ed 07/2012 : caiman.de

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spanien: Gran Canaria, Agüimes und die Schlucht von Guadayeque
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Caetano Veloso zum 70.
Teil 3: Ergrautes Chamäleon, ewig junger Romantiker
THOMAS MILZ
[art. 2]
bolivien: Wassermangel im Andenstaat
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 3]
argentinien: Perspektivwechsel - Oder: Visita argentina
Auszug aus dem Reisetagebuch eines argentinischen Musikers
ANDREAS DAUERER
[art. 4]
macht laune: Jazz im Trialog
Im Interview mit Trio Corrente
TORSTEN EßER
[kol. 1]
amor: Wortspiele und Lebensweisheiten (Teil 7)
CAMILA UZQUIANO
[kol. 2]
grenzfall: Wine Palace pfui und hui
DIRK KLAIBER
[kol. 3]
lauschrausch: Latino-Retrosound
Sergio Mendoza y La Orkesta und Chicha Libre
TORSTEN EßER
[kol. 4]



[art_1] Spanien: Gran Canaria, Agüimes und die Schlucht von Guadayeque
 
Am 10. Oktober 2011 stehe ich ziemlich abgekämpft auf dem Gipfel des Roque Nublo auf Gran Canaria (siehe Caiman-Ausgabe 01/2012), als plötzlich mein Mobiltelefon klingelt. Es ist eine französische Freundin, die im Opern-Orchester von Sevilla geigt und mit diesem für ein Konzertfestival in die Inselhauptstadt Las Palmas gekommen ist. Wir beschließen, uns unbedingt zu treffen. Antoinette schlägt dafür übermorgen vor, den Feiertag des 12. Oktober (Tag der Entdeckung Amerikas), weil sie dann tagsüber frei hat. Da sie in Las Palmas, im äußersten Norden der Insel und ich an der Südspitze in Maspalomas wohne, einigen wir uns auf einen Treffpunkt auf halber Strecke. Antoinette hat gelesen, dass Agüimes ein schöner Ort sein soll und man von dort eine interessante Wanderung durch die Schlucht von Guadayeque unternehmen kann.

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Und so treffen wir uns, nach ein paar Koordinierungsproblemen (ich war noch nicht ganz wach und eine Haltestelle zu früh ausgestiegen), am folgenden Tag in Agüimes um 11 Uhr vor der Dorfkirche. Die Kirche San Sebastián ist ein klassizistischer Tempel, erbaut zwischen 1787 und 1837 an Stelle eines älteren und kleineren Gotteshauses. Imposant für eine Dorfkirche, beeindruckt sie mit einer monumentalen Doppelturm-Fassade und Kuppel. Das Innere ist dreischiffig. Während der Hauptaltar modern und eher kitschig zu nennen ist (die Madonna ist von einem Glühbirnenkranz umgeben), gibt es im linken Seitenschiff zwei passable spätbarocke Hochaltäre. Einer zeigt die Virgen del Carmen, der größere präsentiert Christus am Kreuz und daneben eine Madonna mit Schwert im Herzen (1770).

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Nach einem kurzen Rundgang treten wir wieder hinaus ins blendende Mittagslicht und spazieren etwa eine Stunde durch die Gassen von Agüimes. Antoinette hat nicht zuviel versprochen, es ist wirklich ein schönes Dorf. Im Zentrum erinnert es fast an eine arabische Kasbah, so eng und labyrinthisch verlaufen die Gassen mit niedrigen, oft nur einstöckigen Häusern, die weiß oder gelb gestrichen sind. Überall alte Laternen, wie man sie aus andalusischen Städten kennt. Die Sonne steht im Zenit, messerscharf verläuft die Grenze zwischen grellem Licht und Schatten.

Normalerweise wird es auf den Kanaren kaum heißer als 30 Grad, aber heute ist einer dieser seltenen Tage, an denen das Thermometer trotz der gleichmäßigen Passatwinde mindestens 35 Grad erreicht. Jetzt um ein Uhr mittags eine Wanderung durch eine Bergschlucht von 10 Kilometern zu starten, scheint uns keine grandiose Idee. Antoinette schlägt vor, von Agüimes mit dem Taxi bis zum Endpunkt der Schlucht zu fahren, dort ein Mittagessen einzunehmen und am späten Nachmittag von dort zurück zu wandern – "schließlich ginge es dann auch bergab", wie sie meint. Begeistert stimme ich zu. Obwohl wir verhandeln, ist das Taxi für kanarische Verhältnisse recht teuer (20 Euro). Als wir dann die endlos scheinende Piste durch die Schlucht entlang fahren, wissen wir warum. Der Aufpreis erklärt sich durch die Holprigkeit der Piste, eine Belastungsprobe für jedes Fahrgestell. Links und rechts der Talsohle dieser engen Schlucht ragen die Steilwände immer höher empor, von anfangs 300 bis 1300 Meter am Endpunkt.

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An einem normalen Wochentag wären wir hier allein entlang gefahren, denn Touristen entdecken diesen Canyon nur selten und Canarios haben keine Zeit für Ausflüge. Aber am heutigen Feiertag sehen wir überall parkende Autos und Motorräder in der Wildnis und Großfamilien mit Grills und Picknickutensilien, die sich unter jeden Schatten spendenden Baum drängen. Die Grußboten der Zivilisation verdichten sich, als wir an den Endpunkt unserer wilden Fahrt gelangen und der Fahrer uns stolz einen Hügel präsentiert – mit Parkplatz, Restaurant-Terrasse, Gästen in Sonntagskleidung. Antoinette ist enttäuscht: sie hatte von der Entdeckung einer wilden, unberührten Bergwelt geträumt und wird nun mit dieser urbanen Invasion konfrontiert. "Bloß weg hier!", flüstert sie mir zu, nachdem uns der Taxifahrer auf dem Parkplatz unserm Schicksal überlassen hat. Wir schlagen einen Pfad ein, der weg vom Restaurant und rund um den Hügel führt.

Dieser Hügel ist ein Phänomen. Er erhebt sich im Zentrum genau am Ende der Schlucht von Guadayeque, als ob er auf Befehl der Tourismusbehörde erbaut worden wäre, gerade groß genug, um Restaurant und Parkplatz anzulegen. Und vom Gipfel hat man einen großartigen Ausblick über die gesamte Schlucht. Düstere Felsen türmen sich auf, tief unten schlängelt sich die Piste nach Agüimes und irgendwo fern im Osten sieht man sogar das Meer.

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Fasziniert betrachten wir das Farbenspiel des Felsgesteins. Von ockergelb und braun über kräftige Rottöne bis hin zu fast schwarz ist die komplette Farbpalette vertreten. An ein paar Stellen verlaufen die verschiedenen Farben als geordnete Streifen quer entlang der Schlucht, es sieht aus wie abstrakte Kunst. Ab und zu öffnen sich Spalten und dunkle Höhlen im Felsmassiv und fügen dem Kunstwerk schwarze Punkte und Zickzackstreifen hinzu.

Wir steigen hinauf zum Gipfel des Hügels, wo man eine winzige Kapelle errichtet hat. Von hier ist der Panorama-Rundblick am besten. Der ganze Canyon von Guadayeque präsentiert sich wie ein langer offener Tunnel hin zum Atlantik. Der obere Teil der Berghänge ist kahl und völlig vegetationslos, im engen Tal ranken sich Kakteen den Hang hinauf. Den Bach auf dem Talgrund sieht man nicht, man kann ihn nur erahnen, dort wo die Pflanzen noch grün statt gelbbraun sind und vereinzelt Bäume stehen. Antoinette erzählt mir, sie hätte gelesen, dass noch vor vier Jahrzehnten intensive Landwirtschaft im Tal des Guadayeque betrieben worden sei, aber dann habe der Tourismus seinen gnadenlosen Siegeszug gehalten. Die Terrassenfelder hier wurden nicht nur aufgegeben, weil die Feldarbeit viel mühevoller war als eine Arbeit im Hotel, sondern auch, weil das Grundwasser von hier weggepumpt wurde, um die Bettenburgen an der Küste zu versorgen. Eine Finca nach der anderen wurde aufgegeben. Deshalb wachsen jetzt in diesem Tal keine Bananen, Mandeln und Mangos mehr, sondern nur noch Agaven, Kakteen und verdorrtes Gestrüpp.

