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[art_2] Spanien: Málaga (Romanauszug)
Für immer und nie wieder

Er fuhr auf der alten Küstenstraße nach Malaga, Fliehkräften folgend schoss sie an ihm vorbei, die Geschwindigkeit tat seinen Augen gut. Vor dem alten Fischerviertel, ein noch sehr ursprünglicher Vorort der Großstadt, lagen vier Tanker im ölverschmierten Wasser. Ihre Rümpfe glänzten stumpf in der tief stehenden Sonne, stumm und höhnisch widersprachen sie der Hoffnung, dass irgendwann einmal die Zeit stehen geblieben war. Ernst lächelte zartbitter und tauchte mehrspurig in die Häuserschluchten ein. Er hatte einmal ein halbes Jahr in dieser Stadt gelebt, eine Art von Aussteigertrotz trieb ihn damals unermüdlich voran. Ernst kannte sich in dem Gewirr von Haupt-, Quer-, Neben- und Verbindungsstraßen sofort wieder aus, ihm war, als ob Gott damals ein Foto von diesem asphaltierten Adergeflecht in seinem Gedächtnisarchiv hinterlegt hätte. Zielstrebig parkte er sein Auto in der Nähe der Einarmigen Kathedrale.

Ernst mochte diese Stadt, den Blick oben von der Burg hinunter in die Stierkampfarena auf die bunt leuchtenden, geschwenkten Tücher und die weitläufigen Hafenanlagen dahinter, an klaren Tagen bis zu den Felsen von Gibraltar reichend. Malaga war nicht klassisch schön wie Granada oder Cordoba, aber es hatte sich intensiver seine spanisch-afrikanischen Wurzeln bewahrt.

Touristenströme, die einfielen, blieben nicht lang und hinterließen nicht diese entfremdenden Narbengeschwüre in den einheimischen Gassen, eine Krankheit, an der zum Beispiel die gesamte Umgebung der Alhambra flächendeckend litt.


Die Malagueños schafften es auch an eiskalten Wintertagen, nachts um drei Uhr, die engen Gassen der Innenstadt mit leicht bekleidetem, aus unzähligen Bars quellendem Leben zu füllen, so dass ein Durchkommen fast unmöglich war. In diesem durcheinander wirbelnden, orgiastischen Puls gab es immer wieder kleine, unantastbare Oasen der Stille, die einen daran erinnerten, dass man vergessen hatte zu atmen.

Ernst wankte ergriffen durch die Gassen, die gemeinsam mit seinem Kopf glühten. Aus einer Flamenco-Schule klapperten stolz und messerscharf punktiert Kastagnetten, wie Peitschenhiebe fielen dazu schwer atmende Schritte auf schwingendes Holz, die klagenden Zwischenrufe der Tänzer schienen direkt aus dem Geschichtsbuch der einstigen Kolonialmacht zu stöhnen.

Ernst wurde schwindelig. Er lehnte sich gegen eine Straßenlaterne, die Gasse hinunter floss feuerrot das Abendlicht wie in einem Rinnstein ab. Er wäre jetzt gern ohnmächtig geworden, um wie in Zeitlupe in diesen göttlichen Feuerstrahl zu sinken und mit ihm, über Kaskaden hüpfend, hinunter ins Meer zu tanzen.

Er wusste nicht, wie lange er so gestanden hatte, vor seinem Kopf tat sich ein Schleiervorhang auf. Besorgte Kinder- und Greisenaugen trafen ihn öffentlich, eine schwere knorrige Männerhand lag auf seiner Schulter. Er drückte sie und lächelte ungefiltert.

Ernst schenkte den Kindern eine Handvoll Scheine, die er einem Geldautomaten entlockt hatte, und stürzte sich in einer Art Stechschritt verbissen in den Kauf von klassisch-altmodischen Unterhosen, schlicht-eleganten Schuhen und exklusiv schimmernden Oberhemden. Das schützte ihn nicht davor, dass er mehrmals nach dem Ankauf von Haschisch gefragt wurde, und er fand es auch nicht schützenswert. Im Gegensatz zum Straßenhandel in Deutschland mochte er die kühle Unaufdringlichkeit und stolze Gelassenheit der Händler. Es genügte ein klares, freundliches Nein, ohne danach stundenlang das Warum diskutieren zu müssen. Er setzte sich vor das Theater-Café und bestellte ein Bier.

