ed 04/2012 : caiman.de

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spanien: Vom Holzblock zum Christus
Zu Besuch beim Sevillaner Bildhauer Navarro Arteaga
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


peru: Schwimmende Inseln und der Alltag der Uros-Nachfahren
JUTTA ULMER / MICHAEL WOLFSTEINER
[art. 2]
bolivien: Holz mal fair und nachhaltig
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 3]
brasilien: Rapte-me camaleão! - Caetano Veloso zum 70.
Teil 1: Vom Bossa zum Tropicalismo
THOMAS MILZ
[art. 4]
amor: Wortspiele und Lebensweisheiten (Teil 5)
CAMILA UZQUIANO
[kol. 1]
hopfiges: San Miguel SELECTA XV
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER / MÁXIMO TIGRE HAUSMEISTER
[kol. 2]
helden brasiliens: Und das jogo bonito?
THOMAS MILZ
[kol. 3]
lauschrausch: Buritaca mit Barawanié
TORSTEN EßER
[kol. 4]




[art_1] Spanien: Vom Holzblock zum Christus
Zu Besuch beim Sevillaner Bildhauer Navarro Arteaga
 
Sevilla, am Heiligen Montag der Karwoche 2011. Einige Stunden bevor die Prozession der Bruderschaft von San Gonzalo über die Brücke ziehen wird, öffnet sich für uns eine Tür in der Uferstraße C. Betis in Triana, hinter der uns eine Reihe von Geheimnissen erwartet.

Wir steigen die Treppe empor zur Werkstatt des Bildhauers José Antonio Navarro Arteaga, dem wir anderthalb Stunden bei seinem Werk zusehen dürfen – ein Privileg, das er nicht sehr oft gewährt. Denn dieser 1966 geborene Künstler gehört längst zu den berühmtesten Bildhauern Andalusiens und hat vor allem während der letzten 15 Jahre viel dazu beigetragen, dass alte und neue Bruderschaften der Semana Santa Sevillas mit Prozessions-Skulpturen von beeindruckender Ausdruckskraft  ausgestattet wurden.

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Zum ersten Mal wurden wir auf diesen Künstler aufmerksam, als wir eine seiner stattlichen Römerstatuen für den "Paso" (Altarbühne) der Bruderschaft Las Cigarreras (1997) und seine schönen Engel für San Gonzalo bestaunten. Sein nächster Geniestreich war die von ungeheurer Dynamik geprägte Reiterskulptur des Longinos für den Paso von La Lanzada (1999) – Pferd und Reiter scheinen sich direkt auf den Zuschauer zu stürzen. Bis 2003 komplettierte er mit weiteren vier Skulpturen, die eine fast "expressionistisch" anmutende Mimik und Gestik zur Schau stellen, die Gruppe der römischen Folterknechte für Las Cigarreras.

Jetzt arbeitet der Maestro an einem Holzblock, aus dem eine lebensgroße Christusstatue entstehen soll und empfängt uns freundlich im weißen Arbeitskittel. Das erste, was beim Betreten seines Reichs ins Auge fällt, ist jedoch eine monumentale Reliefszene der "Opferung Isaaks", ausgebreitet vor dem Betrachter auf einer fast drei Meter langen Platte. Das Relief, eher schon eine Halbskulptur, ist fertig gemeißelt, aber noch nicht bemalt, sondern mit einer blendend weißen Schicht aus Gips überzogen. Es wird bald den Hochaltar einer Pfarrkirche schmücken.

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Der Blick wandert nach oben. An der Wand lehnt ein weiteres plastisches Relief, das Christus als guten Hirten präsentiert, der ein Lamm über der Schulter trägt. Hier ist das Gewand des Erlösers bereits vergoldet, während das Gesicht noch kalkweiß auf Bemalung wartet. Auf Nachfrage gibt Navarro Arteaga uns zum Auftakt einen Schnellkurs in Bildhauerei: "Wie komme ich vom Holzblock zum Christus?". Am Anfang steht natürlich eine Idee, die innere Vorstellung eines Gesichts. In den meisten Fällen verleiht man dieser dann eine erste Gestalt in Form einer Zeichnung und/oder eines Miniaturmodells, das schon einen Vorgeschmack auf das große Werk bietet (manche Kunden fordern dies). Sodann folgt die eigentliche Holzschnitzarbeit, gefolgt vom "härtesten und langweiligsten Part": dem Auftragen der weißen Gipsschicht als Untergrund für die Vergoldung und Bemalung, die dem Werk sein endgültiges Aussehen gibt. Dies sei für den Künstler gänzlich uninteressant, weil der wichtigste schöpferische Akt (das Schnitzwerk) ja bereits abgeschlossen, das lästige "Eingipsen" aber notwendige Voraussetzung für die farbige Vollendung einer Skulptur sei.

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Als ich ihn am Anfang des Interviews gebeten habe, sich bei den Antworten möglichst kurz zu fassen, muss der Künstler lachen: "Naja, das kommt darauf an, was Du kurz nennst!" Für einen Andalusier, der über die Kunst seiner Semana Santa spricht, sind seine Antworten dann aber wirklich erstaunlich kurz und präzise. Navarro Arteaga hat als Autodidakt den Weg zu seiner Kunst gefunden; bereits mit 14 Jahren begann er im Atelier eines anderen Bildhauers, ohne jemals eine Kunsthochschule besucht zu haben. In Sevilla, der Stadt, die im Goldenen Zeitalter (16. Und 17. Jahrhundert) die genialsten Bildhauer Spaniens hervorbrachte, sei dies auch gar nicht nötig. Denn in jeder Kirche, in jedem Palast findet man vor allem sakrale Skulpturen, die zur Inspiration dienen können. Und wie die berühmten Barockbildhauer Sevillas widmet Navarro Arteaga seine Kunst besonders der Illustrierung religiöser Motive.