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Beim Abstieg entdecken wir auf der Rückseite des Hügels eine ganze Galerie von Höhlenwohnungen, geordnet angelegt mit kleinen Gärten davor und sogar mit Hausnummern über den Eingangstüren. Antoinette ist euphorisch. Am liebsten würde sie sofort eine dieser Höhlenwohnungen mieten oder sogar spontan kaufen. Nur mit Mühe kann ich sie davon abhalten, mit einer alten Dame, die im Schatten vor ihrer Höhlentür sitzt, ein Verkaufsgespräch zu beginnen. Ich gebe zu bedenken, dass es innen doch sehr düster sein müsse, aber dann zeigt sie mir die Stromleitung, die das Licht in die Höhlen bringt. Es ist also für alles gesorgt. Dann – es ist inzwischen drei Uhr nachmittags – dringt verlockender Essensduft aus der Höhle nach draußen und die betagte Besitzerin wird zum Mittagstisch gerufen.

In dem Moment meldet sich auch bei uns der Hunger und Antoinettes Augen leuchten, als ich unerwartet verkünde, in meinem Rucksack alles für ein Picknick dabei zu haben. Jetzt müssen wir einen schönen Platz dafür suchen, was nicht so leicht ist, denn meine Begleiterin stellt Bedingungen: der Picknick-Platz sollte eine spektakuläre Aussicht haben, ausreichend Schatten bieten (die Sonne brennt weiterhin gnadenlos), weit weg von Großfamilien mit Grillwolken und schreienden Kindern sein, man sollte den Parkplatz von dort nicht sehen können und es sollte bequeme Felsbänke zum Sitzen geben… "Vielleicht auch noch rund geflochtene Blumenranken als Weinglas-Halter?", frage ich sie spöttisch. "Oh, es gibt sogar Wein?", kommt es entzückt zurück.

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Keine 30 Minuten später finden wir einen hübschen Platz. Obwohl, so richtig bequem ist es nicht, der Fels ist hart und glatt, aber ein paar niedrige Mandelbäume spenden genug Schatten und Essen gibt es reichlich: Brot, Thunfisch, Käse, Schinken, Oliven, Tomaten, Kartoffelchips (die guten in Olivenöl frittierten), zum Nachtisch Melone und Mangos und Mandelkuchen. Der Rotwein ist allerdings 10 Grad zu warm.

Ermutigt durch die halbe Flasche Rioja "El Coto" (der mit dem Hirsch!), schlägt Antoinette vor, jetzt zu Fuß nach Agüimes zu gehen. Die Entfernung schätzen wir auf ca. 10 Kilometer, leicht bergab und die Sonne steht schon tief. Also marschieren wir los. Leider sind wir nicht die einzigen auf dem Rückweg Richtung Küste. Dicht neben uns donnern die Motorräder und Jeeps der Feiertagsausflügler. Die Landstraße ist zwar asphaltiert, aber die Fahrbahn ist so schmal, dass kaum zwei Autos nebeneinander passen und an ihrem Rand befindet sich entweder ein tiefer Graben oder Geröll, das bei jedem Schritt Staub aufwirbelt. Trotzdem beschließen wir, im Graben zu gehen, um nicht von einem der viel zu schnell fahrenden Wagen überrollt zu werden. Wir kommen schnell voran, obwohl Agüimes wie eine Fata Morgana zwischen Bergen und Meer im flirrenden Abendlicht liegt und nicht näher zu kommen scheint. Fasziniert vom Anblick dieses kanarischen Bilderbuch-Dorfs konzentriere ich mich nicht auf meine Schritte.

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Plötzlich rutsche ich auf dem Geröll am Straßenrand aus und stürze. Mein rechtes Knie blutet und die Wunde ist voller Staub und winzigen Steinchen. Da wäre Alkohol zum Desinfizieren gut. Auf der anderen Straßenseite spielt ein etwa zehnjähriger Junge mit seiner älteren Schwester Fußball. Wir fragen sie, ob sie irgendwas Hochprozentiges im Haus haben, womit man die Wunde säubern könnte. Sie schütteln den Kopf. Also opfert Antoinette ein halbes Fläschchen teures Eau de Parfum, obwohl ich das natürlich ablehne. Aber sie besteht darauf. Bald ist die Wunde gesäubert, obwohl sie immer noch ein wenig blutet. Antoinette wickelt ein parfümgetränktes Stofftaschentuch um mein Knie. Der Sekundär-Effekt: mein Knie verbreitet einen Duft wie eine ganze Jasmin-Plantage. Ich trete probeweise auf. Die Schmerzen sind erträglich, also adelante!

"Aber so kannst Du doch nicht weiter gehen...", meint das kleine Mädchen voller Mitleid zu mir. Als ich noch etwas humpelnd Richtung Agüimes gehe, höre ich wie der Junge zu seiner Schwester sagt: "Diese Deutschen sind echt hart drauf, die kann so leicht nichts aufhalte." Zufrieden mit diesem Kommentar drehe ich mich spontan noch einmal um und rufe übermütig: "Und deshalb gewinnen wir 2012 endlich auch bei der Fußball-EM gegen Euch!" Nun, es sollte dann doch ganz anders kommen - deshalb ein dreifaches Olé für Spanien!

Text + Fotos: Berthold Volberg

Anfahrt
Wer aus ökologischen Gründen auf Mietwagen verzichten will, kann von Las Palmas aus den Bus Nr. 11 (Global) nehmen, der direkt nach Agüimes fährt (Fahrtdauer 30 – 40 Minuten)
Aus Maspalomas/ Playa del Inglés kommend nimmt man den Bus Nr. 1 oder 36 oder 90, muss aber in allen drei Fällen in Cruce de Arinaga umsteigen in die Nr. 22 (Fahrtdauer wg. des Umsteigens ca. 1 Stunde)



Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

[druckversion ed 07/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_2] Brasilien: Caetano Veloso zum 70. (Teil 3)
Ergrautes Chamäleon, ewig junger Romantiker
 
Weltmusiker, Brasiliens bedeutendster Komponist, Erneuerer der Música Popular Brasileira, begnadeter Wortjongleur, der "Alchimist, der die Musik der Welt amalgamiert" (Jorge Mautner) – über Caetano Veloso hört man viele Meinungen. Und Theorien, die ihn erklären wollen. Ein "Chamäleon", das leicht und nahtlos zwischen den Stilen wandelt. Wirklich zu fassen, auf einen Nenner, bekommt man ihn nie. Vielleicht ist er auch einfach nur ein hoffnungsloser Romantiker, auf der Suche nach der universell spürbaren Verlorenheit des Menschseins. Aber auch das ist nur eine Theorie.



A tristeza é senhora
Desde que o samba é samba é assim


Rio de Janeiro, Mitte Juni 2012. Caetano Veloso tritt vor kleinem Publikum auf. Ein schwarzer Klappstuhl aus Metall, Akustikgitarre, mehr braucht er heute nicht. Ein wenig füllig wirkt er, verglichen mit dem skeletthaften Caetano der 70er Jahre; die einst ungezügelte schwarze Haarpracht ausgedünnt und ergraut. Dazu runde Brillengläser und eine leichte Hüftsteife. "Lindo" rufen einige Damen, selbst in den 60ern und rund um die Hüften etwas vollschlank. Caetano dankt es mit seinem typischen Lächeln, die Oberlippe weit hochgezogen und die Stirn in Falten gelegt. Ein in die Jahre gekommener Schelm, ewig kokettierend. 

