ed 04/2012 : caiman.de

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[art_1] Spanien: Vom Holzblock zum Christus
Zu Besuch beim Sevillaner Bildhauer Navarro Arteaga
 
Sevilla, am Heiligen Montag der Karwoche 2011. Einige Stunden bevor die Prozession der Bruderschaft von San Gonzalo über die Brücke ziehen wird, öffnet sich für uns eine Tür in der Uferstraße C. Betis in Triana, hinter der uns eine Reihe von Geheimnissen erwartet.

Wir steigen die Treppe empor zur Werkstatt des Bildhauers José Antonio Navarro Arteaga, dem wir anderthalb Stunden bei seinem Werk zusehen dürfen – ein Privileg, das er nicht sehr oft gewährt. Denn dieser 1966 geborene Künstler gehört längst zu den berühmtesten Bildhauern Andalusiens und hat vor allem während der letzten 15 Jahre viel dazu beigetragen, dass alte und neue Bruderschaften der Semana Santa Sevillas mit Prozessions-Skulpturen von beeindruckender Ausdruckskraft  ausgestattet wurden.

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Zum ersten Mal wurden wir auf diesen Künstler aufmerksam, als wir eine seiner stattlichen Römerstatuen für den "Paso" (Altarbühne) der Bruderschaft Las Cigarreras (1997) und seine schönen Engel für San Gonzalo bestaunten. Sein nächster Geniestreich war die von ungeheurer Dynamik geprägte Reiterskulptur des Longinos für den Paso von La Lanzada (1999) – Pferd und Reiter scheinen sich direkt auf den Zuschauer zu stürzen. Bis 2003 komplettierte er mit weiteren vier Skulpturen, die eine fast "expressionistisch" anmutende Mimik und Gestik zur Schau stellen, die Gruppe der römischen Folterknechte für Las Cigarreras.

Jetzt arbeitet der Maestro an einem Holzblock, aus dem eine lebensgroße Christusstatue entstehen soll und empfängt uns freundlich im weißen Arbeitskittel. Das erste, was beim Betreten seines Reichs ins Auge fällt, ist jedoch eine monumentale Reliefszene der "Opferung Isaaks", ausgebreitet vor dem Betrachter auf einer fast drei Meter langen Platte. Das Relief, eher schon eine Halbskulptur, ist fertig gemeißelt, aber noch nicht bemalt, sondern mit einer blendend weißen Schicht aus Gips überzogen. Es wird bald den Hochaltar einer Pfarrkirche schmücken.

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Der Blick wandert nach oben. An der Wand lehnt ein weiteres plastisches Relief, das Christus als guten Hirten präsentiert, der ein Lamm über der Schulter trägt. Hier ist das Gewand des Erlösers bereits vergoldet, während das Gesicht noch kalkweiß auf Bemalung wartet. Auf Nachfrage gibt Navarro Arteaga uns zum Auftakt einen Schnellkurs in Bildhauerei: "Wie komme ich vom Holzblock zum Christus?". Am Anfang steht natürlich eine Idee, die innere Vorstellung eines Gesichts. In den meisten Fällen verleiht man dieser dann eine erste Gestalt in Form einer Zeichnung und/oder eines Miniaturmodells, das schon einen Vorgeschmack auf das große Werk bietet (manche Kunden fordern dies). Sodann folgt die eigentliche Holzschnitzarbeit, gefolgt vom "härtesten und langweiligsten Part": dem Auftragen der weißen Gipsschicht als Untergrund für die Vergoldung und Bemalung, die dem Werk sein endgültiges Aussehen gibt. Dies sei für den Künstler gänzlich uninteressant, weil der wichtigste schöpferische Akt (das Schnitzwerk) ja bereits abgeschlossen, das lästige "Eingipsen" aber notwendige Voraussetzung für die farbige Vollendung einer Skulptur sei.