Als ich ihm die Frage stelle, welche der großen Meister des 17. Jahrhunderts er am meisten bewundert, nennt er neben Martínez Montañés, vor allem dessen Schüler Juan de Mesa: "Gestern [Palmsonntag] konnten wir seinen Christus der Liebe (Cristo del Amor) auf seinem Weg zur Kathedrale betrachten, eine wunderbare Skulptur die uns tief bewegt. Juan de Mesa trumpft hier nicht nur mit seiner Meisterschaft auf, sondern mehr noch als die Demonstration von Genie scheint mir dieses Werk eine Offenbarung der Theologie – ein Bild, das dazu dient, in allen, die sich in seiner Betrachtung versenken, den leidenschaftlichen Wunsch zum (An)Beten weckt." Mit diesen Worten definiert Navarro Arteaga auch kurz und auf den Punkt gebracht die eigentliche Funktion der Sakralkunst des Barock – und das Phänomen der Semana Santa ist der beste Beweis, dass dies heute noch genauso gilt wie im 17. Jahrhundert.

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Das bestätigt ein Rundum-Blick durch sein mit zahlreichen Werken und Fragmenten in verschiedenen Phasen angefülltes Atelier. Auf einem Tisch vor uns liegt eine ganze Heerschar niedlicher Engelsköpfe, die auf einer Altarwand enden werden, aus der Ecke starren uns grimmige Römer-Fratzen an, die bald zur Folterung einer Christus-Statue abkommandiert werden und von der Wand grüßen Fotos von tränenüberströmten Madonnengesichtern, die längst vollendet in einer Kirche Sevillas von Gläubigen (und faszinierten Ungläubigen) verehrt werden. Auf die Frage, ob er sich für die beeindruckenden Gesichter seiner sakralen Statuen auch durch konkrete Personen inspirieren lässt, die ihm Modell sitzen, erklärt er: "Nein, jedenfalls nie für Christus-Skulpturen oder das Gesicht der Maria; denn wenn wir den göttlichen Erlöser betrachten, dürfen wir keine konkrete Person vor Augen haben, deshalb dürfen ein Christus oder eine Madonna, die diese Werkstatt verlassen, keine bekannten, real existierenden Gesichter haben."

Doch inmitten all der Heiligkeit entdecken wir plötzlich einen Charakterkopf, der alles andere als heilig aussieht. Zudem kommt uns das Gesicht mit der ungebändigten Lockenmähne und diesem stechenden Blick sehr bekannt vor. Ja, es ist tatsächlich eine Büste des berühmtesten aller Flamenco-Sänger, Camarón de la Isla, meisterhaft aus Holz gemeißelt. Dieses grimmig-geniale Antlitz des Zigeunerkönigs würde jeder Andalusier sofort wieder erkennen. Hier steht es nicht auf einem Podest, sondern angestaubt neben einem Leimtopf. Der knappe Kommentar des Schöpfers: "Ja, ein Zigeuner, wohl ein Verwandter von Camarón hat die Büste nach dessen Tod in Auftrag gegeben, aber nie abgeholt (und auch nicht bezahlt)." Jetzt wacht der rebellische Sänger, den Gott so früh zu sich holte, mit finsterem, fast dämonischem Blick über das Reich der Engel und Madonnen. Es ist das einzige profane Kunstwerk in diesem Raum.

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Da drängt sich die Frage auf, warum Navarro Arteaga im 21. Jahrhundert fast ausschließlich sakrale Kunst herstellt – liegt es an seiner religiösen Motivation oder daran, dass die Auftraggeber in Sevilla nach wie vor besonders die katholischen Bruderschaften der Semana Santa sind? Wahrscheinlich kommt beides zusammen, denn seine Antwort lautet: "Ich bin sehr stark verwurzelt in der Welt der Bruderschaften." Und er erzählt uns, dass er noch vor drei Tagen selbst als schwarz maskierter Nazareno (Büßer) in der Prozession der Bruderschaft "Pasión y Muerte" in Triana marschiert ist – ein paar Meter vor der Christus-Statue, die er selbst 1998 geschaffen hatte. Was fühlt ein Bildhauer, wenn er zum ersten Mal zusieht, wie sein Christus durch die Straßen getragen wird? Wie empfindet er die Reaktion des Publikums in diesem sakralen Barocktheater Sevillas? Er lächelt verlegen, bevor er antwortet: "Aber ich konnte 'meinen' Christus doch gar nicht sehen. Dies ist eine Schweigebruderschaft und wir dürfen uns während der Prozession nicht umdrehen. Aber ich konnte Seine Gegenwart spüren. Als wir in die Kirche Santa Ana einzogen, konnte ich einen kurzen Blick auf ihn erhaschen. Man fühlt etwas sehr Komplexes, das ich nicht in Worte fassen kann."

Seit seinem beeindruckenden "Cristo de Pasión y Muerte" erhielt er immer mehr Aufträge für Hauptfiguren der Semana Santa; vor allem von den jungen Bruderschaften und neuen Pfarrkirchen der Vororte Sevillas: die wunderschöne Virgen del Mayor Dolor (Jungfrau des größten Schmerzes) und den "Jesus der Hoffnung" sowie sämtliche andere Statuen für den größten Paso von Sevilla – La Milagrosa –, der 2011, getragen von 55 starken Männern, seine Prozessions-Premiere erlebte.