Ist es vielleicht Schüchternheit? Wer ihn in seinem Heimatort Santo Amaro da Purificação in Begleitung seiner über hundertjährigen Mutter Dona Canô trifft, einer nahezu mythische Autorität in Bahia, erlebt einen stets jugendlich zurückhaltenden Sohn. Das mag allerdings auch am strengen Matriarchat liegen, das bis heute im Recôncavo Baiano herrscht. Starke Frauen, zurückhaltende Männer. Caetanos Kindheitserinnerungen kreisen um die Frauen der Familie, um Schwester Maria Bethânia, die er im Auftrag des Vaters früh in die Landeshauptstadt Salvador und später nach Rio begleitete, wo sie ihre großartige Karriere als Sängerin startete.

Der Aufbruch aus der Kleinstadt Santo Amaro ist bis heute ein prägendes Ereignis für Caetano, der Sprung aus dem Nest. Die Stadt war stets eine kulturelle Oase, Heimat des "Samba de Roda", des ursprünglichen Samba. Brasiliens erste Schallplatte überhaupt wurde hier aufgenommen. Mit der Muttermilch saugte Caetano die Klassiker der 40er in sich auf, und in der Eckkneipe hörte er zum ersten Mal João Gilbertos "Chega de Saudade", den ersten Bossa Nova. "Ein Statement der Schönheit", erinnerte er sich später. Und im Dorfkino, "Cine Teatro Subaé", verliebte er sich in das europäische Kino, allen voran die Filme von Federico Fellini. Die Welt hat viel zu bieten und Caetano ist neugierig. Irgendwann wurde Santo Amaro zu klein, der Weggang eine künstlerische Notwendigkeit, die bei Caetano eine lebenslange Sehnsucht hinterließ.



O samba é o pai do prazer
O samba é o filho da dor
O grande poder transformador


In Salvador und Rio wächst er zu einem respektierten Bossa-Komponisten heran. Bossa Nova bedeutet Leidenschaft, braucht Leiden, die "Saudade", so etwas wie Sehnsucht. Und Caetano lächelt schon damals zu den traurig-schönen Liedern. Samba und Bossa sind seine Basis; hierauf will er Neues errichten. Mit Gilberto Gil, "dem Bruder, den das Leben mir gab", begründet er den "Tropicalismo", eine Fusion aus Samba, Bossa, Rock, Pop und komödienhaftem Bühnentheater. "Wir wollten beweisen, dass wir nicht bloß Provinzeier waren", erklärte Caetano später. Die Reaktion der Kritiker/innen ist ähnlich der zu Bob Dylans Übergang vom Folk zur elektrischen Gitarre, inklusive Pfiffe des Publikums und Anfeindungen der Presse. "É probido proibir", ruft Caetano zurück, alles muss erlaubt sein. Die Militärs sehen das nicht so, nehmen Caetano und Gil in Haft und schicken sie ins Exil.

Und diese Verbannung trifft Caetano viel härter als der freiwillige Abschied aus Santo Amaro. Als ob Brasilien selbst ihn verstoßen habe. "Tief traurig und deprimiert" habe er ihn in London erlebt, erzählt Jorge Mautner, treuer Weggefährte seit dem englischen Exil, der auch jetzt in Rio im Publikum sitzt. Der Sänger, Autor und Filmemacher habe versucht, den Freund wieder aufzurichten. "Gil war ganz anders, während der Haft in Brasilien hat er in seiner Zelle an einem Tag einfach mal kurz vier Lieder komponiert." Doch für Caetano ist Komponieren stets ein schmerzhafter Prozess. Lediglich zwei melancholische LPs nimmt er zwischen 1969 und 1972 in London auf, die zweite, "Transa", veröffentlicht er erst nach seiner Rückkehr. Bis heute seine wichtigste Platte, meint er und auch die einzige, die zum 70. Geburtstag eine aufpolierte Sonderausgabe erhält.

Zurück in Rio 2012. Erst nach dem siebten Lied, "Desde que o samba é samba", richtet Caetano das Wort an sein Publikum, bedankt sich für die gesangstechnische Unterstützung. "Schön, nicht alleine singen zu müssen." Seit dem Scheitern seiner zweiten Ehe Ende 2004 sieht man oft einen nachdenklichen, verschlossenen Caetano. Seine Karriere ist seitdem ins Stocken geraten, lediglich zwei lauwarme CDs hat er veröffentlicht. "Cê", die wütende Rockplatte eines plötzlich orientierungslosen Mittsechzigers, der in "Odeio" lauthals ein "Ich hasse Dich" herausschreit. Und "Zii e Zie", mit einem verregneten Rio auf dem Cover als Zeugnis der Einsamkeit und Tristess, der kein einziges Lied entgeht. Auch das nur eine der vielen Facetten des Chamäleons?


A noite e a chuva que cai lá fora
Solidão apavora
Tudo demorando em ser tão ruim
Mas alguma coisa acontece
No quando agora em mim
Cantando eu mando a tristeza embora...


Bereits nach seiner Rückkehr aus London 1972 hatte er sich nach Rio zurück gezogen, eine Therapie begonnen. Er fand sich nach zweieinhalb Jahren in Europa nicht mehr in Brasilien zurecht, fühlte sich deprimiert, hasste die neue Kultur der 70er. Und seine eigene Überheblichkeit, die sowohl in verwirrende intellektuelle Monologe als auch in hemmungslose Selbstzerfleischung übergehen konnte. Die vermeintliche Dünnhäutigkeit entlud sich in epischen Duellen mit der Presse, meist der aus São Paulo. Oft zeigte sich Caetano dabei von seiner überheblichen Seite.

Er könne nicht abschalten, schlafe stets erst in den Morgenstunden ein, berichteten Freunde. Bis heute sei das so. "Ich hasse es, die Kontrolle zu verlieren", gibt er selber zu, weshalb er auch nie Drogen genommen habe. Nach drei Jahren Stille meldete sich Caetano Mitte der 70er zurück, kreativer denn je. Alben wie "Bicho", "Muito" und "Cinema Transcendental" brachten Klassiker am Fließband hervor: "O Leãozinho", "Um Índio" und "Tigresa", "Lua de São Jorge", "Beleza Pura", "Sampa" und "Terra".

In Brasilien ist er danach ein absoluter Superstar. Doch das Gefühl, letztlich ein "Estrangeiro", ein Fremder zu sein, lässt ihn nicht los. Zum 50. Geburtstag zieht er 1992 mit der grandiosen Show "Circuladô" auf den Bühnen Brasiliens öffentlich Bilanz. Das Land ist wieder eine Demokratie, der kalte Krieg vorbei, der Kapitalismus hat gesiegt, Caetanos erste Ehe gescheitert, die neue Zukunft mit der viel jüngeren Paula Lavigne hat gerade erst begonnen. Die Welt steht ihm plötzlich wieder offen. Und Caetano lässt sie durch sich hindurch fließen. 

"Fina Estampa" widmet er der spanisch sprachigen Musik, nimmt eine italienische Hommage an Fellini auf, während "A Foreign Sound" der US-amerikanischen Musik Tribut zollt. Caetano ist endgültig Weltenbummler und Weltstar, der mit Orchestern, Rockbands und afro-brasilianischen Trommlern durch die Welt tourt. Oder nur mit Gitarre im Duett mit David Burne. Ganz wie es dem Chamäleon gerade in den Sinn kommt.

"Caetano ist Brasilien, eine vollkommen neue Vermischung all dessen, was die Welt zu bieten hat, die Amalgamierung von allem", fasst Jorge Mautner zusammen. Ihm widmet Caetano an jenem Abend in Rio ein neues Lied, das ihm nicht aus dem Kopf gehe. "Quem matou meu amor, tem de pagar" singt er. Ein Indiz für seinen angeschlagenen Gemütszustand? Der Film "Eu receberia as piores notícias dos seus lindos lábios" habe ihn zu dem Song inspiriert. Seufzer von den beleibten Damen im Publikum. Da war er wieder, der ewig jungenhaft kokettierende Caetano. Schon Ende der 70er Jahre verwies er auf seine vielleicht wahre Natur. 