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Als ich ihn am Anfang des Interviews gebeten habe, sich bei den Antworten möglichst kurz zu fassen, muss der Künstler lachen: "Naja, das kommt darauf an, was Du kurz nennst!" Für einen Andalusier, der über die Kunst seiner Semana Santa spricht, sind seine Antworten dann aber wirklich erstaunlich kurz und präzise. Navarro Arteaga hat als Autodidakt den Weg zu seiner Kunst gefunden; bereits mit 14 Jahren begann er im Atelier eines anderen Bildhauers, ohne jemals eine Kunsthochschule besucht zu haben. In Sevilla, der Stadt, die im Goldenen Zeitalter (16. Und 17. Jahrhundert) die genialsten Bildhauer Spaniens hervorbrachte, sei dies auch gar nicht nötig. Denn in jeder Kirche, in jedem Palast findet man vor allem sakrale Skulpturen, die zur Inspiration dienen können. Und wie die berühmten Barockbildhauer Sevillas widmet Navarro Arteaga seine Kunst besonders der Illustrierung religiöser Motive.

Als ich ihm die Frage stelle, welche der großen Meister des 17. Jahrhunderts er am meisten bewundert, nennt er neben Martínez Montañés, vor allem dessen Schüler Juan de Mesa: "Gestern [Palmsonntag] konnten wir seinen Christus der Liebe (Cristo del Amor) auf seinem Weg zur Kathedrale betrachten, eine wunderbare Skulptur die uns tief bewegt. Juan de Mesa trumpft hier nicht nur mit seiner Meisterschaft auf, sondern mehr noch als die Demonstration von Genie scheint mir dieses Werk eine Offenbarung der Theologie – ein Bild, das dazu dient, in allen, die sich in seiner Betrachtung versenken, den leidenschaftlichen Wunsch zum (An)Beten weckt." Mit diesen Worten definiert Navarro Arteaga auch kurz und auf den Punkt gebracht die eigentliche Funktion der Sakralkunst des Barock – und das Phänomen der Semana Santa ist der beste Beweis, dass dies heute noch genauso gilt wie im 17. Jahrhundert.

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Das bestätigt ein Rundum-Blick durch sein mit zahlreichen Werken und Fragmenten in verschiedenen Phasen angefülltes Atelier. Auf einem Tisch vor uns liegt eine ganze Heerschar niedlicher Engelsköpfe, die auf einer Altarwand enden werden, aus der Ecke starren uns grimmige Römer-Fratzen an, die bald zur Folterung einer Christus-Statue abkommandiert werden und von der Wand grüßen Fotos von tränenüberströmten Madonnengesichtern, die längst vollendet in einer Kirche Sevillas von Gläubigen (und faszinierten Ungläubigen) verehrt werden. Auf die Frage, ob er sich für die beeindruckenden Gesichter seiner sakralen Statuen auch durch konkrete Personen inspirieren lässt, die ihm Modell sitzen, erklärt er: "Nein, jedenfalls nie für Christus-Skulpturen oder das Gesicht der Maria; denn wenn wir den göttlichen Erlöser betrachten, dürfen wir keine konkrete Person vor Augen haben, deshalb dürfen ein Christus oder eine Madonna, die diese Werkstatt verlassen, keine bekannten, real existierenden Gesichter haben."

Doch inmitten all der Heiligkeit entdecken wir plötzlich einen Charakterkopf, der alles andere als heilig aussieht. Zudem kommt uns das Gesicht mit der ungebändigten Lockenmähne und diesem stechenden Blick sehr bekannt vor. Ja, es ist tatsächlich eine Büste des berühmtesten aller Flamenco-Sänger, Camarón de la Isla, meisterhaft aus Holz gemeißelt. Dieses grimmig-geniale Antlitz des Zigeunerkönigs würde jeder Andalusier sofort wieder erkennen. Hier steht es nicht auf einem Podest, sondern angestaubt neben einem Leimtopf. Der knappe Kommentar des Schöpfers: "Ja, ein Zigeuner, wohl ein Verwandter von Camarón hat die Büste nach dessen Tod in Auftrag gegeben, aber nie abgeholt (und auch nicht bezahlt)." Jetzt wacht der rebellische Sänger, den Gott so früh zu sich holte, mit finsterem, fast dämonischem Blick über das Reich der Engel und Madonnen. Es ist das einzige profane Kunstwerk in diesem Raum.

