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spanien: Der Heilige Dienstag in Sevilla
Barockes Spektakel zwischen Reform und Tradition
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


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Teil 9: Der Abschied
NORA VEDRA
[art. 2]
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Die Ankunft Dom João VI in Rio de Janeiro
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[art. 3]
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[art. 4]
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[art. 5]
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[kol. 1]
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ANA KARINA ROCHA DE OLIVEIRA
[kol. 2]
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TORSTEN EßER
[kol. 3]




[art_1] España: Der Heilige Dienstag in Sevilla
Barockes Spektakel zwischen Reform und Tradition

15.00 Uhr. Doña Jiménez blickt zufrieden in die Runde. Ja, es hat uns geschmeckt. Kein Wunder, denn der von ihr aufgetischte Klippfisch-Kichererbsen-Eintopf war so lecker, dass jeder mindestens zwei Portionen von dieser traditionellen und für Sevilla typischen Karwochenmahlzeit gegessen hat. Doña Jiménez ist bereits 82, seit fast 10 Jahren verwitwet und natürlich ganz in Schwarz gekleidet. Wie immer hat sie einen riesigen Kessel von dieser kalorienreichen Köstlichkeit zubereitet, so dass ihre Enkelin Rosita schon meinte, damit könnte man das halbe Stadtviertel satt kriegen. Und obwohl es noch lange nicht Abend ist an diesem Heiligen Dienstag der Semana Santa, hat unsere großzügige Gastgeberin uns auch eifrig vom fruchtigen Barbadillo-Weißwein eingeschenkt. Danach gab es natürlich noch "Torrijas", diese nach Wein duftenden und in Honigsirup schwimmenden Süßigkeiten, die von allen Teilnehmern und Pilgern während der Karwoche zu Dutzenden vertilgt werden. Nun kippen wir eilig einen extrem starken "Café cortado" hinterher, um unsere vom Kalorienansturm überforderten Körper nicht ins Koma fallen zu lassen. Eigentlich wäre jetzt eine kleine Siesta angesagt – doch nicht heute! Doña Jiménez wird unruhig, greift sich ihren Stock und drängt zum Aufbruch. Denn wie sie mahnend sagt: "Die Prozessionen warten nicht auf uns!"

Ein Stadtviertel auf der Via Dolorosa
Kurz vor 16.00 Uhr stehen wir inmitten einer wogenden Menschenmenge auf den Treppenstufen des Inmaculada-Denkmals im Zentrum der Plaza de Triunfo. Es ist sommerlich warm und wie zu befürchten war, fühlen wir uns etwas benebelt vom guten Barbadillo-Wein. Durch dunkle Sonnenbrillen blicken wir in die Runde. Ein bunt gemischtes Publikum wartet hier neben der imposanten Kathedrale von Sevilla auf die erste Prozession des Tages:

Man sieht distinguierte Sevillaner Ehepaare in konservativer Festtagskleidung und mit aristokratischem Gesichtsausdruck, daneben Scharen von braun gebrannten Jugendlichen im sportlichen Outfit und bewaffnet mit Digitalkameras und nervig klingenden Mobiltelefonen, Großfamilien, ausgestattet mit Proviant für den ganzen Tag und Klappstuhl-Kreise bildend, mittendrin etwas verloren wirkende Touristen, die orientierungslos in Semana Santa Programmen blättern.
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Kaum zu glauben, dass so verschiedene Menschen sich für dieselbe Vorstellung begeistern können. Neben uns sitzt Doña Jiménez auf ihrem Klappstühlchen (was aussah wie ein Spazierstock ist ein Klappstuhl aus Stoff mit Griff, der in zusammen gefaltetem Zustand als "Wanderstab" benutzt werden kann). Sie wirkt verunsichert: "So viele Menschen und dabei ganz Fremde..." – das hätte es früher nicht gegeben, meint sie. Früher hätten an dieser Stelle des Prozessionswegs vielleicht vierzig Zuschauer (und alles bekannte Gesichter) gestanden, aber doch nicht Tausend!

Doch kurz darauf scheint sie zufrieden, denn schmetternde, leicht schräge Trompetenfanfaren kündigen die Prozession von El Cerro de Águila an. Diese Bruderschaft gehört zu den jüngsten in Sevilla, wurde 1945 gegründet. Prozessionen zur Kathedrale während der Semana Santa führt sie aber erst seit 1989 durch. Hinter der leidenschaftlich trompetenden Musikkapelle schreiten in einer Doppelreihe die "Nazarenos" , die auf den Spuren des Erlösers Jesus von Nazareth seinen Passionsweg imitieren.

Sie sind unheimlich anzusehen mit ihren wehenden weißen Gewändern und Gesichtern, verhüllt von bordeauxroten Kapuzen, die nur die Augen freilassen. Touristen fühlen sich an den Ku-Klux-Klan erinnert, aber diese Verkleidung der katholischen Sevillaner Büßer ist viel älter und geht zurück auf die Büßerkapuzen, die während der mittelalterlichen Pest-Prozessionen getragen wurden.

Eine zweite Blaskapelle spielt einen Trauermarsch zu Ehren des "Christus der Verlassenheit". Sein "Paso" – die pompöse Altarbühne aus kunstvoll geschnitztem Edelholz, auf der sich sein Kreuz erhebt – wird nun im Takt der Musik herangetragen und kommt dicht vor uns zum Stehen.
Cristo del Desamparoy Abandonado [zoom]

Die Träger, die hinter schweren Samtvorhängen unter dem Paso verborgen sind, kriechen hervor und greifen schwitzend nach Wasserflaschen. Eine neue Mannschaft steht zur Einwechslung bereit, alle mit dem typischen, turbanähnlichen Kopfschutz mit Nackenrolle, um das Gewicht abzufedern. Wenn man weiß, dass dieser ca. zwei Meter breite und sechs Meter lange Paso zwischen zwei und drei Tonnen wiegt, steigt die Bewunderung für diese Helden der Semana Santa, von denen ein jeder mindestens einen Zentner auf seinen Schultern trägt, noch dazu blind, nur dem Takt der Musik und den Kommandos eines Dirigenten (Capataz) folgend. Bei der Prozession von El Cerro ist es besonders wichtig, dass mehrere Mannschaften von Trägern zur Verfügung stehen, denn sie hat den weitesten Weg von allen: insgesamt muss sie ca. 14 Kilometer von ihrer Kirche in einem nördlichen Vorort bis zur Kathedrale und zurück bewältigen und ist somit fast 15 Stunden unterwegs, von halb zwölf Uhr mittags bis um halb drei Uhr nachts. Als die neuen Träger den Paso wieder empor wuchten, wandern unsere Blicke nach oben.

Im Zentrum der gekreuzigte Christus der Verlassenheit, ein beeindruckendes Werk des Barockbildhauers Francisco de Ocampo aus dem frühen 17. Jahrhundert. Rings um diese Hauptfigur hat der neobarocke Künstler Juan Manuel Miñarro 1990 eine Szene von mitreißender Dramatik komponiert. Zwei römische Soldaten beobachten mit angespannter Körperhaltung und gegensätzlichem Gesichtsausdruck die Kreuzigung. Der eine blickt brutal und grausam, ein gewissenloser Vertreter der Macht, die diese Hinrichtung vollzogen hat; der andere wirkt gutmütig, voller Mitleid ist sein Blick. Vor dem Kreuz richtet der Zenturio Cornelius die Augen nach oben zum tot am Kreuz hängenden Christus. In der rechten Hand hält er noch die Lanze, aber in seinem Gesicht zeigen sich Schuld und Ergriffenheit: er hat den Gekreuzigten als Erlöser erkannt. Besonders dynamisch präsentiert sich die Skulptur des halbnackten Folterknechts. Sein Muskel bepackter Arm scheint auf das Kreuz zu zeigen, sein Gesicht ist verzerrt vor Entsetzen, er hat den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet, die in Todesangst weit aufgerissenen Augen erblicken die Sonnenfinsternis, die nach dem Tod Christi die Erde mit Dunkelheit überzieht.

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Die dröhnende Musik und die heitere Volksfest-Stimmung, die gar nicht zu der mystischen Szenerie passen will, holen uns aus unserer Meditation, schwankend bewegt die Bühne sich der Kathedrale entgegen. Auf dem weiten Weg wird die Prozession vom beinahe ganzen Stadtviertel begleitet. Wer nicht als Nazareno mitgeht, begleitet die Prozession als Wasserträger oder in einer anderen nützlichen Funktion. Der Vorort im Norden steht wie ein Mann voller Enthusiasmus hinter seiner Bruderschaft; der Strom der Nazarenos scheint kein Ende zu nehmen. Es sind mehr als 1700, die längste Prozession des Tages und ein stimmungsvoller Auftakt für diesen Martes Santo.

