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[kol_1] Helden Brasiliens: Gesehen mit anderen Augen (Teil II)
Wie man Fußballjournalist wird

Als Kind hatte ich zwei Träume: ich wollte Auslandskorrespondent und Fußballreporter werden. Mit zehn Jahren kommentierte ich die aus deutscher Sicht überraschende WM 1982 in Spanien (Deutschland scheiterte erst im Finale mit 1:3 an Italien, inklusive eines Tores von Paolo Rossi; die Brasilianer erinnern sich bestimmt an ihn…). Seitenweise ließ ich mich in meinem kleinen Schulheft über das grandiose Spiel Brasilien gegen Italien aus, jenem 2:3 im Sarriá-Stadion, das mir seitdem auf wundersame Weise immer wieder aufs Neue begegnet. Neben die Spielberichte klebte ich Fotos, die ich aus der Tageszeitung ausgeschnitten hatte.



Mit Zico

Wie es mit Kindheitsträumen nun einmal so ist, nimmt man sie meist nicht ernst genug, versucht sich in anderen Dingen, nur um auf tausend Umwegen letztlich doch wieder bei ihnen anzukommen. Zumindest den Traum Auslandskorrespondent ging ich aktiv an, machte mich nach dem Studium nach São Paulo auf und versuchte einen Start als Freelancer.

Das Schicksal ereilte mich dort in Form eines Telefonats. Ein argentinischer Freund, der neben seiner Tätigkeit als Volleyballtrainer, Tangolehrer, Journalist und Buchautor (!) für das italienische Fernsehen Interviews mit südamerikanischen Fußballhelden filmte, bat mich um Hilfe. Er hatte ein Interview mit Diego Maradona ausgemacht. Das Honorar würde die TV-Anstalt übernehmen. Doch wenige Stunden später brach Maradona zusammen und schwebte tagelang zwischen Leben und Tod. Danach verlangte er das Doppelte. Jetzt war es an mir, das für das Interview fehlende Geld bei deutschen Sendern einzutreiben. Allerdings ohne Erfolg, da niemand "Herrn Maradonas Drogenkonsum" finanzieren wollte.

Was folgte, waren ein halbes Dutzend Interviews mit brasilianischen Fußballern, bei deren Organisation (von wirklicher Produktion konnte man in diesem rudimentären Stadium meiner Fähigkeiten wohl kaum sprechen) ich meinem argentinischen Freund zur Seite, oder wie er sagen würde, im Wege stand. (Er widmete mir anschließend eines seiner Bücher mit einem wenig schmeichelhaften "Für meinen lieben deutschen Produzenten. Als Dank für all seine Mühe, mein Leben unglücklich zu machen - Para meu caro produto alemão. Por todos seus esforços para fazer minha vida infeliz.".)



Mit Careca

Neben diesen unschätzbar wertvollen Einblicken in die Funktionsweise der argentinischen Seele brachten mir die Interviews mit Idolen wie Zico, Careca, Casagrande und Toninho Cerezo die alte Liebe zum Fußball zurück. Cerezos Schilderung seines unglücklichen Passes, der von Paolo Rossi abgefangen wurde und zum zweiten italienischen Tor führte, war einfach grandios ("Es war kein Fehlpass, sondern ein Pass in den freien Raum, den niemand außer Rossi annehmen wollte…"). Und von Sócrates und Casagrande über die Democracia Corintiana zu hören, katapultierte mich direkt hinein ins Brasilien der frühen 80er Jahre und der Diretas Já Bewegung.

Verwundert entdeckte ich, wie viele mythische Figuren der Fußballgeschichte an den Straßenecken São Paulos anzutreffen waren. Torhüter Félix aus der Wunder-Seleção von 1970 lief mir an der Rodoviária Tietê über den Weg. Und die Idee, einfach mal auf gut Glück zu versuchen, Rivelino zu finden, entsprang wohl der Langeweile meines argentinischen Freund inmitten meiner Geburtstagsfeier. Nach einer zweistündigen Kreuz-und-Quer-Taxifahrt durch São Paulo saßen wir schließlich in Rivelinos gerade eröffneter Sportbar im Süden São Paulos. Für das Taxi zurück hatten wir zwar kein Geld mehr, dafür aber Rivelinos Zusage für ein Interview. Zuhause angekommen, waren meine Geburtstagsgäste schon allesamt nach Hause gegangen.