Canto somente o que não pode mais se calar,
Noutras palavras sou muito romântico.


Ob er es wirklich ist?

Text + Fotos: Thomas Milz

Hier kommt ihr zu:
Teil. 1: Vom Bossa zum Tropicalismo
Teil. 2: London, London

[druckversion ed 07/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_3] Bolivien: Wassermangel im Andenstaat
 
Der November 2011 war bei uns so sonnig und trocken wie nie zuvor seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1881. "Ein fairer Ausgleich für den verregneten Sommer," wird sich manch einer gedacht haben. Ein sichtbares Zeichen des Klimawandels. Solche Verschiebungen der Niederschläge sind nicht nur bei uns in Deutschland zu beobachten, sondern auch in anderen Teilen der Welt. Zum Beispiel in Bolivien. Dort bedrohen die zunehmenden Wetterkapriolen die Existenz der Bauern.

In den Anden Boliviens hat es heftig geregnet. Die Bäche schwellen an und das Wasser rauscht ins Tal. Macario Quelca Soliz müsste eigentlich froh sein über das Wasser, denn die Regenzeit kommt in diesem Jahr wieder viel zu spät. Aber dass der Himmel nun das Versäumte auf einen Schlag nachholt, hilft dem Bauern nicht weiter.

In der Gegend Norte Potosí ist die Landwirtschaft wie überall von der Jahreszeit abhängig, und davon, dass es regnet. Das Wasser aus den Reservoirs ist nur zum Trinken bestimmt. Es fällt zwar dieselbe Menge Regen wie früher, aber wenn es regnet, dann sehr intensiv, alles auf einen Schlag. Die Erde kann das viele Wasser nicht aufnehmen und die Flüsse tragen es davon.

Macario Quelca Soliz ist 32 Jahre alt und indianischer Herkunft – das sieht man ihm an der dunklen Haut und den hohen Wangenknochen sofort an. Sein Heimatort Arampampa ist ein typisches Andenstädtchen, gelegen auf 3000 Metern Höhe, mit Straßen aus Kopfsteinpflaster und gedrungenen Häuschen, die dringend einen Anstrich bräuchten. Die meisten Menschen haben keinen Wasseranschluss im Haus, sondern müssen ihr Wasser von öffentlichen Wasserkränen oder Quellen holen. Das reicht in der Regel so gerade für den persönlichen Gebrauch, zum Trinken, Waschen und für die Wäsche. Doch die Mehrzahl der rund 5.000 Menschen hier leben von der Landwirtschaft. Sie bauen Kartoffeln, Mais und ein wenig Gemüse an, das meiste davon für den Eigenverbrauch. Doch aufgrund des Klimawandels wird es seit einigen Jahren für die Bauern immer schwieriger der Erde die Nahrung abzutrotzen. "Zum Beispiel die Kartoffeln. Wir kaufen heute Kartoffeln in der Stadt. Und warum ist das so? Weil wir keine produziert haben. Und warum? Weil es im September nicht geregnet hat. Der Regen verspätet sich, er kommt erst im Dezember, Januar und Februar. Aber in dieser Zeit wächst die Kartoffel nicht. Und mit anderen Pflanzen ist es das selbe", erklärt Macario.

Vor 15, 20 Jahren war das anders: Da begann die Regenzeit im September und dauerte bis März. Über ein halbes Jahr verteilt fiel die Menge, die heute in drei Monaten sintflutartig vom Himmel niederstürzt. Wenn der Regen damals doch einmal ausblieb, dann gab es immer noch die Bäche, aus denen man Wasser schöpfen konnte. Doch auch die versiegen heute in der Trockenzeit.

"Auf den vielen hohen Gipfeln, die es in Bolivien gibt, gab es auch immer Gletscher. Aber heute sagen wir‚ sie tragen keinen weißen Poncho mehr und meinen damit, dass die Gletscher verschwinden. Wenn es auf den Bergen keinen Schnee mehr gibt, dann versiegen weiter unten die Quellen. Es gibt zwar noch Wasser in den Quellen, das wir nutzen können, aber längst nicht mehr so viel wie früher", so Macario weiter.

Wassermangel ist inzwischen in Bolivien ein sehr ernstes Problem, das weitere Probleme nach sich zieht. Weil sie von der Landwirtschaft nicht mehr leben können, wandern viele Menschen in die Städte ab.

Doch das Problem des Wassermangels wird hier nicht kleiner. Im Gegenteil. "Viele der Brunnen trocknen aus. Unserer zum Beispiel hat kaum noch Wasser. Es reicht nicht mehr für alle. Wir bekommen jetzt noch zwei Mal am Tag eine oder auch nur eine halb Stunde lang Wasser", beschreibt Freddy Villagoméz Guzman die Situation in seinem Viertel der Zona Sur von Cochabamba, dem ständig wachsenden Elendsquartier der drittgrößten Stadt Boliviens. Mühsam zusammen gezimmerte Häuschen ziehen sich dicht an dicht den steinigen Hügel hinauf. Bäume oder sonstiges Grün sucht man hier vergebens. Täglich kommt ein Wasserwagen, von dem die Anwohner für teures Geld Trinkwasser in Kanister abfüllen. Denn das wenige verfügbare Wasser aus dem Brunnenist nicht zum Verzehr geeignet. "Das Schlimmste ist, dass das Wasser verschmutzt ist. Weiter oben gibt es eine Müllkippe. Der Regen sickert durch den Müll ins Grundwasser und verschmutzt die Brunnen", erklärt Guzman.

Nicht nur in den dicht besiedelten Quartieren der Armen ist die Wasserverschmutzung durch Müll oder defekte Sickergruben ein Problem. In den Dörfern fehlt es oft an jeglicher sanitären Grundversorgung. Weil sie keine Toiletten haben, erleichtern sich die Menschen in der freien Natur und verunreinigen so die Quellen.

Und weil der Wassermangel die Existenz hunderttausender Bauern in den Anden gefährdet und sie in die Elendsviertel der Städte migrieren lässt, hat die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, GIZ einen ihrer Arbeitsschwerpunkte in Bolivien auf genau dieses Thema gelegt. Sie bemüht sich, Lösungen für die Bauern auf dem Land zu finden. "Da muss man jetzt halt nach Möglichkeiten suchen, die Wasserverfügbarkeit zu erhöhen. Durch Maßnahmen wie zum Beispiel den Bau von speziellen Regenwasserrückhaltebecken, den so genannten Atachados. Das sind Erdaushebungen, die etwa 1500 Kubikmeter fassen. In diesen Erdaushebungen wird das Regenwasser gesammelt und dann für Bewässerungslandwirtschaft bereit gestellt", erläutert Joachim Picht, der die Projekte der GIZ zur nachhaltigen ländlichen Entwicklung in der Region Norte Potosí koordiniert. So ein 20 mal 30 Meter großes Wasserrückhaltebecken wird am Fuße eines Hanges gebaut. Es muss oberhalb von den zu bewässernden Äckern liegen, der Hang darf nicht zu steil sein und muss ein großes Wassereinzugsgebiet haben. Der Bau ist recht aufwendig. "Erst einmal braucht man Kanäle oberhalb des Auffangbeckens, um das Wasser aufzufangen. Und unterhalb benötigt man ein kleines Verteilsystem. Da das Wasser knapp ist und um die Effizienz der Wasserverteilung zu erhöhen, fördern wir die Installation von einem kleinen Röhrensystem zur Verteilung des Wassers auf die Parzellen".