Die Hälfte des Himmels
Um 16.30 Uhr stehen wir in einer großen Zuschauermenge gegenüber dem Portal der schönen Mudéjarkirche Omnium Sanctorum von 1340, aus der schon seit einer Viertelstunde die pechschwarz vermummten Nazarenos der Bruderschaft "Los Javieres" in einer langen Doppelreihe strömen. Voran getragen wird ein betont einfaches Leitkreuz aus unbearbeiteten Baumstämmen und die ganze Prozession ist geprägt von asketischer Strenge. Da wirkt es überraschend, dass ausgerechnet diese auf den ersten Blick so konservative, 1946 auf Veranlassung von Jesuiten, gegründete Bruderschaft eine entscheidende Pioniertat auf dem Weg zu modernen Reformen vollbrachte. Sie war die erste von allen Bruderschaften Sevillas, die 1986 endlich auch Frauen als "Nazarenas" die Teilnahme an der Prozession erlaubte. Während der folgenden drei Jahre kamen zwei weitere Bruderschaften des "Heiligen Dienstags" hinzu – San Esteban und La Candelaria – die ebenfalls beschlossen, Frauen in ihren Reihen aufzunehmen. Damit übernahmen die Bruderschaften des Dienstags eine Vorreiterrolle bei der längst überfälligen Gleichberechtigung der Geschlechter. Inzwischen lassen etwa 80% der 60 Bruderschaften Sevillas die Teilnahme von Frauen als Nazarenas zu und haben ihre Regeln dementsprechend geändert. Die übrigen werden hoffentlich auch bald erkennen, dass Frauen die "Hälfte des Himmels" sind – schließlich gibt es ja in fast jeder Prozession zwei Pasos: der eine Christus und der andere Maria gewidmet.

Wir fragen Doña Jiménez, ob sie gern Nazarena geworden wäre, wenn sie damals die Wahl gehabt hätte. Sie schaut uns verwundert an, als ob sie jemand gefragt hätte, ob sie gerne atme. "Oh ja, natürlich! Das war ein geheimer Wunsch von mir, viele Jahre lang", murmelt sie, mehr zu sich selbst als zu uns gewandt. "Aber jetzt bin ich ja schon zu alt dafür, doch ich freue mich, dass meine Rosita nächstes Jahr mitgehen wird."

Omnium Sanctorum [zoom]
Paso, Los Javieres

In diesem Moment hellt ein goldenes Strahlen die nachdenkliche Stimmung auf, denn die prunkvoll vergoldete Altarbühne des "Christus der Seelen" wird jetzt aus dem düsteren Kirchenportal heraus getragen und reflektiert das Sonnenlicht. In ihrem Zentrum erheben sich das Kreuz und eine neobarocke, mit beeindruckendem Naturalismus modellierte Christusskulptur, die ohne musikalische Begleitung getragen wird. Der Paso mit der Jungfrau Maria unter dunkelrotem Baldachin bewegt sich dagegen im Takt eines Trauermarsches und folgt dicht auf den ersten Paso, da Los Javieres mit 400 Nazarenos die kleinste Prozession am Dienstag der Karwoche entsendet. Wir schauen noch eine Weile zu, wie sich der lange Mantel der Madonna, verziert mit filigraner Goldstickerei, im Rhythmus der Musik schaukelnd entfernt, bevor wir uns den Studenten zuwenden. Genauer gesagt: ihrer Bruderschaft.

Der Herrscher des Schweigens
18.00 Uhr in der Calle Gamazo. Wie unwirkliche Schatten schreiten die Nazarenos der Studenten-Prozession in einer Doppelreihe durch das gleißende Abendlicht, von Kopf bis Fuß pechschwarz verhüllt, die großen Altarkerzen streng über Kreuz tragend und von unheimlichem Schweigen begleitet. "Todesschatten" – murmelt Doña Jiménez leise neben uns und starrt wie in Trance auf die lautlos vorbei huschenden Kapuzenmänner. Ab und zu sieht man reich bestickte Standarten, die uns daran erinnern, dass es keine finsteren (Alp)Traumgestalten sind, die hier durch die Straße ziehen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, die vielleicht für das Gelingen des nächsten Examens beten. Die Standarten repräsentieren nämlich die einzelnen Fakultäten und Bildungsbereiche: Jura, Geographie, Kunstgeschichte usw.

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Seit ihrer Gründung 1926 haben die "Estudiantes" immer wieder mit neuen Ideen für frischen Wind in der Semana Santa gesorgt. Überhaupt kann man den Heiligen Dienstag als den Tag der mutigen Reformen bezeichnen. Während Los Javieres, San Esteban und La Candelaria die Vorreiter bei der Gleichberechtigung der Frauen waren, führten die Studenten eine andere bahnbrechende Reform ein, durch die im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts die Prozessionsordnung von Grund auf geändert wurde. Was heute selbstverständlich ist, war 1973 eine Revolution. Die Studenten taten etwas Unerhörtes, indem sie ihre beiden tonnenschweren Pasos selbst trugen. Bis dahin war es zumindest im 19. und 20. Jahrhundert üblich, die Träger der Altarbühnen zu bezahlen. Dabei handelte es sich meist um stämmige Hafenarbeiter, die gar nicht zur Bruderschaft gehörten und sich ein Zusatzverdienst an den Feiertagen sichern wollten. Manchmal waren sie halb betrunken und oft war es ihnen egal, ob sie Madonnen oder Sandsäcke trugen. Damit machten die Studenten Schluss: sie setzten erstmals junge Mitglieder der eigenen Bruderschaft als unbezahlte Träger ein, die sogar einen symbolischen Preis zahlen mussten, um den Paso tragen zu dürfen. Dies sei schließlich eine heilige Ehre – so die neue Auffassung, die sich innerhalb weniger Jahre in allen Bruderschaften Sevillas durchsetzte. Der Anfang war schwer, denn um eine gut eingespielte Trägermannschaft zu bilden, ist jahrelange Übung erforderlich. Und natürlich reicht eine Mannschaft (die je nach Gewicht des Paso 35 bis 70 Träger umfasst) nicht aus; man braucht mindestens drei zum Auswechseln, denn ohne Pause kann niemand mehr als einen Zentner heilige Fracht bis zu 12 Kilometer durch Sevilla tragen.

Aber die Anstrengung der Studenten hat sich gelohnt, denn auf ihrem Altar befindet das kostbarste Kunstwerk dieses Tages: auf einer betont schlichten Holzbühne nähert sich der "Christus des Guten Todes", eine geniale Barockskulptur von Juan de Mesa (1583 – 1627).

Im Jahr 1620 schuf der beste Schüler des großen Meisters Martínez Montañés dieses schonungslos realistische Abbild des Todes.
Cristo de la Buena Muerte [zoom]

Damit gelang ihm eine Darstellung voll barocker Dramatik: der Erlöser hängt tot am Kreuz, doch eine majestätische Aura umgibt ihn. Seine Erscheinung löst eine Welle der Stille aus. Wir müssen schlucken als der Paso in Zeitlupe vor uns abgesetzt wird. Auf einem Hügel violetter Lilien erhebt sich das Kreuz. Unser Blick bleibt haften auf den blutüberströmten, von einem einzigen Nagel durchbohrten Füßen, die wie alle Details dieses Kunstwerks mit brutalem Realismus die Spuren der Folter und des Todeskampfs zeigen: die zerschlagenen Kniegelenke, die tiefe Wunde des Lanzenstiches, die blutigen Kratzer der entfernten Dornenkrone, von der einzelne Dornen sich in die Stirn gebohrt haben. Die Augenlider sind halb geschlossen, der Körper ist zusammen gesunken in Todesstarre, aber die weit gespannten Arme scheinen sich zu öffnen für eine Umarmung der Betrachter. Eine Skulptur geschaffen für mystische Meditation.

Plötzlich attackiert das profanste aller Geräusche die hundertfache Stille: der schrille Klingelton eines Mobiltelefons in der Hand eines 15-jährigen Mädchens, das auch sofort zu plappern beginnt, als würde man sich in der Vorhalle einer Diskothek befinden. Doña Jiménez schaut grimmig auf die Göre, hebt schon mit beängstigender Entschlossenheit ihren Stock und holt aus – im letzten Moment hält Enkelin Rosita sie zurück, sonst wäre dieses Mobilphone von Nokia dem heiligen Zorn zum Opfer gefallen.

Ein Balkon für eine Madonna
19.00 Uhr in der engen Gasse Candilejo (in der Prosper Merimée in seiner weltberühmten Opernvorlage "Carmen" seine Protagonistin wohnen lässt). Wir blicken in den Himmel. Die Sonne steht bereits tief, erreicht nur noch die obere Hälfte der Häuserzeile gegenüber. Das unvergleichliche, "atlantische" Licht des andalusischen Südwestens zeichnet tiefe Schatten von Balkonen und Laternen auf die Wände. Strahlendweiß präsentieren sich die Nazarenos der populären Bruderschaft La Candelaria, die 1921 neu gegründet wurde. Rasch ziehen sie vorbei und schon füllen sich die Balkone mit Zuschauern. Zwei Kinder klettern auf einen Müllcontainer, um besser sehen zu können. Wie von unsichtbaren Händen gezogen gleitet die erste der beiden Altarbühnen durch die Gasse.