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Im Gegensatz zu den großen Meistern des 17. Jahrhunderts (denen dies verboten war, da die Berufe Bildhauer und Maler strikt getrennt wurden) bemalt Navarro Arteaga seine Skulpturen und Reliefs selbst. So präsentiert sich der neue Star der Sevillaner Bildhauer als ein sehr kompletter Künstler, der jeden Schritt "vom Holzblock zum Christus" selbst entwirft und durchführt bis zur farbenprächtigen Vollendung eines Werks. Beim Material entscheidet er sich – hier stimmt er mit den Künstlern des Goldenen Zeitalters (16. Und 17. Jahrhundert) überein – fast immer für Zedernholz. Dies sei "sehr widerstandsfähig und extrem langlebig, obwohl es wie alles auf dieser Erde auch nicht ewig sein wird..."

Seine Kunst hingegen lässt uns von der Ewigkeit träumen. Und jetzt muss der Meister fortfahren, an seinem nächsten Christus zu meißeln. Also will ich zum Abschied von ihm wissen: "Wie ist so das Gefühl, nachdem man eine Statue vollendet und abgeliefert hat – wie die Leere, die bleibt, wenn ein Kind das Elternhaus für immer verlassen hat?"

Navarro Arteaga lacht kurz, bevor er klar stellt: "Ich würde eher das Gegenteil behaupten. Jede abgelieferte Skulptur lässt den eigenen Lebenslauf als Künstler wachsen. Ich bin kein Egoist, will nichts für mich allein behalten... also ist das Herausgeben eines Werks kein Verlust, sondern vielmehr, als ob die Statue dadurch nochmal neu geboren würde. Das Werk lebt schließlich nur im und durch den Kontakt mit dem Publikum."

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Und so wünschen wir seiner Werkstatt beim Abschied noch viele "Geburten", hat doch Sevilla als Stadt der Kunst durch seine Werke viel dazu gewonnen.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Link zur Site des Künstlers: www.navarroarteaga.com



Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

[druckversion ed 04/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_2] Peru: Schwimmende Inseln und der Alltag der Uros-Nachfahren
 
Es ist acht Uhr früh. Die ersten Ausflugsboote erscheinen am Horizont. Auf zahlreichen Schilfinseln stehen Frauen in farbenfroher Tracht. Sie winken den nahenden Touristen zu, hoffen und bangen gleichzeitig. Es werden nur ein paar der Inseln von den Booten angefahren. Weißhäutige Besucher in funktional-moderner Outdoor-Kleidung steigen aus und fotografieren. Schnell werfen die Fremden einen Blick in Wohnhäuser und auf Kunsthandwerk. Manche kaufen eine getöpferte Vase, eine bestickte Tasche oder ein Mobile aus Schilf. Kaum sind sie da, treibt der Tour-Führer die Touristen zur Eile an. Eine Stunde ist für den Besuch zweier schwimmender Inseln der Uros-Nachfahren eingeplant, dann ziehen die Ausflugsboote weiter zu anderen Zielen im Titicaca-See. Auf den Uros-Inseln kehrt für 23 Stunden Ruhe ein. Am nächsten Tag um acht Uhr früh werden die nächsten Touristen kommen und mit ihnen die Hoffnung der Inselbewohner, für ihre Souvenirs und fürs Fotografiert werden etwas Geld zu erhalten.

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Die schwimmenden Inseln liegen 30 Bootsminuten von Punos Hafen entfernt und gehören zu den wichtigsten Touristenattraktionen Perus. Zum Schutz vor den kriegerischen Inka begannen die Uros vor Jahrhunderten, Inseln aus Totora-Schilf im Titicaca-See zu bauen und auf diesen ein autarkes Leben zu führen. Zwar gibt es heute keine reinrassigen Uros mehr. Es leben aber noch immer 1.800 Uro-Aymara-Mischlinge auf 64 künstlich angelegten Eilanden. Sich selbst nennen sie Kotsuñis, Seemenschen.

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"Unsere Lebensweise ist einzigartig auf der Welt. Deshalb finde ich es wichtig, dass Touristen kommen und sie kennenlernen", erzählt Cristina. Von der Tourismusart, die sich auf den Uros-Inseln entwickelt hat, ist sie allerdings nicht begeistert. "Fotografieren und schnell gucken ist alles, was die Fremden machen. Geld verdienen vor allem die Tour-Anbieter in Puno. Bei uns bleibt kaum etwas hängen. Es ist nicht eingeplant, dass die Touristen bei uns essen, übernachten und tatsächlich etwas über unseren Alltag erfahren", so die quirlige Uro-Aymara-Indígena.

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Vor acht Jahren hat Cristina zufällig ein holländisches Paar kennengelernt, das unbedingt auf einer Schilfinsel schlafen wollte. Sie stellte ihr Haus zur Verfügung und malte sich aus, wie es wäre, Übernachtungsmöglichkeiten für Touristen auf den Uros-Inseln anzubieten. Aber außer ihrer Familie konnte sie niemanden aus der Dorfgemeinschaft von der Idee begeistern. Und so war sie die einzige, die an einem Seminar für Kommunalen Tourismus auf dem Festland teilgenommen hat. Die Themen Küche, Ausflüge und Fremdenverkehr wurden behandelt. "Dort habe ich gelernt, dass Touristen einen empfindlichen Magen haben, mit Besteck essen, auf Hygiene großen Wert legen und man vor ihnen keine Angst haben muss", berichtet Cristina lachend. Mehrmals kam eine Ausbilderin auf die Isla Q´hantati, die Schilfinsel, auf der Cristina mit ihrer Großfamilie lebt. Gemeinsam wurden Ideen entwickelt, wie sich authentischer Inselalltag und ein touristischer Mindeststandard verbinden lassen.