In seinem halben Jahr Malaga hatte er oft vor diesem Café gesessen. Er mochte die vormittelalterliche Architektur, die vertrauensvoll das postmoderne Publikum umschloss. Sein oder Design war hier jedenfalls nicht die Frage. In den letzten Jahren hatte er das oft gemacht, über Monate hinweg raus aus dem Geburtsland, oft unter dem sehr hilfreichen Vorwand, brandaktuelle Reportagen vor Ort zu machen, meistens sogar erfolgreich. Griechenland, Türkei, Italien, Kuba und Schottland, neben oder mit den Einheimischen sitzend und glücklich starrend, in der Fortbewegung das stationäre Unterwegs, schmecken, riechen, fühlen, hören, ertasten und verstummen.

Dann immer wieder zurück nach Deutschland, die Rückflucht in die Realität, in möglichst immer kürzerer Zeit immer mehr Geld machen, um möglichst schnell wieder rauszukommen. Immer häufiger durchsuchten ihn immer unverschämtere Zollbeamte. Wohnen in Bruchbuden, Bauwagen oder im Schlafsack am Lagerfeuer, genährt mit dem stinkenden Holz von Mülldeponien und Treibgut von geteerten Stränden. Immer häufiger nur noch auf einen Sprung nach Deutschland kommend, wie um einen Pickel auszudrücken. So war er zum Gastarbeiter in seinem eigenen Land geworden. Er verbrachte seine freie Zeit hauptsächlich mit so genannten ausländischen Gastarbeitern, er lernte deren Sprache, sprach selbst fast kein Deutsch mehr. Sein Vater hielt ihn für asozial, er hielt sich für vogelfrei. Wüsten, innere und äußere, waren für ihn zu Grenzen geworden, die es nicht mehr geben durfte.

Sie waren nur noch da, um überflogen, überrannt oder unterkrochen zu werden. Ernst fühlte sich dabei immer mehr jünger als ein Kind. Im Grunde wurde er zunehmend vorgeburtlich.


Nach Malaga kam er damals eher kriechend. Er wohnte mit spanischen und deutschen Studenten in einer Wohngemeinschaft im Stadtzentrum zusammen. Er besuchte gewissenhaft lückenlos die Vorlesungen, um die Sprache schneller zu erlernen. Dabei hieß zu studieren zuallererst einmal zu leben. Fast jede Nacht zog sich trinkend, rauchend, schwatzend, feiernd, tanzend und geschlechtsverkehrend in den Morgen. Nur die Nachmittagsvorlesungen waren gut besucht.

Ernst lernte eine Modeverkäuferin aus Valencia kennen. Sie verliebten sich überströmend heftig ineinander, ihre Drogenabhängigkeit wurde unter dem Tisch gelassen, sozusagen überliebt, bis sie eines Tages von einem Drogenstadtbummel in Marokko nicht mehr zurückkam. Trotz verzweifelter, fast professioneller Recherchen hatte er nie wieder etwas von ihr gehört.

Das Theater-Café war damals ihre Stammkneipe gewesen, und irgendwie hatte Ernst jetzt gehofft, dass sie spätestens nach der zweiten Bierbestellung um die Ecke kommen würde, so selbstverständlich grüßte, als ob man sich erst am Morgen mit einem überhaupt nicht flüchtigen Kuss verabschiedet hätte.

In den Gassen dunkelte es bereits, oben am Himmel war es noch heller. Ernst bestellte ein weiteres Bier. Manchmal gefror ihm auch ohne Temperatursturz das Lächeln. Abendland. Um die Ecke, unten am Meer, würden jetzt die Fischkutter mit großen Netzen die Dünung hinter sich herschleppen und Möwen ihren Aufschrei in der vergoldeten Dämmerung festpicken. Ernst fühlte sich sprachlos stumm und blicklos blind. Stolze, aufrechte Frauen in fast indianischer Schönheit flanierten an seinem Gesichtsfeld vorbei. Und er?

Er hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als seinen Vater umzubringen. Er musste die Frauen sozusagen einfach passieren lassen, weil sein ehemals dann heftiger schlagendes Herz zu einem erschlagenen Mörderherz geworden war.

Text + Fotos: Markus Fritsche

Lesetipp:
Málaga ist ein Auszug aus: Markus Fritsche: Für immer und nie wieder
Schardt Verlag in Oldenburg, 1999, ISBN 3-933584-19-1

Markus Fritsche: Wenn Dali noch leben würde. Streifschüsse in Cadaqués
Schardt Verlag in Oldenburg, 2005, ISBN 3-89841-165-6

Bestellen könnt ihr beide Romane bei: Schardt Verlag in Oldenburg, Tel.: 0441-21779287,
E-Mail: schardtverlag@t-online.de, www.schardtverlag.de

oder direkt beim Autor:
Markus Fritsche, E-Mail: altmar.fritsche@t-online.de

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