Auf dem prachtvollen Paso steht einsam der sein Kreuz nach Golgotha tragende "Christus des Heils", ein Meisterwerk des Barockkünstlers Francisco de Ocampo (Anfang 17. Jahrhundert). Diese Christusstatue ist die einzige der Sevillaner Semana Santa, deren Gewand nicht aus Stoff, sondern Teil der Bildhauerarbeit und damit aus Zedernholz ist.
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Das edle Gesicht ist gezeichnet von der Anstrengung des Opfergangs und den Blutspuren unter der Dornenkrone. Der sanfte Blick drückt demütige Hingabe und mystische Versenkung aus – so als würde Christus einen Moment innehalten auf seiner Via Dolorosa.

Seit Jahrhunderten wird der Christus des Heils in Sevilla als wundertätig angebetet und in einer Sommernacht 1922 machte er seinem Namen alle Ehre. Der Gründer der Bruderschaft, der wegen seines vollmondrunden Gesichts von allen nur "Pepe el Planeta" genannt wurde, wandte sich in einem Moment der Verzweiflung an seinen Christus. Seine kleine Tochter hatte sehr hohes Fieber, mehrere Ärzte konnten nicht helfen und waren ratlos, ihr Tod schien unausweichlich. So ging der Großmeister der Candelaria gegen Mitternacht zur Nikolauskirche, um vor dem Altar seines Christus zu beten.

Da die Kirche um diese Zeit geschlossen war, hämmerte er so lange gegen das Tor, bis der Küster wach wurde und ihm aufschloss. Stundenlang kniete Pepe el Planeta vor der Heil bringenden Christusstatue. Als er am frühen Morgen nach Hause kam, war das Fieber der Tochter zurückgegangen und wenig später wurde sie gesund. Eine medizinische Erklärung gab es nicht, alle sprachen von einem Wunder.
Cristo de La Candelaria [zoom]

Applaus begleitet den Christus und seine Träger als der Paso nun goldstrahlend am Ende der Gasse verschwindet. Zwanzig Minuten oder 600 Nazarenos später erscheint unter dem Jubel des Publikums und begleitet von den Klängen des Marsches "Candelas del Cielo" die Candelaria-Madonna. Diese Himmelskönigin wurde 1923 vom neobarocken Bildhauer Galiano geschaffen. Als sie jetzt umhüllt von einer Weihrauchwolke neben uns zum Stehen kommt, geht ein zufriedenes Raunen durch die Zuschauer. Alle betrachten ihr schönes Gesicht, über dem sich als Abglanz des Nachthimmels ein besonders eleganter Baldachin wölbt. Eine Kostbarkeit aus Samt und Silber; die einzigartige Farbe des Stoffs changiert zwischen blau und dunklem Grün. Da die gleichnamige Candelaria-Madonna von Teneriffa die Schutzpatronin der Kanarischen Inseln ist, nimmt oft ein hoher Würdenträger der Kanaren hier in Sevilla an der Prozession teil. Eine Menschentraube hängt förmlich an ihrem silberblauen Mantel, als sie ihren Weg durch das Gassenlabyrinth rund um den Alfalfa-Platz fortsetzt.

La Candelaria musste in ihrer Geschichte mehrfach erfahren, dass einige Gassen des Prozessionswegs für den prächtigen Baldachin der Jungfrau zu schmal waren: 1924 musste in der Calle Almirante Hoyos ein Balkon abmontiert werden und ein Jahr später wurden an zwei Häusern im Viertel Santa Cruz sogar Gesimse abgeklopft, damit diese blau gekleidete Himmelskönigin dort im Triumphzug vorbei marschieren und der Gasse ihre Aufwartung machen konnte! Eine so leidenschaftliche Marienverehrung, der sogar halbe Hausfassaden freiwillig geopfert werden, gibt es wohl nur in Sevilla.
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Schwarze Schatten an der Alcázarmauer
20.00 Uhr. Es ist die blaue Stunde, die Sonne ist untergegangen, ihre letzten Strahlen haben sich zurück gezogen von Zinnen und Türmen. Schwärme von Mauerseglern – Boten der Nacht - kreisen um den Glockenturm der Kathedrale. Wir stehen in der schmalen Gasse Alcazaba, gegenüber den tausendjährigen Mauern des Alcázar, der Königsburg im Herzen Sevillas. Hier warten wir seit einer halben Stunde, denn dieser Schauplatz gehört zu den begehrtesten während der ganzen Semana Santa – und er ist wirklich kein Geheimtipp. Da die Prozession der Bruderschaft Santa Cruz als einzige den Weg durch die enge Gasse entlang der Burgmauern wählt, wird dieser Standort in allen Semana Santa Führern empfohlen, obwohl maximal zwei Zuschauerreihen hineinpassen. Und trotz des Gedränges, das man in Kauf nehmen muss, um den mühsam eroberten Platz zu verteidigen, lohnt sich das Warten, denn der Hauch der Jahrhunderte, der die maurischen Zinnen umweht, macht diese Gasse zu einer einzigartigen Bühne für das sakrale Spektakel, das nun beginnt. Schwarze Schatten schreiten gemessenen Schrittes die Burggasse zum Platz des Triumphes herunter.

Es herrscht Schweigen in den Reihen der Zuschauer, ab und zu unterbrochen durch Kinderquengeln oder das Seufzen von Doña Jiménez, die sich auf ihren Stock stützt. Nach einer Viertelstunde mischen sich melancholische Oboentöne in das Gemurmel des Publikums. Erwartungsvoll blickt man zum Ende der Gasse, wo jetzt der hohe Schatten eines Kreuzes auf die Mauern des Alcázar geworfen wird.
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Dann dringt ein Goldschimmer durch das Dämmerlicht. Der Paso mit dem "Christus des Erbarmens" gleitet langsam hinab durch die Schlucht des Schweigens entlang der Burgmauer. Außergewöhnlich ist diese vergoldete Altarbühne, auf der Maria als Schmerzensmutter vor dem gekreuzigten Erlöser kniet. Sie wurde im neugotischen Stil angefertigt – eine Ausnahme im barocken Sevilla. Unter den kelchförmigen Kerzenkandelabern und den gotischen Reliefs fallen die wunderbaren Miniaturgemälde ins Auge, deren Farbenpracht mit dem Gold um die Wette leuchtet. Die Pracht des Paso lenkt fast zu sehr ab von der Hauptfigur. Den entrückten Blick zum Himmel gerichtet, krampft dieser Christus des Erbarmens alle Muskeln zusammen im letzten Augenblick, bevor er sein Leben aushaucht und am Kreuz zusammenbricht. Ein ausdrucksstarkes Meisterwerk, das um 1680 von Pedro Roldán geschaffen wurde.



Ein Kuriosum aus den Annalen der Bruderschaft: als Santa Cruz 1905 den "Heiligen Dienstag" als neuen Prozessionstag in Sevilla einweihte, blieb ihre erste Bußprozession unvollendet. Denn der Paso war so breit, dass er nicht durch die enge Gasse Segovias passte, so dass man die Kerzenkandelaber abmontieren musste. Daher hatte die Prozession enorme Verspätung und als sie nach Mitternacht am Ziel ihres Weges – der Kathedrale – ankam, hatte diese bereits ihre Pforten geschlossen! Die Nazarenos von Santa Cruz mussten also damals ohne den Segen des Allerheiligsten in der Kathedrale den Rückweg antreten...



Der Christus der guten Reise
Gegen 23.00 Uhr in der Calle San Esteban. Leuchtend blauer Stoff schimmert im Kerzenlicht. Vor uns defilieren die Nazarenos der Bruderschaft San Esteban, die seit ihrer Gründung 1926 in der Mudéjarkirche gleichen Namens residiert und in ihrem Stadtviertel tief verwurzelt ist. Viele der maskierten Büßer wirken müde so kurz vor dem Ende der Prozession, ihr Gang ist schleppend, in den kurzen Pausen stützen sich einige gegenseitig und flüstern miteinander, wir sehen auch viele Kinder, die an der Hand ihrer Eltern mitgehen. Immer wieder kann man beobachten, wie ein Nazareno sich mit der rechten Hand die verrutschte Gesichtsmaske nach unten zieht, um die Augenschlitze wieder in die richtige Position zu bringen. Dann wird man unvermittelt angestarrt von einem glänzenden Augenpaar, das unheimlich aus der Tiefe der blauen Kapuze hervor leuchtet. Nur Sekunden, dann zieht der blaue Schatten mit wehendem Umhang weiter und verschwindet im dunklen Portal der Kirche.

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Jetzt nähert sich, begleitet von schmetternden Trompeten, die vergoldete Altarbühne mit dem "Christus der guten Reise". Diese Christusstatue aus dem 16. Jahrhundert, die zu den ältesten der Heiligen Woche Sevillas gehört, verdankt ihren kuriosen Namen dem Umstand, dass die Kirche San Esteban nahe am (inzwischen leider abgerissenen) Stadttor Puerta Carmona liegt und viele Reisende, die Sevilla durch dieses Tor Richtung Osten verließen, vor dieser Statue für eine sichere Heimkehr beteten. Heute ist dieser Christus der Schutzpatron aller spanischen Reisebüros. Es handelt sich um ein außergewöhnliches Kunstwerk der Renaissance. Während tränenreiche Madonnengesichter keine Seltenheit, sondern die Regel in Sevilla sind, ist dieser Christus im Purpurmantel der einzige, der Tränen zeigt.