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Da drängt sich die Frage auf, warum Navarro Arteaga im 21. Jahrhundert fast ausschließlich sakrale Kunst herstellt – liegt es an seiner religiösen Motivation oder daran, dass die Auftraggeber in Sevilla nach wie vor besonders die katholischen Bruderschaften der Semana Santa sind? Wahrscheinlich kommt beides zusammen, denn seine Antwort lautet: "Ich bin sehr stark verwurzelt in der Welt der Bruderschaften." Und er erzählt uns, dass er noch vor drei Tagen selbst als schwarz maskierter Nazareno (Büßer) in der Prozession der Bruderschaft "Pasión y Muerte" in Triana marschiert ist – ein paar Meter vor der Christus-Statue, die er selbst 1998 geschaffen hatte. Was fühlt ein Bildhauer, wenn er zum ersten Mal zusieht, wie sein Christus durch die Straßen getragen wird? Wie empfindet er die Reaktion des Publikums in diesem sakralen Barocktheater Sevillas? Er lächelt verlegen, bevor er antwortet: "Aber ich konnte 'meinen' Christus doch gar nicht sehen. Dies ist eine Schweigebruderschaft und wir dürfen uns während der Prozession nicht umdrehen. Aber ich konnte Seine Gegenwart spüren. Als wir in die Kirche Santa Ana einzogen, konnte ich einen kurzen Blick auf ihn erhaschen. Man fühlt etwas sehr Komplexes, das ich nicht in Worte fassen kann."

Seit seinem beeindruckenden "Cristo de Pasión y Muerte" erhielt er immer mehr Aufträge für Hauptfiguren der Semana Santa; vor allem von den jungen Bruderschaften und neuen Pfarrkirchen der Vororte Sevillas: die wunderschöne Virgen del Mayor Dolor (Jungfrau des größten Schmerzes) und den "Jesus der Hoffnung" sowie sämtliche andere Statuen für den größten Paso von Sevilla – La Milagrosa –, der 2011, getragen von 55 starken Männern, seine Prozessions-Premiere erlebte.

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Im Gegensatz zu den großen Meistern des 17. Jahrhunderts (denen dies verboten war, da die Berufe Bildhauer und Maler strikt getrennt wurden) bemalt Navarro Arteaga seine Skulpturen und Reliefs selbst. So präsentiert sich der neue Star der Sevillaner Bildhauer als ein sehr kompletter Künstler, der jeden Schritt "vom Holzblock zum Christus" selbst entwirft und durchführt bis zur farbenprächtigen Vollendung eines Werks. Beim Material entscheidet er sich – hier stimmt er mit den Künstlern des Goldenen Zeitalters (16. Und 17. Jahrhundert) überein – fast immer für Zedernholz. Dies sei "sehr widerstandsfähig und extrem langlebig, obwohl es wie alles auf dieser Erde auch nicht ewig sein wird..."

Seine Kunst hingegen lässt uns von der Ewigkeit träumen. Und jetzt muss der Meister fortfahren, an seinem nächsten Christus zu meißeln. Also will ich zum Abschied von ihm wissen: "Wie ist so das Gefühl, nachdem man eine Statue vollendet und abgeliefert hat – wie die Leere, die bleibt, wenn ein Kind das Elternhaus für immer verlassen hat?"

Navarro Arteaga lacht kurz, bevor er klar stellt: "Ich würde eher das Gegenteil behaupten. Jede abgelieferte Skulptur lässt den eigenen Lebenslauf als Künstler wachsen. Ich bin kein Egoist, will nichts für mich allein behalten... also ist das Herausgeben eines Werks kein Verlust, sondern vielmehr, als ob die Statue dadurch nochmal neu geboren würde. Das Werk lebt schließlich nur im und durch den Kontakt mit dem Publikum."

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Und so wünschen wir seiner Werkstatt beim Abschied noch viele "Geburten", hat doch Sevilla als Stadt der Kunst durch seine Werke viel dazu gewonnen.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Link zur Site des Künstlers: www.navarroarteaga.com



Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

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