir etwas Geld, ich will die Platte von Vinicius und Tom kaufen. Damals wusste ich nicht, wer Tom Jobim war, und niemand kannte João Gilberto. Und Vinicius war auch nicht vielen geläufig. Das ganze war ja kein riesiger Verkaufserfolg, zumindest nicht am Anfang. Es war Musik, die in den Radios lief, Musik, die wir Jungs damals hörten.

Letztlich ist der Bossa Nova langsam gespielter Samba, aber die Art und Weise wie er gespielt wurde war neu: versetzt mit Anleihen aus dem Jazz und beeinflusst von anderen Musikrichtungen der Zeit.

Der brasilianische Historiker und Bossa Nova Biograph Ruy Castro: Man muss sich nur die Platten von João Gilberto anhören; er spielt stets Klassiker, brasilianische Sambaklassiker der 30er, 40er und 50er Jahre, die er in Bossa Nova verwandelt. Es kommt halt auf die Art und Weise an, wie man die Gitarre spielt. Man nimmt ein Lied aus vergangenen Zeiten und spielt es in der für João Gilbert typischen Art – und schon wird es zum Bossa Nova.



Ruy Castro

Bis Mitte der 40er Jahre wurde der Samba lediglich in den Vororten Rio de Janeiros gespielt. Erst als 1946 zahlreiche kleine Nachtclubs an den Stränden ihre Tore öffneten, hielt er Einzug in die Mittel- und Oberschichtviertel Copacabana, Ipanema und Leblon.

Hier war das Publikum kosmopolitischer als in den armen Vorstädten der damaligen Hauptstadt. Die wohlhabenden Bewohner hörten amerikanischen Jazz und französische Chansons und waren weniger an den "wilden Rhythmen" der Samba interessiert. Zudem waren die Nachtklubs derart winzig, dass oft nicht mehr als vier Musiker auf die winzigen Bühnen passten – Gitarre, Bass, Piano und Schlagzeug.

Die Atmosphäre der Klubs und die damals noch nicht ausgereifte Verstärkertechnik führten dazu, dass die Musik intimer wurde. Doch noch fehlte ein entscheidendes Moment, damit der Bossa Nova geboren werden konnte.

Es waren die Jugendlichen der an den Stränden der Südzone, Copacabana, Leblon und Ipanema, lebenden Oberschicht, die nachts verzaubert in den Clubs den neuen Klängen lauschten und diese tagsüber an den Stränden nachspielten. Hier wurde das große Thema des Bossa Nova geboren – das Meer!

Das Auf und Ab, das Geschwungene der Wellen spiegelte sich in João Gilbertos Gitarrenspiel wider, und man war sich einig: dies ist neu, dies ist ein neuer "Bossa" – der "Bossa Nova".



Sergio Ricardo
Sergio Ricardo: Der wichtigste Baustein des Bossa Nova ist João Gilberto. Tom Jobim war ein großer Erschaffer, ein Genie was die Erschaffung von immer neuen Schönheiten anging. Aber die Erfindung dieser Bewegung, die Erschaffung einer Ästhetik, wurde durch die Hand von João Gilberto geboren. Es war jener Gitarrenschlag, und nicht nur das, sondern die ganze Art seiner Musik, die Zartheit, das Timbre der Harmonie.

Diese Charakteristik des Bossa Nova hielt einige Jahre lang an und brachte Nachahmer hervor. Die Menschen folgten diesem Rhythmus, dieser Art, dieser Schönheit der Melodien und Harmonien. Und dazu kam der gute Geschmack bei den Texten. Mit dem Einzug des Poeten Vinicius de Moraes in die Texte des Bossa Nova bekamen die Lieder eine poetische Schönheit.

Und das hat die Arbeit von Tom Jobim maßgeblich charakterisiert, von Carlos Lyra, und anderen wie Baden Powell, eigentlich allen Partnern von Vinicius, die mit sehr schönen Melodien zu ihm kamen, und die dann einen Text erhielten, der voller Poesie war.

"Garota de Ipanema" (Garota de Ipanema von A Três: [a-tres-garota-de-ipanema.mp3]) ist eine weitere Gemeinschaftskomposition von Jobim und Moraes und heute, nach Yesterday von den Beatles, das meistgespielte Lied der Welt. Sein Text erzählt von der Grazie der Mädchen von Ipanema, die einem Gedicht gleich die Strandpromenade entlangflanieren und alle Welt bezaubern – besonders Vinicius de Moraes, damals berüchtigter Boheme mit einer ausgefallenen Schwäche für die knapp bekleideten Strandschönheiten Rio de Janeiros.

Hier finden wir es wieder, das zentrale Thema des Bossa Nova: die Suche und Sehnsucht nach der (form-)vollendeten Schönheit, nach der Perfektion der Ästhetik. "The girl from Ipanema" sollte zur globalen Hymne werden.