Dem unbekannten Bildhauer ist mit diesem weinenden Erlöser, der von allen Freunden verlassen und den Folterknechten ausgeliefert wurde, eine beklemmende Darstellung von Einsamkeit und stummer Angst gelungen. Wie bei El Cerro wurde auch hier im 20. Jahrhundert um eine alte Skulptur herum eine neue Komposition geschaffen. Sie zeigt die Verspottung Christi durch vier Folterer, von denen einer zum Schein vor ihm niederkniet, nachdem er ihm die Dornenkrone aufgesetzt hat. Die vier Nebenfiguren wurden 1949 von einem der wichtigsten neobarocken Künstler Sevillas, Antonio Castillo Lastrucci, als expressive Karikaturen mit von Hass und Grausamkeit verzerrten Gesichtszügen geschaffen. Die ganze Szene lebt vom Kontrast zwischen dem würdevollen Gesicht Christi und den höhnisch grinsenden Fratzen der Folterknechte.

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Cristo del Buen Viaje [zoom]

Für diese Bruderschaft agieren zwei Brüder als Paso-Führer (Capataz), die zu einer berühmten "Dynastie" gehören: seit Generationen gelten Angehörige der Familie Ariza als die besten ihres Fachs in Sevilla. Das ist bei dieser Prozession auch besonders wichtig. Denn die Kirche San Esteban ist 700 Jahre alt und ihr frühgotisches Portal ist eines der niedrigsten in der Stadt. Schon die Rückkehr des Christus der guten Reise ist ein schwieriges Manöver, bei dem der Paso auf Knien durch dieses Portal getragen werden muss, um nicht hängen zu bleiben. Doch für den schönen, transparenten Baldachin der Jungfrau müssen die Träger jetzt das Letzte geben: er ist so hoch, dass sie den Paso fast im Liegen durch das Portal hieven müssen. Dabei brüllt der Capataz aufgeregt Kommandos mit immer heiserer Stimme: "...rechts ein paar Zentimeter vor, links ein paar zurück...! ... ganz langsam ... linke Ecke halt und etwas zurück...!"

Ruckartig zerren die Costaleros die beängstigend schwankende Kerzenpyramide nach innen. Technisch ist dies einer der schwierigsten Momente der Semana Santa. Das dicht gedrängte Publikum fiebert mit – ein erschrecktes "Uy!" geht durch die Menge, als einer der Silberstäbe des Baldachins das gotische Portal streift und hängen zu bleiben droht. Der nervöse Aufschrei des Capataz "rechte Seite sofort zurück!" verhindert Schlimmeres und schließlich ist das schweißtreibende Werk nach zentimetergenauem Dirigieren vollbracht. Die Pforten schließen sich langsam, nachdem die Träger den Paso der Madonna im Innern der Kirche wieder aufgerichtet haben. Applaus und Olé-Rufe branden durch die Zuschauerreihen und anschließend dürfte der völlig erschöpfte Capataz seinen Stimmbändern einen Kamillentee gönnen – oder doch einen Sherry?

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Barockes Theater vor dem Pilatus-Palast
Um Mitternacht auf der Plaza de Pilatos. Wir stehen zwischen duftenden Orangenbäumen neben dem "Pilatus-Palast". Seinen volkstümlichen Namen erhielt dieser grandiose Renaissance-Palast von 1529 durch den Umstand, dass hier der Ausgangspunkt der Kreuzwegs-Prozession war, bevor ab 1604 die Karwochen-Prozessionen zur Kathedrale pilgerten.

Aus dem Dunkel der engen Straße Águilas wird ein golden leuchtendes, ultrabarockes Leitkreuz getragen, das mit tanzenden Engeln verziert ist. Getragen wird es von einem Nazareno in weißem Gewand und violetter Kapuze, auf der das prachtvolle Wappen der Bruderschaft von San Benito erscheint. Diese Vereinigung sendet 1500 Nazarenos durch die Straßen und wurde eigentlich bereits 1554 gegründet – und zwar auf der anderen Flußseite in einer Kapelle in Triana. Nachdem diese 1868 abgerissen worden war, hörte die Bruderschaft vorübergehend auf zu existieren, wurde aber 1921 in der Kirche San Benito neu gegründet.

Schon nähert sich, begleitet von Trommelwirbeln, der größte Paso des Tages: eine pompöse, neobarocke Bühne. Für die auf ihr dargestellte Szene gibt es keinen besseren Ort als vor dem Palast des Pilatus. Denn dieser Paso zeigt Christus gefesselt vor Pontius Pilatus. Entworfen wurde dieses Szenenbild 1928 von Antonio Castillo Lastrucci, der als Bildhauer auch jede der acht Skulpturen geschnitzt hat. Ihm gelang es mit dieser Komposition, damals eine ganz neue Dynamik einzuführen. Während viele Paso-Szenen des 17. Jahrhunderts eine statische, ikonenhafte Theatralik aufweisen, wirkt diese Darstellung wie ein in der Bewegung erhaschter Schnappschuss. Pilatus, im wehenden Gewand und mit zum Ruf geöffneten Mund, zeigt mit aufgewühltem Gesichtsausdruck auf Jesus, als wollte er jedem einzelnen zurufen: "Ich wasche meine Hände in Unschuld! – Ihr wollt, dass ich ihn kreuzige!"
Wir wenden uns ab von Pilatus, dem Heuchler, der allerdings in Sevilla sehr milde beurteilt wird – denn ohne seinen Richtspruch hätte es nie eine Semana Santa gegeben!

Eine Welle (La Ola) für die Jungfrau des süßen Namens
3.00 Uhr nachts auf der Plaza de San Lorenzo, einem der schönsten Plätze Sevillas, der bei abgeschalteter Straßenbeleuchtung im Dunkeln liegt. Doña Jiménez, die eben noch auf ihrem Klappstühlchen, gestützt auf den Griff ein Nickerchen gemacht hat, ist jetzt wieder hellwach und ein seliges Lächeln erhellt ihr zerfurchtes Gesicht, denn gleich wird hier die Madonna erscheinen, die ihr die Liebste am heutigen Tag ist. Vor uns in blendendem Weiß die Nazarenos der Bruderschaft vom süßen Namen Jesu. Sie versuchen, die Ordnung in ihren Reihen aufrecht zu erhalten, aber einige stolpern mehr als dass sie schreiten. Nur wenige Meter vor dem Ende der Prozession fordert die auf dem langen Pilgerweg angesammelte Müdigkeit ihren Tribut. Einen der Nazarenos hält es kaum noch auf den Beinen, so dass er sich mit beiden Händen auf seiner schon erloschenen Altarkerze abstützen muss.

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Diese Bruderschaft ist eigentlich sehr alt, wurde 1585 gegründet, aber wie so viele ist sie irgendwann im 19. Jahrhundert "erloschen", um 1919 neu gegründet zu werden. Den ersten Paso der Prozession haben wir knapp verpasst und nur noch den goldenen Thron des Hohepriesters von hinten gesehen, bevor er im Portal der Kirche San Lorenzo verschwand. Nun ziehen – unheimlich anzusehen – die Büßer mit hängenden Kapuzen und schweren Holzkreuzen an uns vorüber.

Da nähern sich die Klänge des grandiosen Trauermarsches "Madrugá" (Morgendämmerung), immer lauter dringen Trompeten und Posaunen durch die Nacht, bis das strahlende Licht – die Kerzenpyramide der Jungfrau des süßen Namens – gleich einer riesigen Fackel den Platz erhellt.

Virgen del Dulce Nombre [zoom]
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Diese Madonna wurde 1924 von Antonio Castillo Lastrucci, dem meistzitierten Künstler des Tages, geschaffen und gehört zu den schönsten und populärsten in Sevilla. Ihre Erscheinung löst Jubel auf der Plaza de San Lorenzo aus. Umrahmt von kunstvoll aufgetürmten rosa Nelken und beleuchtet von 90 Altarkerzen, deren Wachs oft zu bizarren Formen zerlaufen ist, nimmt diese himmlische Schönheitsgöttin die Huldigung ihres Volkes entgegen. Man wüsste gern, durch welches Modell sich der Bildhauer damals inspiriert fühlte. Ihr sehr dunkles Gesicht mit den großen mandelförmigen Augen entspricht dem andalusischen Schönheitsideal – für die Darstellung der Mutter Gottes scheint soviel leidenschaftliche Sinnlichkeit fast zu gewagt. Aber die Sevillaner lieben ihre Madonnen gerade weil sie so menschlich wirken.

"Sie sieht müde aus", murmelt Doña Jiménez, "aber jetzt ist sie ja angekommen." Nicht nur die unsichtbaren Träger, eine Welle der Begeisterung scheint den dunkelblauen, gold glitzernden Baldachin auf den wenigen Metern zur Kirche zu tragen. Die letzten Töne des Marsches verklingen, die Jungfrau tanzt noch einmal im Kreis, hunderte von Händen berühren die Silberstäbe ihres Baldachins, bevor sie unter dem Portalbogen langsam den Augen des Publikums entrückt wird. Ein letztes Aufflackern der Kerzen, dann schließen sich die Pforten von San Lorenzo. Eine Weihrauchwolke schwebt in der Luft über tausenden von Gesichtern, die alle noch ganz traumverloren in die plötzliche Leere der Nacht starren.