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Wenngleich die Moderne in Form von Solarzellen, Handys und Fernseher Einzug gehalten hat, ist das Leben der Uros-Nachfahren entbehrungsreich und hart. Drei bis sieben Familien wohnen zusammen auf einer Insel, die sie aus Totora-Wurzeln und Totora-Halmen selbst bauen. Weil die Inseln auf der Unterseite verrotten, müssen oben immer wieder neue Schilfschichten nachgelegt werden. Im Stile ihrer eigenen Wohnhäuser hat Cristinas Familie auf der Isla Q´hantati zehn Schilfhütten für Touristen errichtet. Diese bieten Schutz vor den eisigen Temperaturen, die auf 3.800 Meter Höhe des Nachts unter den Gefrierpunkt sinken. Morgens nehmen Ehemann Vilca und Schwager Wilbert die Besucher in ihren Schilfbooten mit zu den Totorales, den berühmten Schilfgebieten des Titicaca-Sees. Hier leben unzählige Fische und Vögel, die die Uro-Aymara-Indígenas jagen und essen oder auf lokalen Märkten auf dem Festland gegen Getreide und Gemüse eintauschen.

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Während die Männer ihren Tätigkeiten auf dem See nachgehen, kümmern sich die Frauen zu Hause um Kinder, Wäsche und Essenszubereitung. Sie machen mit getrocknetem Schilf Feuer und kochen darüber in Tontöpfen Andenkärpflinge, Wasserhühner, Quinoa und Kartoffeln. Auf Anraten der Ausbilderin hat Cristina das Menü für ihre ausländischen Gäste um Pommes Frites, Joghurt und Omelette erweitert. Außerdem richtet sie die Speisen dekorativ auf weißen Tellern an. Das hat sie in einem Fünf-Sterne-Hotel gesehen, als sie dort einen Tag hospitieren durfte.

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Wenn nicht gerade zwischen acht und neun Uhr früh die Ausflugsboote die Uros-Inseln ansteuern, kann man auf der Isla Q´hantati richtig gut relaxen. Die Höhensonne wärmt den weichen Schilfboden, so dass man sich überall hinlegen und dem leichten Schaukeln der Insel hingeben kann. Dass sie wegschwimmt muss man nicht befürchten, denn jede Insel ist zwölf Mal im Seeboden verankert. Abwechslung bietet der Aussichtsturm mit seinem wunderbaren Blick über den strahlend blauen Titicaca-See. Kinder fahren in kleinen Booten von der Schulinsel nach Hause. Ihren Weg kreuzt das Supermarktboot, das die Inselbewohner mit dem Nötigsten versorgt. "Wir haben hier fast alles, was man zum Leben braucht. Jeden zweiten Tag kommt ein Arzt auf die Arztinsel und es gibt ein Müllboot, das den Abfall zum Festland fährt. Ein großes Problem existiert allerdings. Auf den Uros-Inseln fehlen Trinkwasser und sanitäre Anlagen", berichtet Cristina sorgenvoll. Für die Touristen jedoch war schnell eine Lösung des Wasserproblems gefunden. Diesen stehen auf der Isla Q´hantati zwei Toilettenkabinen und ein Wasserspender zur Verfügung. Den befüllt Tochter Maribel morgens und abends mit wohltuendem, heißem Wasser und gekocht wird mit Mineralwasser aus PET-Flaschen.

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Für ihren neuen Ansatz im Tourismus der Uros-Inseln erhielt Cristina im Jahr 2011 vom peruanischen Tourismusministerium und der Universidad del Pacífico den INNOVA-TRC-Preis. Das ist eine Auszeichnung für innovativen und hochwertigen Kommunalen Tourismus. Nach der Preisverleihung besuchte sogar der Tourismusminister die Isla Q´hantati und gratulierte Crisitina persönlich. Die hat die Gelegenheit genutzt und dem wichtigen Mann aus Lima ihren größten Wunsch mit auf den Weg in den Regierungspalast gegeben: Trinkwasser und ein Abwasserkanalsystem für alle Uros-Inseln.

Text + Fotos: Jutta Ulmer / Michael Wolfsteiner

Linktipp: www.lobOlmo.de oder http://www.facebook.com/lobOlmo

[druckversion ed 04/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]





[art_3] Bolivien: Holz mal fair und nachhaltig
 
Nachhaltig ist das Holz von Multiagro schon lange. Jetzt soll es auch fair werden. Die Hoffnungen, die auf dem Transfairsiegel ruhen, sind groß.

Don Bautista sieht nicht aus wie ein Großgrundbesitzer. Dem 59jährigen Bauern fehlen einige Zähne und sein Pullover ist zerrissen. Zehn Kinder hat seine Frau geboren, neun davon haben die beiden groß gezogen. "Eines ist gestorben, als es noch klein war. Wir hatten einfach nicht das Geld für eine ärztliche Behandlung", erzählt Don Bautista und puhlt weiter die Maiskolben ab – eine Ernte, die er mit seiner Frau und den drei noch daheim lebenden Kinder mühsam dem kargen Andenboden abgerungen hat. Hier, auf einer Höhe von 3.500 Metern Höhe ist das Leben rau und hart: Tagsüber brennt die Sonne, nachts wird es eisig kalt. Außer Kartoffeln und Mais wächst hier nichts, was das Überleben der Familie sichern könnte. Falsch! Wuchs hier Jahrhunderte lang nichts. So lange, bis die Familie Demeure auf die Idee kam, in der Höhe Pinienwälder anzupflanzen.