Weltweit setzte sich der Bossa ab 1962 durch, nachdem amerikanische Jazzmusiker wie Stan Getz ihn in ihr Repertoire aufnahmen. Ende 1962 machten sich auch Tom Jobim, João Gilberto und andere brasilianische Bossa Nova Musiker auf nach New York, um in der Carnegie Hall aufzutreten. Jobim und João Gilberto (wie auch Sergio Mendes) blieben nach dem Konzert in der Stadt und nahmen 1963 gemeinsam mit Stan Getz einem Meilenstein der Musikgeschichte auf: "Getz / Gilberto". Gilbertos damalige Frau Astrud sang darauf "Garota de Ipanema" auf Englisch und legte damit den Grundstein für ihre spätere Weltkarriere. Doch unvergesslich blieben auch Jobims Klavierspiel, Gilbertos Gesang kombiniert mit Stan Getz traumhaftem Saxofon.

Der Bossa Nova hatte seinen Höhepunkt erreicht. Was jetzt noch kommen sollte, war das langsame Ausrollen am Strand. Doch davon mehr in der nächsten Ausgabe des Caiman.



Interview mit Ruy Castro
Der Caiman traf den brasilianischen Historiker und Bossa Nova Biographen Ruy Castro in São Paulo:

Was ist eigentlich Bossa Nova?

Ruy Castro: Bossa Nova ist im Grunde Samba, mit verschiedenen Elementen all jener Populärmusik und klassischer Musik, die Musiker wie Tom Jobim, Nilton Mendonça und Carlos Lyra beeinflussten. Da gibt es Einflüsse der französischen impressionistischen Musik, des Bolero, aus Mexiko und Cuba, der französischen Populärmusik, des Jazz und der amerikanischen Populärmusik. Also eine Mischung aus allem, aber im Grunde ist es Samba.

Wie müssen wir uns denn das soziokulturelle Ambiente im Rio der 50er Jahre vorstellen?

Ruy Castro: Rio war damals Brasiliens Hauptstadt. Es war Brasiliens "most sophisticated city", das kulturelle Zentrum. Hier lebten die am besten informierten Menschen Brasiliens, denn sie reisten. Und es gab ein außergewöhnliches Nachtleben. Die Diplomaten aus allen Ländern der Welt kämpften darum, nach Rio versetzt zu werden; Botschafter liebten es, in Rio zu leben, aufgrund der Schönheit der Stadt und der kulturellen Feinheit, der "Sophistication" des diplomatischen Zirkels in jener Zeit. Das Nachtleben war sehr animiert, allein in Copacabana und Leme gab es um die 200 Nachtclubs. Dort spielten äußerst berühmte Musiker. Klar dass man als Vanguardist wohl nicht verstanden worden wäre, denn die Leute gingen schließlich in die Nachtclubs um sich zu vergnügen.



Rio de Janeiro, Lagune

In der selben Nacht konnte man von einem Nachtclub zum nächsten gehen und Leute spielen hören wie Antonio Carlos Jobim, João Gilberto, Milton Mendonça, Dolores Duran, Maysa – all die großen Namen, die später die Stars des Bossa Nova wurden, spielten hier zur selben Zeit in verschiedenen Clubs.

Sie sagen, dass letztlich jedes Lied ein Bossa Nova werden kann – es kommt halt auf die Spielweise an.

Ruy Castro: Diese Jungs wie João Gilberto, Donato, Johnny Alf und Gesangsgruppen wie "Garotos da Luz", "Os Cariocas" und andere, waren musikalisch gesehen im Jahr 1950, 1951 schon äußerst kultige Leute. Sie kannten die großen modernen Musiker der damaligen Szene. Diese Gruppe von jungen Leuten war äußerst gut informiert.

Rio de Janeiro war in jener Zeit musikalisch gesehen sehr verfeinert, in den Nachtclubs der Stadt konnte man in den 50er Jahren sämtliche Musikstile hören. Boleros aus Mexiko und Kuba, französische Chansons, portugiesische Fados, argentinische Tangos, Wiener Walzer, amerikanische Foxtrotts – jedwede Form von Musik. Beeindruckend wie verfeinert und kosmopolitisch die Musikszene damals war.

Der weltweite Siegeszug des Bossa Nova lief über die USA, genauer gesagt über New York. Warum dieser Umweg?

Ruy Castro: Das gleiche ist mit einer Musikgruppe passiert, die in Europa im Jahre 1963 auftauchte, die aber weltweit erst bekannt wurde, nachdem sie 1964 in New York aufgetreten ist: den Beatles. Man konnte sich halt nicht der Bedeutung der USA entziehen – man musste über diesen Markt gehen, um weltweit berühmt zu werden. Unglücklicherweise ist dies halt so.



Ruy Castro

Wie groß war denn der Einfluss des "Gringo" Stan Getz auf den Bossa Nova? War er wirklich so prägend?
Ruy Castro: Damals sagte man dies so. Und selbst João Gilberto und Tom Jobim waren damals dieser Meinung. Aber das behaupteten sie wohl eher um Stan Getz zu gefallen. Denn Stan Getz war in den 50er und 60er Jahren ja gar kein so populärer Musiker. Man kannte ihn, aber er war kein Großer der Jazzmusik. Niemals kam er an Dizzie Gillespie heran, und selbst Gerry war bekannter als Getz.

Aber es gab eine Identität zwischen der Art des Gesangs von João Gilberto und dem Saxofonspiel von Stan Getz. Er spielte sein Sax relaxter und etwas höhertonig, zarter. Allerdings war Stan Getz nicht der erste Saxofonist, der dies so gemacht hat.

Text + Fotos + Interview: Thomas Milz

mp3-Files: A Três, http://www.myspace.com/grupoatres

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