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Vielleicht ist dies die Erklärung dafür, was heute die Faszination der Semana Santa ausmacht: in einer Zeit der Zersplitterung, in der die Gesellschaft geprägt ist von oft orientierungsloser Individualisierung, kommt hier eine riesige Menschenmenge zusammen, die in einem rauschhaften Gemeinschaftserlebnis nach demselben Geheimnis sucht, den gleichen Traum träumt. Den Traum von was eigentlich? – Diese Frage kann nur jeder für sich selbst beantworten. Die Antworten – tausend verschiedene – kann man in den Blicken der Menge finden, die jetzt langsam auseinander geht. Die Laternen leuchten wieder auf, die Bühne wird geräumt, der Traum ist vorüber.

Text: Berthold Volberg
Fotos: Berthold Volberg: El Cerro, Los Javieres, San Esteban
Vicente Camarasa: Los Estudiantes, Dulce Nombre, Santa Cruz
Christoph Schröder: La Candelaria

Literaturempfehlung: Martín Carlos Palomo García: "Semblanza Histórica de la Hermandad de la Candelaria", Sevilla 1996

Wir danken Rocío und Christoph für die Unterstützung aus Sevilla!

Recomendamos las webs de las Cofradías del Martes Santo:
http://www.doloresdelcerro.com
http://www.javieres.com
http://www.hermandadsanesteban.org
http://www.hermandaddelosestudiantes.org
http://www.hermandaddesanbenito.net
http://www.hermandadcandelaria.com
http://www.eldulcenombre.org
http://www.hermandaddesantacruz.com

Artículos de Berthold Volberg sobre la Semana Santa en Sevilla:
[Está cumplido: El Sábado Santo en Sevilla]
[El Lunes Santo: Entre Esplendor barroco y Tinieblas místicas]
[Miercoles Santo en Sevilla]
[La tarde del Viernes Santo en Sevilla]
[El Día de las Reinas del Cielo - Domingo de Ramos en Sevilla]
[Semana Santa en Sevilla: Jueves Santo, Triunfo de la Estética Barroca]
[Semana Santa en Sevilla - Las Enigmas de la Madrugá]
[La Madrugá con Guaraná - La segunda edición de nuestra crónica no muy seria de la Semana Santa (2007)]

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[art_3] Brasilien: Dom João VI endlich in Rio!

Teil 3 unserer Trilogie über die Überfahrt des portugiesischen Königshauses nach Brasilien.
(Teil 1 / (Teil 2)

Zwei Wochen nach Verlassen Salvador da Bahias erreicht die königliche Flotte schließlich ihren Bestimmungshafen: Rio de Janeiro. Mit etwa 60.000 Einwohnern war Rio damals der wichtigste Hafen der südlichen Halbkugel. Hier ankerten die portugiesischen Handelsschiffe auf ihrer Route zwischen Europa und Asien. Und hier wurden sowohl das aus Minas Gerais stammende Gold als auch Edelsteine verladen, deren Bestimmungsort Lissabon war. In jener Zeit fungierte Rio de Janeiro bereits als der wichtigste Knotenpunkt des portugiesischen Handelsimperiums.



Am 7. März 1808 lief die königliche Flotte in die Guanabarabucht ein. Aber erst gegen 16 Uhr des folgenden Tages verließ die königliche Familie die Schiffe, um an Land zu gehen. Nie zuvor hatte ein europäischer König den Boden auf dieser Seite des Atlantiks betreten. Die Bevölkerung Rios, die das noble Spektakel neugierig beobachtete, stellte konsterniert fest, dass es sich bei Dom João VI um einen kleinen dicken Mann handelte. Zudem trugen die Frauen des Hofes Turbane, auf hoher See waren sie Opfer eines gemeinen Läuseangriffs geworden. – Amüsant ist, dass schon bald nach ihrer Ankunft in Rio Turbane der letzte Modeschrei in der Kolonie werden sollten.

Der portugiesische Hof quartierte sich in den luxuriösesten Häusern und Palästen der Stadt ein. Bis zur Rückkehr nach Lissabon im Jahre 1821 sollten die wenigsten von ihnen jemals ihre Miete bezahlt haben. Zum Ausgleich erhob Dom João eine Vielzahl normaler Bürger in den Adelsstand. In den wenigen Jahren, in denen der Hof in Rio verweilte, wurden mehr Adelige ernannt als in den 300 Jahren zuvor in Portugal.



Da sich der Hof stets am finanziellen Abgrund befand, mussten neue Einkommensquellen erschlossen werden. Das erste Darlehen der brasilianischen Geschichte kam aus England und Dom João beeilte sich, die Banco do Brasil ins Leben zu rufen. Bereits 1820 musste diese allerdings ihre Tore wieder schließen. Die korrupten Beamten des Hofes lebten derweil von Schmiergeldern und illegalen Geschäften – bis heute gibt es viele Brasilianer, die die damaligen Sitten für den Beginn des brasilianischen Übels der Korruption und der schwarzen Kassen ansehen.

Mit der Öffnung der brasilianischen Häfen – per königlichem Dekret bereits kurz nach der Ankunft in Salvador erlassen – begannen nun die englischen Händler den brasilianischen Markt mit ihren günstigen Gütern von hoher Qualität zu überschwemmen. Selbst nach Napoleons Niederlage Jahre später und der noch späteren Rückkehr des Dom Joãos nach Lissabon sollte sich Portugals Wirtschaft von diesem Schlag nicht wieder erholen.

Der Aufenthalt des Hofes sorgte jedoch dafür, dass die Welt zum ersten Mal auf Brasilien aufmerksam wurde. Dom João lud einen illustren Kreis wichtiger europäischer Wissenschaftler und Künstler nach Brasilien ein.



Unter ihnen die beiden bayrischen Botaniker Karl Friedrich Philipp von Martius und Johann Baptist von Spix, die mehr als 10.000 Kilometer kreuz und quer durch Brasilien absolvierten. Zurück in Deutschland veröffentlichten die beiden ihr Mammutwerk über Brasiliens Fauna und Flora – bis heute eine wissenschaftliche Referenz. Und auch den beiden Malern Jean Baptiste Debret und Johann Moritz Rugendas verdanken wir unschätzbar wertvolle Zeugnisse über das Brasilien zu Anfang des 19. Jahrhunderts.

Während der Aufenthalt des Hofes für Brasilien und besonders für Rio de Janeiro viele wichtige Verbesserungen mit sich brachte, darbte Portugals Bevölkerung in ihrem vom eigenen König verlassenen Land vor sich hin. Immer lauter wurde der Ruf nach einer Rückkehr des Hofes nach Lissabon. Napoleon und die französische Bedrohung waren schon lange von der Bildfläche verschwunden und es gab eigentlich keine triftigen Gründe mehr, auf der anderen Seite des Atlantiks zu verweilen. So bestieg Dom João am 25. April 1821 mitsamt seinem Hofstaat die Schiffe der königlichen Flotte und segelte zurück in die ferne Heimat. Angeblich soll D. Carlota Joaquina, die Frau des Königs, vor dem Betreten des Schiffes ihre Schuhe aneinander geschlagen und gesagt haben: "Nicht einmal den Dreck an den Schuhen will ich aus diesem verdammten Brasilien als Erinnerung mitnehmen."



Zurück blieb Prinz D. Pedro I, laut zeitgenössischen Berichten die einzige Person der Königsfamilie, die nicht hässlich war. Er war einer von denen, die nicht nach Portugal zurückkehren mochten und die man deshalb "Ficos" (die Dagebliebenen) nannte. Und er war es auch, der am Nachmittag des 7. September 1822 einen Brief der portugiesischen Cortes erhielt, in dem man ihn aufforderte, unverzüglich nach Lissabon zurückzukehren und ihm zudem das Recht absprach, in Brasilien eigenständig Minister zu ernennen. Spontan riss er sich das portugiesische Abzeichen von der Uniform und erklärte: "Ich werde aus Brasilien ein freies Land machen – Unabhängigkeit oder Tod!"

Brasilien als unabhängige Nation war geboren.

Text + Fotos : Thomas Milz

[druckversion ed 03/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_4] Bolivien: Von Flussdelfinen und schwimmenden Bussen

Im teils schwer zugänglichen östlichen und nördlichen Tiefland Boliviens liegen riesige Sumpf- und Waldgebiete mit einer in ihrer atemberaubenden Diversität vielfach unerforschten Flora und Fauna. Ein Reisebericht aus der Pampa und von den Wasserwegen des grünen Nordens. – Teil 1 (Teil 2)

Amazonasdelfin, Río Yacuma
Überquerung des Río Mamoré

Wir verlassen Boliviens rasant wachsendes wirtschaftliches Zentrum, die subtropische Millionenmetropole Santa Cruz de la Sierra im Tiefland am Rande der Cordillera Oriental, gegen sieben Uhr abends. Es soll nach Norden gehen, ins tropische Bolivien, wo wir in die sagenhafte Welt an den Ufern des kleinen Río Yacuma eintauchen wollen. "Es un zoológico natural. Tienes que verlo", so die einstimmige bolivianische Meinung, ein natürlicher Zoo; ohne Zäune und Mauern, aber voller Tiere. Ein Muss für jeden naturbegeisterten Reisenden.