Hochlandholz ist härter
Wenn Don Bautista von seiner Arbeit aufschaut und den Kopf wendet, so sieht er in der Ferne an den steilen Berghängen Wald. Es sind seine Bäume, die da die Andenabhänge hinauf wachsen, seine und die der anderen 47 Familien von Cocapata, einem winzigen Dorf rund zwei Autostunden von der bolivianischen Großstadt Cochabamba entfernt. Denn tatsächlich ist Don Bautista Großgrundbesitzer. Bei der Landreform 1953 wurden den Dorfgemeinschaften große Ländereien zugesprochen. Reich hat es sie nicht gemacht, denn an den steilen Abhängen ließ sich kein Ackerbau betreiben. Und Bäume gab es in dieser Höhe einfach nicht. "Viele der Bauern, die heute Waldbesitzer sind, hatten zuvor noch nie einen Baum gesehen", erinnert sich Juan Pablo Demeure. Er führt heute das Familienunternehmen Multiagro in zweiter Generation. Es war sein Vater, der die Idee hatte, Holz in den Anden anzubauen. Die Pinien, die für das Sägewerk bestimmt sind, wachsen auf einer Höhe von bis zu 1.500 Metern. In Europa ist die Baumgrenze bereits bei 2.100 Metern erreicht, aber in der Nähe des Äquators gedeihen Bäume auch noch in wesentliche größerer Höhe. Das Wachstum ist zwar langsam – aber das Holz wird besonders hart. Und eignet sich damit ganz ausgezeichnet für hochwertige Möbel.

Früher gab es hier keinen Wald
Die Idee von Multiagro war, die brachliegenden Flächen der Andenhänge für den Anbau dieses hochwertigen Holzes zu nutzen und dabei gleichzeitig den Bauern ein zusätzliches Auskommen zu verschaffen. Die eigens geschaffene Hilfsorganisation DESEC versorgt die Bauern mit Setzlingen und schickt Forstingenieure in die Dörfer, die erklären, was bei der Anpflanzung der Schösslinge zu beachten ist. Nach der Ernte erhalten die Bauern 80 Prozent des Erlöses aus dem Holzverkauf, DESEC 20 Prozent. Don Bautista schüttelt es noch heute, wenn er daran denkt, wie viel Arbeit sein Wald am Anfang gemacht hat: "Das ganze Dorf hat zusammen gearbeitet um den Weg zu den Hängen hinauf anzulegen. Drei Kilometer Straße, alles von Hand mit der Spitzhacke in den Berg gehauen. Und dann die Hänge hoch klettern um die Bäumchen zu pflanzen …". Doch seit dieser anfänglichen Kraftanstrengung macht ihm sein Wald kaum noch Arbeit. Die Bäume wachsen, ohne dass sie viel Pflege bräuchten. Die Mitarbeiter von DESEC kommen regelmäßig vorbei und beraten die Bauern, welche der Pinien weniger gut sind und schon jetzt gefällt werden sollten, damit die wirklich guten Bäume mehr Platz zum Wachsen haben. Dieses erste Holz bringt Don Bautista und seiner Familie schon mal ein kleines zusätzliches Einkommen – der große Batzen kommt dann, wenn die besten Pinien 20 bis 25 Jahre alt geworden sind und gefällt werden können. "Das dauert alles ziemlich lange, aber ich glaube, dass es sich bezahlt machen wird", meint Don Bautista zuversichtlich.

Ein Beitrag zum Wasserhaushalt
A
bgesehen von den Gewinnen aus dem Holzhandel hat sich der Anbau der Bäume schon jetzt gelohnt. Seitdem es oberhalb seines kleinen Hofes einen Wald gibt, führt der Bach fast das ganze Jahr über Wasser für Don Bautistas Felder. Denn das Wurzelwerk der Bäume wirkt wie ein Schwamm – es speichert die Niederschläge und gibt sie nach und nach ab. Dort, wo es keinen Wald gibt, rauscht das Wasser direkt zu Tal und verursacht Schäden, und danach ist es monatelang trocken. Davon, dass es plötzlich mehr Wasser für die Felder gibt, profitieren nicht nur die Waldbauern, sondern alle Menschen im Gebiet rund um die neuen Wälder. Außerdem entstehen mitten im bitterarmen Altiplano neue Arbeitsplätze, denn in den Baumschulen müssen Schösslinge herangezogen, Bäume gefällt und Stämme abtransportiert werden.

Faires Holz: ein Novum
Für die Waldbauern von Multiagro soll der Holzhandel in Zukunft aber noch mehr bringen als ein zusätzliches Einkommen und eine bessere Bewässerung der Felder. Deshalb hat Juan Pablo Demeure beschlossen, sein Unternehmen dem Fairen Handel anzuschließen. Faires Holz ist ein Novum, Multiagro ist weltweit gerade mal das dritte Holzunternehmen, das diesen Schritt wagt. "Es gehört für mich als verantwortlichen Unternehmer dazu, dass ich mich um meine Arbeiter kümmere. Schon deshalb, weil ich ein großes Problem hätte, wenn niemand mehr für mich arbeiten wollen würde", erklärt Juan Pablo seine Entscheidung für den Fairen Handel. Außerdem hofft der mittelständische Unternehmer, mit fairem Holz eine Nische zu erschließen, in der er gegen die Konkurrenz bestehen kann.