In den letzen drei Jahren wurden von der GIZ rund 370 dieser Wasserrückhaltebecken gebaut – jeweils für eine einzige Familie. Denn das Wasser eines Beckens reicht nur für eine Ackerfläche von einem Viertel Hektar, also etwa dem Viertel eines Fußballfeldes. Die Bauern müssen für ihr Becken Eigenleistung in Form von 70 Tagen Mitarbeit erbringen. Trotzdem sind die Kosten des Projektes hoch. "Der Bau eines Regenrückhalteneckens kostet so etwa 6000 Dollar. Im Rahmen der allgemeinen Entwicklungshilfe ist das ein hoher Beitrag für nur eine Familie. Aber gerade angesichts der Probleme aus dem Klimawandel, die unsere Leute da oben betreffen, gibt es keine andere Möglichkeit", erklärt Joachim Picht.

Bolivien ist das ärmste Land Südamerikas und der bolivianische Staat, der ebenfalls solche Becken baut, überprüft derzeit sehr kritisch, ob der Aufwand im Verhältnis zum Nutzen steht. Doch die deutsche Entwicklungshilfe alleine wird nicht jeder Kleinbauernfamilie ein Wasserreservoir bauen können.

Gibt es wirklich keine weniger aufwendigen und teuren Methoden um dem Wassermangel in den Anden zu begegnen? Dieser Frage geht Loyda Sanchez in der bolivianischen Großstadt Cochabamba nach. Sie leitet das Zentrum für Interkulturelles Lernen CAIPACHA und hofft, die Lösung für das Problem in dem alten Wissen der indianischen Vorfahren zu finden. "Wir wissen, dass es hier schon vor 10.000 Jahren hydraulische Vorrichtungen zur Bewässerung gab. Die Menschen hatten damals ein sehr sorgfältiges Wassermangement. Viele der Alten in den Dörfern haben dieses Wissen noch heute."

Loyda Sanchez und ihre Kollegen gehen in die Andendörfer und befragen die Alten nach überlieferten Ackerbaumethoden. Dabei tragen sie Ideen zusammen, auf die heutige Ingenieure kaum kommen würden. So wurden zum Beispiel an Quellen kleine Sammelbecken gebaut. "Und rund um diese Sammelbecken wurden bestimmt Pflanzen mit sehr großen Blättern gepflanzt, die verhindern, dass das Wasser verdunstet und so verloren geht."

Das überlieferte Wissen vor dem Vergessen zu retten, ist ein Wettlauf gegen die Zeit, denn nach und nach sterben die Alten. Doch der Aufwand könnte sich lohnen. "Die modernen Methoden sind kostspielig. Der Vorteil des alten Wissens ist, dass es mit dem umgesetzt werden kann, was die Bauern zur Verfügung haben. Und das macht sie unabhängig von Hilfe von außen" erläutert Sanchez.

In dem kleinen Ort Arampampa besinnen sich die Menschen wieder auf die alten Methoden der Bewässerung und des Wasserschutzes. Macario Quelca Soliz hat zusammen mit anderen Dorfbewohnern eine Quelle eingefasst, von der mit Schatten spendenden Pflanzen gesäumte Kanäle zu den Feldern führen. Und die Kleinbauern sammeln jeden Tropfen Wasser, den sie erwischen können. "Wir fangen jetzt auch das Regenwasser auf unseren Dächern auf und leiten es mit halbierten Bambusstangen in Wassertonen. Was sollen wir sonst machen, wenn es kein Wasser gibt? Das ist eine Möglichkeit, sich dem Klimawandel anzupassen", erzählt er.

Letztendlich sind in Ländern wie Bolivien, in denen der Staat kein Geld hat, um größere Maßnahmen in Angriff zu nehmen,  solche einfachen Methoden für die Menschen die einzige Chance, um trotz Klimawandel und Wassermangel zu überleben.

Text: Katharina Nickoleit

Tipp: Katharina Nickoleit hat u.a. einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den Ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

Titel: Bolivien Kompakt
Autorin: Katharina Nickoleit
252 Seiten
ISBN 978-3-89662-362-1
Verlag: Reise Know-How
3. Auflage 2012

[druckversion ed 07/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_4] Argentinien: Perspektivwechsel - Oder: Visita argentina
Auszug aus dem Reisetagebuch eines argentinischen Musikers

Endlich habe ich das Flugticket nach Europa in Händen. Rominas deutsche Freunde heiraten und wir sollen als Duo dazu spielen. Eine wirklich einmalige Gelegenheit, um nach Deutschland zu kommen, auch wenn ich von Solingen noch nicht wirklich etwas gehört habe. Das ist irgendwo bei Köln und unweit von Hamburg. Denn da möchte ich gerne so schnell es geht hin, weil dort gerade ein alter Freund lebt, mit dem ich ein halbes Jahr zusammen in einer Residencia mit insgesamt 19 anderen Leuten gewohnt habe. Er war der einzige Deutsche und schon am ersten Abend saßen wir nach dem Essen zusammen, die Gitarre in der Hand, haben gemeinsam musiziert und gingen im Anschluss gemeinsam aus. Beinahe schon eine surreale Begebenheit im besten Cortázar Sinn, aber sie wurde doch Realität. Und wer hätte gedacht, dass wir uns einmal in seiner Heimat wiedersehen könnten?!

Es ist einfach unglaublich. Und jetzt wo hier in Buenos Aires der Winter beginnt, fliege ich in den europäischen Sommer. Es kann eigentlich nur hervorragend werden, auch wenn ich meinen Sohn dann für knapp drei Monate alleine lassen muss. Immerhin will ich mit Romina ja ein bisschen Geld verdienen. Auf der Straße. In Europa funktioniert das noch einigermaßen und ich hoffe auf gutes Wetter und nette Menschen. Der Rest wird sich dann schon von selbst ergeben.

"Verdammte Scheiße", rufe ich. Dann muss ich lachen, obwohl es doch ein wenig traurig ist. Wir haben tatsächlich unseren Anschlussflug von Rom nach Düsseldorf verpasst. Natürlich Low-Cost, also gibt’s kein Ersatzticket, zumal wir selber Schuld sind, weil wir uns viel zu lange in den Flughafengeschäften aufgehalten haben. Jetzt ist der Flieger weg und guter Rat teuer. Wir müssen also die Bahn nehmen, die hier in Europa ja wunderbar funktionieren soll. Was in Lateinamerika der Bus ist, ist hier die Bahn und man kann auf Schienen in die entlegensten Winkel der Republik gurken. Wenn man nur will oder das Geld dazu hat. Denn Bahnfahren ist in Deutschland verdammt teuer. Wir zahlen jetzt ein Vielfaches für den 24-stündigen Trip über München nach Düsseldorf verglichen mit unserem Billigticket. Obwohl die Reise noch gar nicht richtig begonnen hat, herrscht in unserer Reisekasse schon Leere.

Irgendwann kommen wir dann in Solingen an, allerdings habe ich massive Sprachschwierigkeiten. Die Leute sprechen fast kein Spanisch, ich fast kein Englisch. Mit Händen und Füßen ist alles recht mühsam, aber mit einem Lächeln geht die Missverständigung dann doch etwas einfacher. Was allerdings immer verbindet, ist die Musik. Mit Romina auf der Bühne zu stehen macht Spaß und die Leute gehen tatsächlich aus sich heraus. Von der deutschen Mentalitätskälte fehlt wirklich jede Spur. Ich freue mich auf Hamburg, auf Peter, auf Spanisch sprechende Menschen, auf Bier und Musizieren in den Straßen. Wir müssen allmählich ein bisschen Geld verdienen.



Die Ankunft in Hamburg verläuft reibungslos, fünf Stunden Zugfahrt und wir werden nachts um 22 Uhr am Bahnhof abgeholt. Ach, wie schön den Kerl mal wieder zu sehen. Er hat sich kaum verändert, wir sind nur etwas älter geworden. Seine Wohnung ist schön, groß, wir schlafen im Arbeitszimmer und am nächsten Morgen geht’s schon auf Stadtbesichtigung. Hamburg hat was, das steht fest. Mit einem dieser roten Leihräder fahren wir durch die Innenstadt und schauen uns alles an: den kleinen See in der Mitte der Stadt samt Fontäne und die großen, alten Bauten, das tolle Rathaus, den Hafen und den beeindruckenden Elbtunnel. Es ist wirklich unglaublich.