Ein zart orangefarbener Abendhimmel würde zu versonnenen Blicken aus den Fenstern der Flota Trinidad, unseres Überlandbusses, einladen. Würde - wären da nicht die geschätzten 20 Getränkehändler, Maiskolbenverkäufer und Süßigkeitendealer, die sich gerne auch mal zu dritt nebeneinander durch den engen Mittelgang des Busses quetschen, um den in ihren fleckigen Polstersesseln gefangenen Reisenden die eine oder andere kulinarische Spezialität unter die Nase zu halten. Als der Fahrer zum dritten Mal den Motor aufheulen lässt, leert sich der Bus, und wir heben ab - zumindest dem Geräuschpegel nach zu urteilen.

Kreuzungen, Geschäfte, bunte Markstände und Palmen gesäumte Mittelstreifen ziehen draußen vorüber. Der Geruch der überall brennenden Holzfeuer erfüllt den Innenraum, für Momente auch immer wieder Hupkonzerte und Musikfetzen, meist stampfende Cumbia-Rhythmen, die momentan schwer en vogue sind. An einer Tankstelle hält der Bus noch einmal an und entlässt den letzten an Bord gebliebenen fliegenden Händler hinaus in die pulsierende Dämmerung: einen etwa 40-jährigen cruceño mit blitzenden Augen und dünnem Oberlippenbart, der zuvor zwei – vom Publikum mit höflichem Lachen quittierte – Witze erzählt und dann neben einem selbstgebundenen Buch seiner Späße auch Kaugummis und quietschbunte Pillen gegen Rheuma und andere Leiden feilgeboten hat. Als das Orange des Himmels nur mehr zu erahnen ist, liegt das Stadtzentrum hinter und noch zwölf nächtliche Fahrstunden bis nach Trinidad vor uns.

Die Heilige Dreifaltigkeit und der Kokainhandel
Trinidad - Hauptstadt des Departamento Beni, 90 000 Einwohner, nur 14° südlich des Äquators im Amazonasbecken am Fluss Arroyo San Juan gelegen. Ursprünglich wurde die Stadt 1686 als jesuitische Missionsstation mit dem Namen La Santísima Trinidad, Die Heiligste Dreifaltigkeit, am Río Mamoré gegründet. Knapp 100 Jahre später zwangen allerdings Überschwemmungen und Seuchen die Dreifaltigkeit zu einer Umsiedlung an den heutigen Standort.

Eine zweifelhafte internationale Aufmerksamkeit wurde Trinidad zuletzt 1991 zuteil, als Einheiten der US-amerikanischen Anti-Drogenbehörde DEA (Drug Enforcement Administration) die Stadt kurzzeitig besetzten, um den florierenden Kokainhandel zu sprengen. Seit damals bestehen hier angeblich noch vereinzelt Ressentiments gegen Touristen und US-amerikanische Reisende.

Bei unserer Ankunft verhält sich allenfalls das Wetter abweisend. Es ist drückend schwül, und als wir aus dem Bus steigen, beginnt es erst nieselig und kurz darauf heftig zu regnen. Ein typischer tropischer Morgen.
Plaza General José Ballivián in Trinidad

Nach kurzem Suchen im vor warmer Feuchtigkeit dampfenden Busbahnhof finden wir eine Transportgesellschaft, die Busverbindungen nach Rurrenabaque, eine Kleinstadt nahe des Río Yacuma, unterhält, zumindest manchmal. "Depende del tiempo" – das hängt vom Wetter ab, sagt der kleine, rundliche Ticketverkäufer und schielt lächelnd mit einem vagen Kopfnicken gen tropfenden Himmel. Frühestens aber gehe es am Mittag los.

Wir wollen die Stunden bis zur Weiterfahrt nutzen und fahren mit einem der verbeulten, grün-weißen Taxis ins Stadtzentrum. Inzwischen hat es aufgehört zu regnen, aber die tief am Himmel hängende Wolkendecke bleibt grau und geschlossen. Auch Trinidad ist wie die meisten anderen bolivianischen Städte schachbrettartig aufgebaut. Eine Besonderheit der Stadt sind die offenen, parallel zu den Straßen verlaufenden und mittelalterlich anmutenden Abwasserkanäle, die vor den Hauszugängen von kleinen Betonbrücken überspannt werden. In der Mitte des urbanen Schachbrettes ist ein Feld ausgespart - die für südamerikanische Städte obligatorische plaza. Neben Palmen und blühenden Büschen fällt ein Springbrunnen ins Auge: Aus der Mitte eines mit grün-angelaufenen Jaguarköpfen verzierten Bassins ragt eine Stele empor, an deren Fuß sich abwechselnd lebensgroße, metallene Figuren von mit Pfeil und Bogen bewaffneten Ureinwohnern und Flussdelfinen befinden. Ein Vorbote dessen, was uns außerhalb von Trinidad erwartet.

Gegen zwölf Uhr mittags sind wir zurück am Busbahnhof. Unser Ticketmann begrüßt uns mit einem breiten Grinsen und breitet die Arme aus. Er habe die Fahrkarten bereits ausgestellt. Innerhalb der nächsten Stunde erwarte man den Bus. Zeit ist relativ, das gilt auch in Trinidad. Wahrscheinlich ist sie hier sogar etwas relativer als anderswo, aber wir bezahlen die 150 Bolivianos (etwa 15 Euro) für die Passage schon einmal und setzen uns zum Warten auf unsere Rucksäcke. Vier Stunden und genau so viele Zwischennachfragen später biegt unsere flota um die Ecke. Sie trägt den eigenwilligen Namen Vaca Díez, Kuh Zehn. Der Ursprung des Namens ist auch auf Nachfrage beim Fahrer nicht eindeutig ergründbar. Wahrscheinlich beziehe sich der Name auf die gleichnamige Provinz im Departamento Beni. Vielleicht gehöre das Busunternehmen aber auch dem bolivianischen Senatspräsidenten, Großgrundbesitzer und Erdöllobbyisten Hormando Vaca Díez aus Santa Cruz, einem reaktionären Widersacher des im Dezember 2005 gewählten ersten Präsidenten aus den Reihen der indígenas, Evo Morales Ayma.

Auf jeden Fall könnte der Bus dasselbe Alter wie der Politiker haben, rostfleckig, verbeult und windschief wie er vor uns steht. Im Innenraum riecht es nach Urin und mate de coca, ein Tee aus den Blättern des Kokastrauches Erythroxylum coca, der an den Osthängen der Anden wächst und dessen Kultivierung seit Jahrzehnten Gegenstand erbitterter Querelen zwischen bolivianischen Bauern, Regierungsbehörden und internationalen Drogenfahndern ist.

Das Schiebefenster klemmt und bald gesellt sich der Geruch nach nasser Wolle und Schweiß hinzu. Nur zwei Händler machen uns Reisenden ihre Aufwartung und verkaufen Erdnüsse in kleinen Papiertüten und neongrüne Brause. Als wir schaukelnd auf eine Erdpiste am Rande des Stadtzentrums abbiegen, beginnt es erneut zu regnen.
Kathedrale, Trinidad

Rinder, Reis und ein badender Bus
Bereits nach einigen Minuten Fahrt endet die städtische Bebauung und der Bus rumpelt abwechselnd durch kleine Dörfer und vorbei an Reisfeldern und sumpfig-grünen Wiesen, auf denen Rinder grasen. Rinder und Reis, zwei wichtige Ertragsquellen im Agrarland Beni. Unser nächstes Etappenziel liegt etwa 300 Kilometer westlich von Trinidad: Rurrenabaque, eine Kleinstadt am Ufer des Río Beni, der die Grenze zum Departamento La Paz bildet. Der eigentümliche Name der Stadt, die meist kurz Rurre genannt wird, geht auf die Sprache der Tacana-Ureinwohner zurück und bedeutet übersetzt in etwa "Wasserlauf der Enten". Einige Kilometer hinter Trinidad verschlechtert sich die Qualität der Straße plötzlich rapide, der Bus hüpft und schaukelt, wird zusehends langsamer und kommt schließlich ganz zum Stehen. Vor uns mündet die Straße mit einigen morschen Holzpfählen direkt in den Río Mamoré. Nach kurzem Warten legt ein schiefes, motorisiertes Holzfloß an dem vorsintflutlichen Kai an. Alle Passagiere müssen aussteigen, dann wird der Bus behutsam auf die schwankenden Bohlen manövriert. Schließlich dürfen auch wir die Bretter betreten und das Floß legt ab. Begleitet vom monotonen Tuckern des Dieselmotors gleiten wir stromaufwärts über die gemächlich dahin fließenden Wassermassen, während am Ufer halb zerfallene Schiffswracks grüßen und Kinder mit übermütigem Lachen platschend von Pfahlbauten in den Fluss springen. Hinter einer schmalen Reihe von Bäumen, die beiderseits den Fluss säumen, liegt eine endlose, sumpfige Ebene, aus der nur hier und da einige Sträucher und Gehölz aufragen.