Große Pläne für die Zukunft
Ende Oktober soll die erste Prämie aus dem Fairen Handel überwiesen werden, und es gibt schon eine ganze Reihe Ideen, wie sie verwendet werden könnte. Ein Fond für Stipendien ist im Gespräch, damit die Kinder der Bauern nicht nur in die Grundschulen auf den Dörfern gehen, sondern auch die weiter führenden Schulen in den Städten besuchen können. Und es  wird über einen Gesundheitsfond nachgedacht, aus dem die Arztkosten der Mitglieder bestritten werden können – in einem Land, in dem eine Krankenversicherung eine absolute Ausnahme ist, wäre das eine wichtige Sache. Noch aber ist der Faire Handel bei Multiagro ein Pilotprojekt; bislang sind erst zwei der insgesamt 7.000 Dörfer, in denen für das Unternehmen Holz angebaut wird, dabei. Außerdem werden zunächst die Mitarbeiter des Sägewerks, die Arbeiter einer der Baumschulen und zwei der Fuhrunternehmer vom Fairen Handel profitieren. Doch irgendwann, so hofft Demeure, werden alle, die mit Multiagro zu tun habe, dabei sein. Das wären rund 20.000 Familien.

Hoffen auf die Kunden
All das ist vorerst Zukunftsmusik. "Die spannende Frage ist jetzt, ob es genügend Abnehmer für unser Faires Holz gibt", meint Juan Pablo Demeure. "Die ganze Idee des Fairen Handels funktioniert ja nur, wenn es auch Kunden gibt, die bereit sind, ein wenig mehr für das Holz zu bezahlen." Die erste Prämie wird für das große Vorhaben wohl kaum reichen. Aber ein kleiner Fond wird vermutlich bereits jetzt angelegt werden: für Schulmaterialien. Damit wäre Don Bautista schon sehr zufrieden.

Text: Katharina Nickoleit

Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den Ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

Titel: Bolivien Kompakt
Autorin: Katharina Nickoleit
252 Seiten
ISBN 978-3-89662-362-1
Verlag: Reise Know-How
3. Auflage 2012

[druckversion ed 04/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_4] Helden Brasiliens: Rapte-me camaleão! – Caetano Veloso zum 70.ten, Teil 1
"Vom Bossa zum Tropicalismo"
 






































Text + Fotos:
Thomas Milz



[druckversion ed 04/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





[kol_1] Amor: Wortspiele und Lebensweisheiten (Teil 5)
 
Original: Candil de la calle, oscuridad de su casa.
Wortwörtlich: Licht (in) der Straße, Dunkelheit zu Hause.
Sinngemäß: "Von dem hätten wir das nie gedacht". Normalerweise Nachbarn oder ganze Dorfgemeinschaften! oder aber Außen hui, Innen Pfui!



Original: Cara vemos, corazón no sabemos.
Wortwörtlich: Das Gesicht sehen wir, das Herz kennen wir nicht.
Sinngemäß: Man kann in niemanden hinein schauen.

Original: No por mucho madrugar, amanece mas temprano.
Wortwörtlich: Du kannst noch so früh aufstehen, die Morgendämmerung kommt trotzdem nicht früher.
Sinngemäß: In der Ruhe liegt die Kraft.

Original: Del agua mansa me libre Dios, porque de las otras me libro yo.
Wortwörtlich: Vor ruhigen Gewässern soll Gott mich schützen, vor den anderen kann ich es selber.
Sinngemäß: Obacht! Stille Wasser sind tief.

Original: Agua que no has de beber, déjala correr.
Wortwörtlich: Lass Wasser, das du nicht trinken willst, fließen.
Sinngemäß: Des Öfteren mal "Nein" sagen.

Original: A palabras necias, oídos sordos.
Wortwörtlich: Auf sture Wörter, taube Ohren.
Sinngemäß: Hier rein, da raus.

Original: Ladrón que roba a ladrón, tiene cien años de perdón.
Wortwörtlich: Dieb, der Dieb bestiehlt, hat 100 Jahre Amnestie.
Sinngemäß: So ne Art Mantra von Zorro.

Original: Es mejor ser cabeza de ratón, que cola de león.
Wortwörtlich: Es ist besser der Kopf der Maus zu sein als der Schwanz des Löwen.
Sinngemäß: Besser klein und schlau als groß und dekorativ.

Text + Fotos: Camila Uzquiano

Und weitere Wortspiele und Weisheiten:
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 1
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 2
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 3
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 4

[druckversion ed 04/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: amor]





[kol_2] Hopfiges: San Miguel SELECTA XV
 
...
Der Weltschmerz! Du weißt nicht, wie ich fühle, denn du hast den Weltschmerz noch nicht gespürt.

Weltschmerz?! Ich hab schon ganz anderes gespürt und den Weltschmerz sowieso.

Aha?! Nur zu!

Es geht nicht darum, den persönlichen Weltschmerz in Worte zu fassen, sondern ihn gespürt zu haben. Weißt du, was dein Problem ist? Du befindest dich in einer Zwischenstufe auf dem Weg wohin auch immer. Du hängst am großen schwarzen Vogel. Du glaubst an das Singen und Tanzen in der Welt, in die er dich trägt.*

An diesem Punkt hielt ich mich tatsächlich lange Zeit auf: Der Freitod als Übergang in ein besseres Leben. Dann ereilte mich jedoch ein viel weiter gefasster Gedanke. Nicht der Freitod an sich ist der zentrale Aspekt, sondern die Option. Die Option, der potentiellen Aussichtslosigkeit eines fernen Hier und Jetzt zu entfliehen. Lapidar gesprochen: Sorge dich nicht, wenn das Morgen keinen Spaß mehr bringt, rufe den großen schwarzen Vogel herbei. Der Freitod als Schlüssel zum Glück des Lebens, des Lebens im Hier und Jetzt.