Dann gehen wir Döner essen. Die schmecken im Gegensatz zu denen in Argentinien wirklich gut! Überhaupt ist das Fleisch nicht so schlecht, wie ich dachte. Ganz im Gegenteil. Alles, was wir hier probieren, schmeckt außerordentlich lecker: Döner, Schnitzel, Grillfleisch, Schweinebraten. Und es liegt nicht daran, dass wir Argentinier das gute Fleisch stets exportieren, denn das, was wir essen, kommt ja aus der Region… Nach dem Essen setzen wir uns auf die Bank vor einem Kiosk, in dem es kleine Knabbereien und noch viel Bier gibt. Fast ist es so, als würde man in Buenos Aires einen Pati, also einen Hamburg essen, ein Bierchen trinken und dabei den vorbeischlendernden Leuten zugucken. Das Bier schmeckt ausgezeichnet: würzig, mit Gehalt, viel besser als das in Buenos Aires, was aber keine große Kunst ist.



Auf dem Nach-Hause-Weg kommen wir an einer Kneipe vorbei, die angeblich ein Argentinier eröffnet hat. Kleine Hexe, ein lustiger Name. Und drinnen gibt’s tatsächlich einen Mate samt Bombilla und ein kleiner Flyer von den Redonditos, wohl Argentiniens einflussreichster Band, hängt an einem Holzpfosten vor der Bar. Dahinter stehen Jorge aus Kolumbien und Raquel, Spanierin. Davor trinkt ein Chilene sein Bier und natürlich kommen wir mit allen ziemlich schnell ins Gespräch. Und siehe da, auf die Latinos ist Verlass, wir können schon am übernächsten Morgen dort auftreten. Getränke und Essen kostenfrei, was will man mehr. Ein erster Lichtblick, denn leider ist das Wetter hier derart bescheiden, dass wir auf der Straße unser Glück erst gar nicht versuchen können.

Wir schlafen lange, gehen dann ein wenig spazieren, essen, quatschen und machen Musik. Peter soll auch was singen und es überrascht mich immer wieder, dass er argentinische Lieder kennt, die nicht mal ich als Einheimischer im Repertoire habe. Wir einigen uns auf zwei Klassiker von Luis Alberto Spinetta und Bersuit Vergarabat und ich hoffe inständig, dass er bis morgen den kompletten Text intus hat. Sonst könnte es doch ein wenig peinlich werden. Zudem bin ich mir unsicher, was ich mit Romina spielen soll. International? Oder eher Spanischsprachiges? Vielleicht sogar Tango?

Peter meint, dass die spanischen Stücke immer besser ankämen, aber ich kann mir das nicht vorstellen. Wir diskutieren das bei einem Glas Wein, kochen nebenbei und wanken dann gemütlich ins Bett.



Das Konzert war genial. Die Stimmung anfangs noch recht behäbig, steigerte sich immer mehr und erreichte nach der Pause ihren Höhepunkt. Peter war absolut textsicher und begleitete uns bei zwei Liedern sogar auf der Gitarre. Insgesamt haben wir knapp 100 Euro verdient. Gar nicht so schlecht für den Anfang. Es waren einige Latinos da und so mussten wir unseren Gastgeber auch eher selten wegen Konversationsübersetzung nerven. Fast ist es hier wie in Buenos Aires, wo sich auch gerne die Deutschen in "ihren Lokalen" treffen, um ihre Sprache sprechen zu können. Nur halt umgekehrt, was uns ja nur Recht sein kann. Interessant außerdem: Die Empanadas im Brujito waren hervorragend. Zwar nicht unbedingt besser, aber mindestens genauso gut wie die argentinischen. Allmählich wird mir Deutschland ein wenig unheimlich.

Ausschlafen, Ausruhen, Mails checken mit der Heimat chatten. Am späten Nachmittag geht’s auf ein Geburtstagsfest direkt am Hafen auf die Landungsbrücken. Es ist schon verrückt, wo hier immer und immer wieder gefeiert wird. Wir essen, trinken und unterhalten uns, während im Hintergrund ein großes Frachtschiff nach dem anderen kurzzeitig mächtige Schatten wirft. Das ist schon wirklich bizarr und einmalig. Leider sind die Leute hier nicht ganz so aufgeschlossen, obwohl offenbar einige auch spanisch sprechen. Also ziehen wir bald gemütlich weiter in eine Kneipe unweit dem Rotlichtviertel und der Reeperbahn. Die ist bei Nacht wirklich unglaublich. Viele bunte Lichter und ein noch viel bunteres nächtliches Publikum treibt sich hier rum. Was würde ich dafür geben, noch einmal 10 Jahre jünger zu sein…

Der Wecker klingelt, in einer Stunde geht es mit dem Bus weiter nach Berlin. In Hamburg haben wir gar nicht auf der Straße gespielt, das soll in der Hauptstadt anders werden. Außerdem treten wir dort auf einem kleinen Festival auf. Wir packen alles zusammen und verlassen ganz still und heimlich die Wohnung. Ich hab’s nicht über das Herz gebracht, Peter zu wecken. Ich hasse Abschiede, wirklich, ich hasse sie.



Es war toll hier in Hamburg, wir wurden wunderbar aufgenommen und haben eine Menge Spaß gehabt. Fast alle, mit denen wir hier zu tun hatten, zeigten, dass die Stereotypen so gar nicht zutreffen wollen und irgendwie ist mir Deutschland weit weniger fremd, als ich es mir hätte vorstellen wollen. Und dazu auch noch gutes Fleisch, leckere Empanadas, freundliche Menschen, sehenswerte Häuser. Irgendwie ist bis dato noch kein Heimweh aufgekommen und würde hier ab und zu mal die Sonne scheinen, wäre Hamburg gar nicht so weit weg von Buenos Aires.

Text + Fotos: Andreas Dauerer

[druckversion ed 07/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]





[kol_1] Macht Laune: Jazz im Trialog
Im Interview mit Trio Corrente
 
Das Trio Corrente aus São Paulo spielt seit rund 13 Jahren zusammen. Bei ihrem Auftritt auf der Musikmesse jazzahead in Bremen, überraschten die Musiker, die auch schon Till Brönner auf seinem Rio-Album begleiteten, mit unglaublichen Breaks, starken Melodien und großer Spielfreude. Torsten Eßer sprach mit Fabio Torres (p), Edu Ribeiro (dr) und Paulo Paulelli (b) über Jazz, brasilianische Rhythmen und Kultursponsoring.

Trio Corrente
Volume 2, NH 8057 (2011)

Auf eurer CD "Volume 2" finden sich einige Bossa Nova-Titel. Ist sie noch wichtig für Brasilien und für den Jazz?
Paulo: Natürlich gibt es eine neue Generationen von Musikern, die nur noch aktuelle Sachen hört, nichts älteres mehr. Aber die meisten – wie wir auch - nehmen ältere Musikstile auf und entwickeln sie weiter. Denn es gibt vor allem in der Bossa Nova Lieder mit wahnsinnig guten Melodien; da ändern wir dann nur die Arrangements.

Verwendet Ihr noch andere traditionelle Rhythmen im Jazz?
Edu: Wir nutzen alle brasilianischen Rhythmen; sie sind sich auch oft sehr ähnlich. Das Gute ist, dass sie alle leicht mit der Idee des Jazz zu verbinden sind, also mit der Abwechslung von Thema und Improvisation.
Fabio: Chorro und Samba überwiegen allerdings, da sie eher urbane Rhythmen sind und wir ja aus São Paulo stammen. Aber Frevo oder andere Rhythmen spielen wir natürlich auch. Außerdem kennt durch die Medien auch heute noch jeder den Rhythmus aus dem letzten Winkel des Landes. Das war früher anders.