Am anderen Ufer erwartet uns eine aufgeweichte Schlammpiste. Es hat in den letzten Tagen des Öfteren geregnet und der Bus schlittert auf den aufgeweichten Bodenschichten wie auf Eis. Erste Horrorgeschichten machen die Runde. Er habe schon mal fünf Tage für den Weg nach Rurre gebraucht, erzählt ein älterer Mann mit feinen Gesichtszügen und grauem, breitkrempigen Hut. Vielleicht solle man sich lieber in einem Dorf ein Pferd nehmen, damit käme man schneller voran. "Madre mía! Wenn es dunkel wird, kommen die Mücken", sagt eine Frau, zieht bedeutungsschwanger die Augenbrauen empor und beginnt schon mal prophylaktisch damit, sich mit einem Tuch gegen die Blutsauger zu umwedeln. Ein kleiner US-Amerikaner mit weißem Rauschebart und blauem Jeanshemd spricht uns auf Englisch an: Ja, mit den Mücken müsse man hier leben. Für ihn sei das kein Problem, er sei auf dem Weg an die Grenzen der Zivilisation. Er wolle sich an einem kleinen Zufluss des Río Beni eine Holzhütte bauen, dort nach den Geboten Gottes leben und so viele der ansässigen Ureinwohner wie möglich bekehren. Ein Missionar auf Geisterfahrt. Unvermittelt unterbricht der Busfahrer alle Gespräche, indem er den Lautstärkeregler des Kassettendecks voll aufdreht. Scheppernd und knarzend dröhnt der von oben verordnete Gute-Laune-Cumbia Smash Hit durch unsere Kuh Zehn: Dame más gasolina – Gib mir mehr Sprit! Vielleicht eine Art Busfahrergebet.

Piste Trinidad-Rurrenabaque nach Regen
Straßenszene, Rurrenabaque

Unbeirrt schlittern wir voran. Abwechselnd dem rechten Straßenrand entgegen, dann – nach vielkehligem Protest der diesseits im Bus Sitzenden – auf den linken zu, und wieder von vorn. Unmittelbar jenseits der Piste beginnt morastiges Feld, vereinzelt auch flache Seen und Tümpel, in denen sich Brillenkaimane (Caiman yacare) suhlen und weiße Schmuckreiher (Egretta thula) staksen. Mehrmals steht der Bus quer zur Straße, so dass alle männlichen Passagiere aussteigen müssen, um ihn mit einem am Heck angebrachten Seil wieder parallel zum Straßenrand auszurichten. Natürlich geht dieses ungleiche Tauziehen nicht ohne einsinkende Knöchel, Stürze und Rutschpartien vonstatten. Nachdem wir eine besonders heikle Schlammschlacht erfolgreich geschlagen haben und uns noch glücklich in den Armen liegen, platzt ein Reifen. Wieder müssen alle Passagiere hinaus in die inzwischen herein gebrochene Nacht und zu den tatsächlich erwachten Mücken. Nach zwei Stunden ist das Reserverad aufgezogen, nach weiteren zwei Stunden platzt auch dieses und wird durch ein zweites Reserverad ersetzt. Das Spiel wiederholt sich noch einmal in den Mittagsstunden des nächsten Tages und der Reifen muss geflickt werden. Der Busfahrer und sein Gehilfe, die inzwischen abwechselnd seit 24 Stunden am Steuer sitzen, halten sich nur noch mit Hilfe von Kokablättern wach, die sie klein gekaut und mit Bikarbonat als Katalysator zu einer grünen Paste vermischt in ihren Backen lagern.

Heute scheint die Sonne und das Umland ist hügeliger und bewaldeter als gestern. In der Ferne hört man die hohen Rufe von Springaffen (Callicebus) und das durchdringend-anschwellende "ut-ut-ut-utututututut-kräähh" des Weißbrust-Ameisenwürgers Taraba major. Nach einem zähen Kampf mit den abgenudelten Radmuttern liegt unser Busfahrer unter dem Gefährt und stöhnt: "Quiero morir" – "Ich will sterben." Man nimmt ihm den Wunsch ab.


Text + Fotos: Lennart Pyritz

Weitere Veröffentlichungen des Autors:
www.spektrumdirekt.de/madagaskar
www.primate-sg.org/PDF/NP14.2.alouatta.bolivia.pdf

Lennart Pyritz hat am Reiseführer über Bolivien mitgewirkt, den ihr im Reise Know-How Verlag voraussichtlich ab April 2008 erhaltet.

Titel: Bolivien Kompakt
Verlag: Reise Know-How
Erscheint voraussichtlich im April 2008


[druckversion ed 04/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_5] Venezuela: Das Balzverhalten der Weißbrust Pipra-Männchen

Die 1000-Einwohner zählende Gemeinde Altamira de Cáceres im Staat Barinas befindet sich in den tropischen Regenwäldern am Fuße der Anden (Andean Foodhills) auf 900 Metern über dem Meeresspiegel. Unweit des Ortseinganges liegt ein etwa 200 Meter x 400 Meter großes Waldstück, das sich zusammensetzt aus Primärvegetation und Sekundärwald. Es ist begrenzt durch den Bach Quebrada San Rafael und Kulturland, meist Kaffeepflanzungen.

Balz mit aufgeplustertem Bart
Weißbrust Pipra

Dieser kleine tropische Bergregenwald beheimatet vor allem Bambusgewächse, Helikonien und mit Epiphyten (Bromelien, Farne, Flechten und Orchideen) bewachsene Bäume. Hier hat eine Gruppe von Weißbrust Pipras (Manacus manacus), die zur Familie der Schnurrvögel (Pipridae) gehören, einen Abschnitt von etwa 30 Meter x 15 Meter zu ihrem Lek – Balzgebiet, das sich über Jahre immer an genau der gleichen Stelle befindet – gewählt.

Wenn man sich dem Lek der Weißbrust Pipra nähert, sind zunächst markante Knackgeräusche auszumachen. Diese erzeugen die Männchen mit ihren Flügeln, indem sie die Federn aufeinander schlagen, während sie zwischen zwei bis vier bodennahen dünnen Stämmen hin und her springen. Der sich in kurzer Abfolge wiederholende Knacklaut (pipra.mp3: 1mb) unterscheidet sich deutlich von dem Schnurren, Rufen und Flügelschlagen, das die Pipras beim Fliegen erzeugen.

Pirpa-Männchen vor dem Sprung
Im Sprung

Jedes Männchen hat sein eigenes Balzareal. Dieses ist meist dreieckig und zwischen drei und fünf Quadratmeter groß. Es besteht häufig aus drei dünnen Stämmen, deren Zwischenräume auf dem Boden gesäubert sind, so dass der blanke Erdboden zu sehen ist und kaum Blätter herumliegen. In 20 bis 60 Zentimetern über dem Boden springt das Männchen im Sekundentakt zwischen jeweils zwei Stämmen hin und her. Dann folgt ein Sprung auf den Boden und direkt im Anschluss ein Sprung auf immer denselben Ast in etwas höhere Regionen (2-4 Meter). Dort verharrt der Vogel meist eine unbestimmte Dauer, hüpft dann am gleichen Stamm herunter und beginnt erneut mit dem Hin und Her.

Die einzelnen Areale der Männchen können in direkter Nachbarschaft liegen. Die Weibchen, die sich bei anderen Gattungen oftmals nicht im Lek aufhalten, wohnen bei den Pipras von Zeit zu Zeit dem Balz-Spektakel bei. Sie zeichnen sich aus durch ihr grün-olivfarbenes Gefieder, das an der Kehle etwas heller ist. Der Körper gleicht in Form und Größe einem Tischtennisball. Der Kopf wirkt im Verhältnis zum Körper recht groß und scheint aufgrund des fehlenden (nicht sichtbaren) Halses in diesen überzugehen. Der Schnabel ist kurz und schwarz. Die Augen sind ebenfalls schwarz und der Schwanz kurz.

Pipra-Weibchen zu Gast im Lek
Pipra-Männchen

Die Männchen ähneln von der Statur her den Weibchen, unterscheiden sich in erster Line jedoch farblich: Schopf, Flügel und Schwanz sind schwarz, der Rumpf grau und Kopf und Kehle weiß. Zudem haben sie einen weißen Bart, den sie beim Balzen ausfahren.

Der Lebensraum der Pipras begrenzt sich auf die tropischen Regenwälder der Neotropen (meist wird der englische Begriff neotropics benutzt und meint die tropischen Gebiete der Neuen Welt). Die Pipras selber ernähren sich in erster Linie von Früchten, in den Anden Venezuelas besonders gerne von den Früchten des Melastoma-Strauchs.