Hab ich mirs doch gedacht. Du verharrst. Kenne ich. Doch mich traf die Erleuchtung abermals! Sie traf mich nicht nur, sie sprengte alle bestehenden Gefüge. Alle Konstrukte des doppelten Bodens auf einen Schlag zerschmettert. Vergrault auf alle Ewigkeit der große Schwarze. Der wunderschöne Vogel verjagt von einem Käfer. Genauer: einem Marienkäfer.

Ein Marienkäfer kippte deine Überlebensstrategie? All die Jahre, die du an diesem Lebensausweg gefeilt hast, die mit viel Schmerz hart ersonnene Einbahn, durch die allein dein Leben überhaupt lebbar wurde – alles dahin? Zurück auf Null? Zurück auf die ewige Verdammnis von früh bis spät vom Schmerz gepeinigt den ganzen Irrsinn des Daseins zu ertragen?

Mitnichten! Der Marienkäfer als Sumpfwart, als gepunkteter Narr wider des alltäglichen Frustes. Als positiver Synapsenpflug. Als Killer der Gedanken, die da kreisen um den Sinn der Existenz. Und um die Angst, diese zu verlieren, ohne das Ass des Auswegs in der Hinterhand. Alles vernichtet. Tabula Käfer Rasa.
...

Wir blenden an dieser Stelle die Unterhaltung zwischen Maria Josefa Hausmeister und ihrem Bruder Máximo Tigre Hausmeister wegen selbstzerstörerischer Sinnlosigkeit aus. Zu verkosten galt es ein San Miguel SELECTA. Eine 6,2-prozentige Cerveza Extra der Brauerei San Miguel aus Barcelona. Das Etikett gibt das Geheimnis des Extras preis: Jeweils drei Sorten Hopfen und Malz, die perfekter nicht zu einander passen könnten, verleihen dem SELCTA XV außergewöhnlichen Geschmack und Aroma.


Im Folgenden der Versuch der Transkription der Lalllaute für ein Statement zum Bier. Für die abschließende Punktevergabe waren alle Register der Zeichensprache erlaubt.

Maria Josefa: Kastanienfarben mit herbstlichen Rottönen. Das sanfte Prickeln vermittelt kurzzeitig das Gefühl einer angenehmen Frische. Ebenso wohltuend ist der leicht bittere Hopfeneindruck, der im Abgang die Zunge umspült. K.O.-Kriterium ist allerdings der widerlich süße Malzgeschmack. Ich hätte nicht gedacht, dass ich es mit einem "echten" Bier zu tun habe, sondern mit gemeinem Malzbier.

Máximo Tigre: Biere wie dieses verursachen Schmerzen, die kein Marienkäfer austreiben kann. Für mich wäre es einer Folter gleich gekommen, hätten wir nicht den Selbstversuch nach der ersten Flasche abgebrochen und wären auf Trinkbares umgestiegen.

Maria Josefa fasst sich mit Zeige- und Mittelfinger vorsichtig stupsend an die Stirn und kneift die AUgen zusammen: Aua! Ich hab ihn mir weder austreiben noch ausreden lassen den Weltschmerz.


Bewertung SELECTA XV:

1. Hang over Faktor
(4 = kein Kopfschmerz):
2. Wohlfühlfaktor (Hängematte)
(4 = Sauwohl):
3. Etikett/Layout/Flaschenform
(4 = zum Reinbeißen):
4. Tageszeit Unabhängigkeit
(4 = 26 Stunden am Tag):
5. Völkerverständigung
(4 = Verhandlungssicher):

Verkostung: Maria Josefa Hausmeister + Máximo Tigre Hausmeister

(* Komm großer schwarzer Vogel, Ludwig Hirsch, Freitod 2011)

[druckversion ed 04/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: hopfiges]





[kol_3] Helden Brasiliens: Und das jogo bonito?
 
Schlechte Nachricht auf schlechte Nachricht – kaum ein Tag, an dem man die Zeitung aufschlägt, ohne über das nächste fußballtechnische Desaster informiert zu werden. Fast könnte man meinen, dass auf Brasiliens Fußball ein Fluch lastet. Dabei wollten wir doch eigentlich bloß ein wenig jogo bonito sehen.



Doch anstelle des jogo bonito zeigt die einst so mächtige Nationalmannschaft ein furchtbares Gekicke, siegt höchstens Mal gegen Costa Rica, wird aber gegen die großen Nationen beharrlich abgewatscht. Früher wäre so etwas nicht passiert. Klar hat man 1982 auch gegen Italien verloren, dabei aber wenigstens Traumfußball gespielt.

Umbruch nennt man das offiziell, wobei junge Spieler ins Team eingebaut werden sollen. Weit über 50 Jungtalente hat Mano Menezes bereits seit seinem Amtsantritt Ende 2010 getestet, wobei er kaum zu Welt bewegenden Erkenntnissen gekommen zu sein scheint. Doch die Leistungen der Nationalelf sind noch das kleinste Übel.

Eine immer unerträglichere Hängepartie ist die Organisation der WM 2014. Während man unkt, dass zum ConFedCup 2013 lediglich drei Stadien fertig sein werden, leuchten bereits weitere Alarmlampen auf. Wo seien denn nun die 2007 angekündigten Infrastrukturmaßnahmen, fragt die FIFA nach, die Brasilien am liebsten einen "Tritt in den H…n" verpassen würde.