Mit Casagrande

Schließlich begann ich für deutsche Zeitungen Sportartikel zu schreiben. Dabei musste ich schmerzlich feststellen, dass die großen internationalen Nachrichtenagenturen mittlerweile nicht bloße Ergebnismeldungen produzierten, sondern ausführliche Artikel über das Fußballgeschehen nahezu in Realtime in alle Welt lieferten. Gegen solch mächtige Konkurrenz anzuschreiben war eigentlich sinnlos. Die durch das Internet angetretene Globalisierung der Nachrichten ließ für einen Freelancer wie mich kaum Raum zur Publikation.

Glücklicherweise nahte die Fußball-WM 2006 in Deutschland und mit ihr wuchs der Hunger deutscher Zeitschriften nach detaillierten und ausgefallenen Geschichten über die Welt des runden Leders. In langen Artikeln konnte ich mich plötzlich über die historische Rivalität zwischen England und Argentinien auslassen, wurde Portraits des "magischen Quartetts" los und konnte die brasilianische Katastrophe von Sarriá noch einmal episch auferstehen lassen.



Mit Toninho

Nach der Weltmeisterschaft setzte dann wieder die altbekannte Flaute ein. Einen längeren Artikel über Romários verzweifelte Suche nach dem verflixten 1000 Tor konnte ich noch bei einer österreichischen Zeitung unterbringen. Ansonsten stand ich meist nur im passiven Abseits. Zumindest für das deutsche Radio, für das ich mittlerweile arbeitete, durfte ich an einigen Beiträgen rund um den brasilianischen Fußball mitwirken.

Aber zumindest das Rüstzeug für weitere Fernsehproduktionen außerhalb der Fußballwelt hatte ich erworben, und so nahm das Schicksal mal wieder eine unerwartete Wendung, weg vom runden Leder. Doch ganz losgelassen hat mich der Fußball noch nicht. Zurzeit quäle ich mich durch den Schreibprozess für ein Buch über Ronaldinho. Es soll über die Rückkehr des Futebol Arte Zeugnis ablegen, als dessen jüngsten Vertreter ich Ronaldinho ansehe (zumindest was die Saison 2005/2006 angeht…).



Mit Socrates

Der Ausgangspunkt ist wieder einmal die Sehnsucht nach der Magie der Seleção von 1982, die ich als Kind zu lieben gelernt habe. Genau wie so viele Brasilianer suche ich nach ihren Spuren in der Gegenwart, hoffe auf eine Wiedergeburt des schönen Spiels. Mein argentinischer Freund ist inzwischen Parlamentsabgeordneter in Argentinien. Ob dies sein Kindheitstraum war, weiß ich nicht. Aber das Schicksal schlägt halt manchmal komische Haken.

Text + Fotos: Thomas Milz

"Wie man Fußballjournalist wird" ist ein Textauszug (von Thomas Milz übersetzt aus dem Portugiesischen) aus dem Buch "O Brasil dos Correspondentes".

1977, São Paulo, in unruhigen Zeiten. Streiks erschüttern die Metropole, die Militärdiktatur ist besorgt. Ein Gewerkschaftsführer sorgt für Unruhe. Man werde ihn einschüchtern können, glauben die Militärs, und bald schon würde er von der Bühne verschwinden.

2006, São Paulo, in ruhigen Zeiten. Auf der Avenida Paulista jubelt der einstige Gewerkschaftsführer seinen Anhängern zu. Soeben ist Lula im Amt des Staatspräsidenten mit überwältigender Mehrheit bestätigt worden.

Viel ist in São Paulo und Brasilien geschehen in diesen 30 Jahren. Das Ende Herbst 2008 erschienene Buch "O Brasil dos correspondentes" erzählt die Geschichte dieser 30 Jahre aus der Sicht der in São Paulo arbeitenden Korrespondenten. Zugleich gibt es Auskunft darüber, wie sehr sich die Arbeit der Korrespondenten in diesen 30 Jahren verändert hat.

Das Buch erschien anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Gründung der Vereinigung der Auslandskorrespondenten São Paulos. Die erste Pressekonferenz hielt man damals übrigens mit eben jenem von den Militärs verfolgten Gewerkschaftsführer ab, der sich heute als Präsident weigert, vor die ausländische Presse zu treten.

O Brasil dos correspondentes
Herausgegeben von:
Jan Rocha, Thomas Milz und Verónica Goyzueta
Mit Fotografien von:
Paulo Fridman, Roberto Cattani und Thomas Milz

Verlag: Mérito Editora 2008
Preis 62 R$

In allen guten Buchhandlungen Brasiliens erhältlich!

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