Braucht das brasilianische Publikum diese Verbindung zum Land, oder gefällt ihm auch Musik ohne Selbstreferenz, also Cool Jazz z.B.?
Fabio: In São Paulo gibt es viele Jazzer, die nur Jazz spielen und sie haben ein Publikum. Und traurigerweise gibt es auch Festivals, bei denen kein einziger Brasilianer auftritt. Doch immer mehr Gruppen machen es so wie wir und vermischen die Musikstile.

Was haltet Ihr von der Vermischung der brasilianischen Stile mit elektronischer Musik wie z.B. Ceú es macht?
Edu: Ich höre wenig elektronische Musik, aber ich denke Leute wie Ceú sorgen dafür, dass die brasilianische Musik auch in neuen Kontexten präsent bleibt. Und manchmal auch die Jugend wieder für sie interessiert.

Ich habe zuvor mit spanischen Musikern gesprochen und dort geht der Kultursektor gerade vor die Hunde. Wie stellt sich die Situation brasilianischer Jazzmusiker momentan dar?
Edu: Die Situation für Jazzmusiker ist nie einfach, aber momentan geht es tatsächlich etwas bergauf. Wir hatten nicht viele Jazzfestivals oder –clubs, aber...
Fabio: ...jetzt gibt es ein Gesetz, dass den Unternehmen Steuererleichterungen gewährt, die ein Teil ihres Geldes in kulturelle Veranstaltungen investieren. Und aus diesem Grund gibt es momentan viel mehr Festivals.

War das eine Idee von Ex-Kulturminister Gilberto Gil?
Fabio: Nein, diese Initiative gab es schon vor ihm. Aber sie hat auch ihre Schattenseiten: Eine große Firma, die so ein Festival organisieren lässt, engagiert manchmal lieber einen sehr bekannten (ausländischen) Musiker, der gar nicht so gut ist, anstatt gute, aber nicht so bekannte Landsleute. Aber ohne Zweifel haben insgesamt auch die unbekannteren Musiker von diesem Gesetz profitiert.

In Brasilien ist es ja üblich, dass Musiker sich in verschiedenen Bereichen betätigen, ein Jazzer also auch in einer Sambaband oder in einem Sinfonieorchester spielen kann. Wie ist das bei Euch?
Edu: Vor dem Trio habe ich in vielen Tanz- und Folklorekapellen sowie mit einem Orchester gespielt. Das macht aber auch die Qualität brasilianischer Musiker aus, dass sie Erfahrungen in vielen Bereichen haben.
Fabio: Das hat in Brasilien Tradition, Villa-Lobos ist das beste Beispiel. Der Abstand zwischen der Klassischen und der Unterhaltungsmusik ist in Brasilien nicht so groß wie z.B. in Deutschland.
Paulo: Das stimmt! Ich komme aus einer Musikerfamilie, in der alles gespielt wurde, von der Klassik bis zum Samba.

Im Konzert gestern hörte ich einen Titel, der wie von Villa-Lobos klang?
Fabio: Das war ein Chorro, und der wurde ja auch von Villa-Lobos oft benutzt.

In eurem Konzert gab es auch viele überraschende Breaks mit sehr kurzen Soli. Ist das euer Stil?
Edu: Wir kennen uns schon lange. Bei unseren Auftritten ist nichts vorher angelegt, außer den einleitenden Themen der Stücke. Wir reagieren aufeinander sehr natürlich und haben viel Spaß dabei. Das ist wie früher bei den call-and-response-Gesängen.
Fabio: Unser ganzer Auftritt ist ein großer Dialog, bei dem wir uns immer ergänzen und selten – das muss ehrlicherweise gesagt werden – auch mal verlieren. Wir achten sehr aufeinander und reagieren dann. Unsere Chemie stimmt einfach.

Das klang eher nach einem gelungenen Trialog...

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

Linktipp:
http://triocorrente.com

[druckversion ed 07/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: macht laune]






[kol_2] Amor: Wortspiele und Lebensweisheiten (Teil 7)
 
Original: Así como es el sapo, así es la pedrada.
Wortwörtlich: So wie Frosch ist, so ist der Steinwurf.
Sinngemäß: Man muss schon gut vorbereitet sein, um sein Ziel zu erreichen (also: Kleiner Frosch, kleiner Stein - großer Frosch, großer Stein)



Original: Del dicho al hecho, hay un buen trecho.
Wortwörtlich: Vom Wort zur Tat ist es ein gutes (Stück) Weg.
Sinngemäß: Leichter gesagt als getan.

Original: Al que es pendejo ni Dios lo quiere.
Wortwörtlich: Den, der dumm ist, den hat noch nicht einmal Gott lieb.
Sinngemäß: Glaube hin, Glaube her.

Original: Mas vale prevenir que lamentar.
Wortwörtlich: Besser vorbeugen als bedauern.
Sinngemäß: Gute Vorbereitung ist alles.

Original: Meterse la camisa de once varas.
Wortwörtlich: Sich ein Hemd von elf varas (Größeneinheit) anziehen.
Sinngemäß: Eine Nummer zu groß oder Sich selber in die Sch... reiten.

Original: Crea fama y échate a descansar.
Wortwörtlich: Werde ruhmreich und lege Dich hin.
Sinngemäß: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.

Original: El que nunca ha tenido y llega a tener, loco se puede volver.
Wortwörtlich: Wer noch nie hatte und es dann bekommt, kann dabei verrückt werden.
Sinngemäß: Lebende Beispiele im Alltag: Neureiche.

Original: El saber no es poder, sin embargo el saber hacer sí es poder
Wortwörtlich: Das Wissen ist nicht Macht, aber zu wissen, wie man es macht, ist Macht.
Sinngemäß: Wissen ist Wissen, Können ist Macht.

Original: Amor de lejos es amor de pendejos.
Wortwörtlich: Liebe auf Entfernung ist was für Dumme.
Sinngemäß: In Sachen Liebe: Aus den Augen, aus dem Sinn.

Text + Foto: Camila Uzquiano

Und weitere Wortspiele und Weisheiten:
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 1
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 2
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 3
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 4
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 5
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 6

[druckversion ed 07/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: amor]





[kol_3] Grenzfall: Wine Palace pfui und hui
 
Mittwoch und Samstag waren meine großen Tage. Es waren die Tage mit Reiseteil bzw. Kleinanzeigen im Kölner Stadtanzeiger, dem Internet der 80er. Es war die Zeit von Quacken-Reisen und Schau ins Land. Die Zeit der Bustouren an die Spaßorte der Costa Brava: Lloret, Malgrat, Calella, Tosa.

Wir fuhren oft. Meist mit Quacken und der Busfahrerlegende Manni: So liebe Leute. Ihr seht hier, liebe Leute, das homosexuelle Pärchen hat mich, liebe Leute, tätlich angegriffen. Liebe Leute, das ist eine Verwarnung, ihr bekommt das jetzt alles mit, liebe Leute. Ich, liebe Leute, bin der Manni, euer Busfahrer. Liebe Leute, wollt ihr Frühstücksei?


Manni mochte uns nicht, weil wir nie etwas verzehrten. Und bei seinen Ansprachen lachten. Das änderte sich jedoch an dem Tag, als er in einer scharf angegangenen Rechtskurve, die komplette Ladung weichgekochter Eier in Bewegung setzte. Der Jupp neben mir reagierte mit einer Flugeinlage und rettete die komplette Palette ohne Verluste kurz bevor sie den mit Teppichboden bestückten Mittelgang in Eiermatsch verwandeln konnte. Seither mochte uns Manni: So liebe Leute, hallo, liebe Leute. Ach der Jupp ist wieder an Bord. Liebe Leute, der Jupp bekommt morgen früh ein gekochtes Ei, ja liebe Leute.

Eine Costa-Brava-Reise dauerte 10 Tage. Sie beinhaltete 2 Übernachtungen im Bus, 8 im Don Juan mit Frühstück. Das Frühstück passte nicht in unser Tageskonzept und die Mäuse in der Auslage unterstrichen dieses. Lieber brieten wir uns auf dem Campingkocher Tintenfisch und Rührei. Weshalb wir leider einmal das Hotel vorzeitig verlassen mussten. Höhepunkt des Tages war meist zwischen 11 Uhr und 13 Uhr der Besuch der Reinigungskräfte, die sich an den schlafenden Gestalten im Bett weder störten noch überrascht waren.