Das Nachhaken der FIFA hat übrigens für ziemliche Aufregung gesorgt, obwohl letztlich alle Herrn Valcke in der Sache Recht geben mussten. Neue Hotels sucht man vergeblich, genau wie die versprochenen U-Bahnen, Schnellzüge, neue Flughäfen und die immer noch anstehende Reinigung der Guanabara-Bucht (oder möchte man die erst zu Olympia 2016 säubern? Da hätte man natürlich noch zwei Jahre länger Zeit…).

Alles laufe bestens, so der Tenor der Regierung, die statt dem Ausbau der Infrastruktur einfach die Schulferien auf den WM-Monat verlegen wird und an den Spieltagen zusätzliche Feiertage ausrufen will – und damit auf beeindruckend einfache Art und Weise nahezu alle Probleme löst. Die Welt kann doch noch von Brasilien lernen!

Und ansonsten? Kaká tritt ständig aus Kirchen aus und wieder ein, Luis Fabiano ist auch nach einem Jahr Behandlung immer noch verletzt, Adriano hat es gänzlich aufgegeben Fußball zu spielen, genau wie sein Kumpel Ronaldo, der jetzt die WM organisiert. Torwart Bruno wird immer noch der Prozess wegen seiner angeblichen Zerstückelung der Geliebten gemacht, während Ronaldinho bei Flamengo regelmäßig Pfiffe erntet. Und wer erinnert sich überhaupt noch an Paulo Henrique Ganso?

Immerhin, zwei Personen heben sich vom lauen Mengengelage ab. Zum einen Neymar, der weiterhin sensationell spielt und Tore am laufenden Band produziert, so wie letztens gegen… Guaratinguetá. Während Real und Barcelona vergeblich um ihn buhlen, hat der Irokese in Brasilien bereits seinen 10. lukrativen Werbevertrag in der Tasche. Klar, dass er erst mal lieber in Brasilien bleibt. Vielleicht will er aber auch einfach in Ruhe seine Wunden lecken, nachdem Barcelona Neymars Truppe im Weltpokal mit 4:0 gedemütigt hat.

Die andere positive Erscheinung ist der einst allmächtige Ricardo Teixeira, und das zum ersten Mal in seiner langen Karriere. Endlich scheint er genug von dunklen Geschäften zu haben, dem Messerwetzen und all den homerischen Intrigen... übergab die in Rio de Janeiro angesiedelte CBF einfach an den Fußballverband von São Paulo (!) und zog sich nach Miami zurück. Wann folgen wohl Grondona und Blatter seinem Beispiel?



Und wann geben die pfingstkirchlichen Abgeordnete im Kongress endlich den Widerstand gegen den Bierausschank in den WM-Stadien auf?

Text + Fotos: Thomas Milz

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[kol_4] Lauschrausch: Buritaca mit Barawanié
 
Nach langer Zeit kommt aus Barcelona mal wieder eine musikalische Entdeckung. Die Band "Buritaca", benannt nach einer landschaftlich reizvollen Gegend im Norden Kolumbiens, hat sich vom üblichen Mestizo-Schema verabschiedet. Die international zusammengewürfelte Herkunft der Musiker lässt zwar auf eine weitere Mestizo-Band schließen, aber sie verzichten auf das ewig gleiche und inzwischen langweilige Übergewicht von Ska, Reggae und Dub und spielen eine neue, energiegeladene und fröhliche Musik, die trotzdem tief in den verschiedenen nationalen Traditionen verwurzelt ist. Eine "bomba musical" wie es im Titelstück "Barawanié" heißt, in dem funkige Rhythmen mit einer nach Santana klingenden 70er-Jahre-Orgel und elektronischen Klängen verbunden werden, zu denen in verschiedenen Sprachen gesungen wird.

Buritaca
Barawanié
Kasba / galileo mc

Die Band besteht aus sieben bis zehn Musikern, die aus Kolumbien, Marokko und Spanien kommen oder italo-panamesische bzw. spanisch-syrische Wurzeln haben. Dem musikalischen Horizont sind also kaum Grenzen gesetzt; trotzdem überwiegt die afro-kolumbianische Musik, vor allem die Cumbia, die sich in "Sin cura" und "Callejero" mit einer Salsa abwechselt oder in "Norte sur" traditionell daherkommt (vom überraschenden Anfang à la "Stop in the name of love" einmal abgesehen). Die afrikanischen und arabischen Einflüsse scheinen im französischsprachigen "L’invitation" oder im Stück "Bambaraway" durch, in dem sich syrische mit indischen Rhythmen kreuzen und arabisch oder Hindu gesungen wird. Das aus zwei Stücken bestehende "La curandera" geht mit einem langsamen, balladenhaften Intro los, wechselt in afro-kolumbianische Rhythmen und steigert sich dann noch in einen Merengue, ähnlich dem Ablauf einer Heilungszeremonie. Dort heißt es "esta noche que no pare de bailar" und tatsächlich ist diese upbeat-Musik durchgehend partytauglich (bis auf den Anfang von "Vacilón", wo eine Guajira und ein entschleunigter Sprechgesang vier Minuten Verschnaufpause bieten, bis der Titel in einen schnellen Guaguancó wechselt).

Dieses Album kann aufgrund seiner musikalischen und sprachlichen Vielfalt bei jeder Party durchlaufen und keiner käme auf die Idee, es würde sich um dieselbe Scheibe handeln! Darum heißt die letzte Cumbia auch "No vamo‘ a parar".

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

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