Vom Design des Logos bis zum kompletten Gebäudeoutfit passt das Wine Palace in genau diese Zeit und auch zu Quacken-Reisen. Und so habe ich den Tempel des Partytourismus, endlich (Jahre später) als gesitteter Costa Brava Tourist reisend, intuitiv gemieden. 1000 Mal bin ich in Figueras am Wine Palace vorbei gefahren ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Und dann...

Meine Suche nach einem Weißwein namens Basa, den wir in einem hervorragenden Lokal mehrfach verkostet hatten, blieb erfolglos. Weder spezielle Weinhandlungen, noch die großen Supermärkte hatten jemals von Basa gehört. Und so tranken wir uns durch reichlich fruchtige Verdejo-Wein-Empfehlungen, die aber allesamt nicht an Basa heranreichten.

Eines Tages jedoch suchte ich eher zufällig eine Werkstatt in der Nähe des Wine Palace auf. Und um die Wartezeit zu verkürzen, wagte ich es dann doch. Ich betrat den äußerlich so schäbig nach Tequilaverschnitt und 10-Liter-Eimer Sangría anmutenden Weinpalast. Und es war, als täte ich den Schritt in eine andere Welt, in der ich mich hätte über Stunden verlieren können. Ein unglaubliches Sortiment an Alkoholika. Auf der Suche nach Basa zog ich vorbei an den edelsten Weinen Spaniens, passierte Brandys und vertiefte mich kurz in die erlesene, 113 Sorten umfassende Rum-Auslage und wurde trotzdem schnell fündig: Basa in der letzten Reihe.

Liebe Leute, es hat sich, liebe Leute ausgequackt. Liebe Leute, jetzt müsst ihr ohne, liebe Leute, Quacken-Reisen zum Wine Palace. Liebe Leute, auch der Jupp bleibt ohne Frühstücksei. Liebe Leute, ich, der Manni, hab das homosexuelle Pärchen dann doch nicht aus dem Bus geschmissen. Also behaltet mich in guter Erinnerung. Euer Manni, liebe Leute.

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 07/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]






[kol_4] Lauschrausch: Latino-Retrosound
Sergio Mendoza y La Orkesta und Chicha Libre
 
Die Retrowelle hat längst auch lateinamerikanische Musikstile erfasst, wie die beiden folgenden Produktionen von in den USA beheimateten Bands zeigen.

"Sergio Mendoza y La Orkesta" haben sich nichts geringeres als die Rettung des Mambo auf die Fahnen geschrieben, indem sie ihn mit ihren Eigenkompositionen weiterentwickeln. Schon im ersten Titel dreht das 15köpfige Orchester richtig auf: Nachdem Shaft - oder wahlweise Karl Malden – zu einem schnellen Mambo um die Ecke gebogen ist, musizieren Mariachigeigen, Perkussion und Bläser schnell und wild um die Wette bis nach zwei Minuten ein cha cha cha das Tempo bremst und dem Sänger Raum gibt, um dann erneut zu dominieren. Pianist Sergio Mendoza stammt aus Tucson/ Arizona und spielt u.a. bei den Bands "Calexico" und "Devotchka". Vor drei Jahren gründete er seine Truppe, die zuerst nur als Spaßband gedacht war, jetzt aber zunehmend Erfolge feiert.

Instrumentale Mambos, langsam und schwülstig ("Amada Amante"), Mambos in denen wilde Hammondorgelklänge in schneidende Bläsersätze eingebettet werden ("Toma Tres"), auf alt getrimmte Mambos ("Mambo in the Dark"), die durch eine gedämpfte Erzählstimme und Hundegebell einen surrealen Touch erhalten ("Mambo Dukesa") oder ein auf doppelte Geschwindigkeit gepitchter und mit E-Bass versehener Mambo, der dann wie ein Merengue klingt ("Mario Tambien Come").

Der Heimat Tucson ist "Traicionera" geschuldet, das mit der lupenreinen Westerngitarre und den Trompeten zu Beginn einem Winnetou-Soundtrack von Herbert Boetcher gleicht, zwischenzeitlich in einer Klangcollage mündet, um dann noch mal als Westernexpress mit vielen fröhlichen Bläsern und Gesang Fahrt aufzunehmen.

Sergio Mendoza y La Orkesta
Mambo Mexicano!
Le Pop 34

Doch die Bigband mit Punkattitüde erlaubt sich auch Abstecher in andere Genres – TexMex, Jazz etc. – und spielt sogar Balladen. Das sentimentale "La Cucharita" klingt wie die Folkgesänge der chilenischen Band "Quilapayun" oder anderer 70er-Jahre-Bands, die die traditionellen Klänge ihrer Heimat mit – damals – modernen Orgelklängen vermischten und wieder populär machten. Wie es sich für ein gutes "Latino-Album" gehört, endet diese großartige Platte auch mit einer Ballade: "Suenos Amargos" kommt nicht schmalzig daher, sondern könnte auch von einer Nick-Cave-Platte stammen (auch wenn die Stimme etwas dünner klingt). Alles in allem fünf Sterne!

Die New Yorker Band "Chicha Libre", bestehend aus einem Venezolaner, einem Mexikaner, zwei US-Amerikanern und zwei Franzosen wurde ebenfalls als Spaßband gegründet, belebt mit der chicha gleichfalls ein lateinamerikanisches Genre wieder und spielt fast alles Eigenkompositionen. Damit enden allerdings die Gemeinsamkeiten zu Sergio Mendozas Produktion, denn "Canibalismo" beginnt schnell zu nerven.

Chicha Libre
Canibalismo
Crammed Discs

Bandgründer Olivier Conan, in Brooklyn lebender Franzose, entdeckte bei einer Reise nach Peru die chicha, das nach einem Maisgetränk benannte Genre, das in den 60er und 70er Jahren Peru aufmischte, mit seiner explosiven Mischung andiner Musikstile und kolumbianischer Cumbia und den Surfgitarren und Farfisaorgelklängen jener Zeit. Conan fand alte Single-Schätze und brachte zwei CD-Sampler mit der Musik heraus. Dann gründete er "Chicha Libre", mit denen er die chicha erweitert und modernisiert, "kannibalisiert" wie er es nennt: "Wir spielen keine reine chicha, wir sind von ihr inspiriert und von der brasilianischen tropicalismo-Bewegung, nehmen sie als Basis, bedienen uns aber auch bei vielen anderen Musikrichtungen, kannibalisieren also alles. Diese Idee und den Titel unseres Albums haben wir beim Brasilianischen Dichter Oswaldo de Andrade entlehnt, der in einem Manifest 1929 schrieb, dass Kulturen kontinuierlich andere Kulturen durch eine Verschmelzung kannibalisieren und so etwas Neues hervorbringen."

Leider klingt das Ergebnis über weite Strecken nervig, so lobenswert und hier und da lustig umgesetzt die Grundidee ist. Nervöse Cumbias treffen auf cheesy klingende Keyboards und ein Mellotron sowie psychedelische Surfgitarren. In "La plata" macht das noch Spaß, der bis "Muchachita del Oriente" anhält, aber spätestens bei "Depresión tropical" bekommt man eine ebensolche und wünscht sich ob des Gefiepses die Droge genommen zu haben, deren Erfinder in "Lupita en la selva y el doctor" gehuldigt wird. Eines der besseren Stücke (mit weniger Mellotron) ist "L’age d’or", in dem zu einem französischen Sprechgesang à la Serge Gainsbourg gespielt wird, während die Idee Wagners "Ritt der Walküren” in eine chicha zu verwandeln, wegen des analogen Retrosounds naiv nach MIDI-Musik oder Kinderinstrumenten klingt.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 07/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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