Vögel im Umkreis des Weißbrust-Pipra-Leks
In Nachbarschaft zum Balzraum der Weißbrust Pipras befindet sich ein Lek der Gelbkopf Pipras (Pipra erythrocephala). In dem ca. fünf Meter breiten Zwischen-Lek-Streifen konnten noch zwei weitere Arten von Schnurrvögeln beobachtet werden: Der Streifenbauch Pipra (Machaeropterus Striolatus) und der Leuchtende Faden Pipra (Pipra filicauda).

Grauband Ameisenvogel
Gelbkopf Pipra im Nachbar-Lek

Das kleine Waldstück beherbergt zudem verschiedene Arten von Tangaren, Waldläufern, Drosseln, Tyrannen und Kolibris und in den Fruchtbäumen halten sich Sittiche, Papageien und Tukane auf. Das Nest eines Weißbart Schattenkolibris befindet sich inmitten des Balzareals der Weißbrust Pipra.

Weißbart Schattenkolibri
Fütterung eines jungen Schattenkolibris

Beim Monitoring dieses Waldes konnten wir verschiedene Ameisenvögel beobachten und deren Stimmen aufnehmen. Die häufigsten sind:
Dunkelgrauer Ameisenfänger (Cercomacra tyrannina)
Weisstirn Ameisenschnäpper (Myrmoborus leucophrys)
Grauband Ameisenvogel (Myrmeciza longipes)
Weissgesicht Ameisenvogel (Pithys albifrons)
Olivgrauer Würgerling (Dysithamnus mentalis)
Graubrust Ameisendrossel (Formicarius analis)

Weißbrust Pipra
Grauwangen Baumsteiger

Text: Joe Klaiber
Fotos: Dirk Klaiber

Tipp:
Detaillierte Informationen zu Reisen in Venezuela:
Posada Casa Vieja Mérida / Tabay / Altamira



[druckversion ed 03/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: venezuela]





[kol_1] Macht Laune: Barcelona - Stadt der Comics

Barcelona beansprucht neben vielen anderen Titeln auch den der "Hauptstadt des Comics" auf der iberischen Halbinsel für sich. Sicher nicht zu Unrecht, sind doch rund 90 Prozent der gesamten Verlagsproduktion des Landes dort konzentriert.



Bereits in den 1950er Jahren verzeichnete diese Branche ein großes Wachstum, mit der Herstellung hoher Auflagen von Heftchen mit humorvollen Comicstrips oder mit Abenteuergeschichten (El Capitán Trueno). Mit dem Ende der Francodiktatur verschwanden diese qualitativ eher schlechten "Erzeugnisse" größtenteils; denn durch die neuen politischen und gesellschaftlichen Freiheiten drangen andere Produkte auf den Markt: einerseits der Erwachsenencomic (còmic adult), der sich durch anspruchsvolle Zeichnungen und avantgardistische Inhalte (Zeitschrift El Víbora) und/oder durch Erotik (Zeitschrift Kiss) und Gewalt in den Geschichten auszeichnete, andererseits humorvolle Bildergeschichten, die meistens in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wurden.

Die Comicstrips mit kindlichen Figuren bestanden weiterhin und einige Figuren feierten sogar internationale Erfolge. So zum Beispiel Mortadelo & Filemón (deut.: Clever & Smart) des Zeichners Francisco Ibáñez. Diese beiden, aber auch viele andere Comicfiguren, erscheinen trotz der katalanischen Herkunft ihres Schöpfers und ihres Verlags nur auf Spanisch, geschuldet dem Zugang zu einem viel größeren Markt.

Doch auch die Avantgarde der katalanischen Zeichner, z.B. Guillem Cifré, Micharmut, Martí Pons oder Daniel Torres, hat sich international einen Namen gemacht. Um Barcelonas Ruf als "Hauptstadt des Comics" zu festigen, wird seit einigen Jahren der international anerkannte und vielbesuchte "Saló Internacional del Còmic de Barcelona" veranstaltet. Zudem existieren Pläne für ein Dokumentationszentrum zur Geschichte des (katalanischen) Comics.

Text: Torsten Eßer

[druckversion ed 03/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: macht laune]





[kol_2] Grenzfall: Lokalpatriot? Ich? Wie kommst Du bloß darauf...



Ein sehr guter Freund von mir sagt immer: - Du bist wirklich der allergrößte Lokalpatriot! Mir ist das egal, denn Freunde können ja alles über uns sagen, natürlich nur die wirklich guten Freunde. Das Problem ist nur dass dieser verfluchte Freund allen seinen Freunden dies über mich erzählt. Auch jenen, die ich gerade eben erst kennen gelernt habe. Guter Freund, was? Nun gut, damit hat er mir wirklich eine Ananas ins Nest gesetzt, aber ich werde einen leckeren Nachtisch draus machen...

An jenem Tag waren wir gerade am Flamengo-Strand – ich bin ein riesiger Fan vom BAMOR-Fussballklub, und ich schreie sogar Baêa so laut ich kann – genauer gesagt waren wir an der Strandhütte von Lôro. Du weißt ja, wie es ist, oder? Salvador hat Strände an allen Ecken, die meisten Quadratmeter Meer ganz Brasiliens! Bahia ist der Bundesstaat mit der längsten Küste, und wir armen Lokalpatrioten nutzen das natürlich aus... Nun, diese Strandhütte ist sogar von Bel Borba gestaltet, und es gibt eine Abteilung für Massage, hölzerne Strandliegen und bunte Baumwollkissen, Kokoswasser, einen Haufen Donuts, Krebse, Lambreta, mit Sirifleisch gefüllte Muscheln etc, etc, etc.

Aber den Orixás sei Dank, die Freunde meines Freundes waren zufrieden. Es war Aschermittwoch in Salvador und sie hatten, um es mal mit einer unserer Redensarten zu beschreiben, "die Sache auf den Kopf gestellt", oder während des Karnevals "alles gegeben".

Die Dinge beim Namen zu nennen, verbietet sich mir, die ich die letzte "Dame aus dem Recôncavo" bin. Da nutzt es auch nichts, mehrmals nachzufragen! Ich bin ein rechtschaffenes Mädchen aus gutem Hause.

Nun, diese Freunde beschwerten sich nicht. Sie lobten das reichhaltige Angebot des Strandes, verglichen es mit dem in Rio und bekleckerten sich mit einer mit Koriander bestreuten Lambreta, lächelten, aber ich dachte mir, dass immer noch was fehlt. Wie konnte es ihnen hier nur so gut gefallen haben und trotzdem wollten sie noch vor dem Wochenende wieder nach Hause fahren? Wie bloß? Bei diesen Leute kann es sich nicht um ernsthafte (im Baianischen Sinne von ernsthaft) Menschen handeln oder aber sie haben etwas Essentielles verpasst. Meine weibliche Intuition sagte mir, dass den Jungs eine Runde Arrocha-Tanz fehlte. Und so sagte ich: Und der Arrocha? Habt Ihr gelernt, den Arrocha zu tanzen? Es sollte meine totale Niederlage folgen ... aber ich überspringe diesen Teil besser, auch deshalb, weil ich selbst natürlich überhaupt nicht Arrocha tanzen kann, keine einzige CD von Silvano Sales habe, dem "verknallten Sänger".

Weder habe ich ein Konzert von Nara Costa gesehen, noch an den Tanzwettbewerben im Colégio São Lázaro teilgenommen. Alles Lüge! Aber ich negiere dies sogar unter Androhung des Todes.

Um mich aus dieser dummen Situation zu befreien, wollte ich meinen Freunden auflisten, was sie alles hier hätten machen können. Natürlich bevorzugt zu zweit. Aber da hatte mich mein ach so guter Freund schon mit seinem ewigen "Vorsicht, sie ist ein Lokalpatriot!" schon zum Schweigen gebracht. Und so behielt ich meine Gedanken für mich, um sie jetzt und hier zu Papier zu bringen ... und ich denke, dass es mehr oder weniger Folgendes zu sagen gibt.

In Salvador dauert der Sommer das ganze Jahr über an. Und so ist die Strandstimmung mit den gebräunten Körpern, dem eiskalten Bier und all der Laszivität das ganze Jahr über wie eine Tätowierung präsent. Die wenigen Male, die es regnet, zwischen Juni und August, passiert dies nur, weil sich nass zu machen auch etwas Wunderschönes ist und die Baianos das sehr gerne tun. Die Freude, die man aus den kleinen Dingen des Lebens zieht, ist das Markenzeichen der Menschen hier. Aber Bahia besitzt noch andere Vorteile, die es sonst nirgendwo gibt, das ist das Problem. Natürlich das Problem der anderen, versteht sich...

Zum Beispiel: Eis am Stiel von Capelinha. Das gibt es in Form von Kokosgeschmack, mit Erdnussstücken, um die Substanz zu garantieren, in der Erdbeervariante, die man in Stücken lutschen kann, und natürlich Siriguela und Umbu für die Augenblicke, in denen die Hitze einfach unerträglich wird. Für jeden Geschmack etwas. Probier es aus!

Falls Du kein Eis am Stiel magst, kannst Du einfach mal an der Ribeira entlang fahren und dort das Eis probieren. Oh Leute, eiskalt ist das ... und die Waffeln erst, und wer sich für einen Becher entscheidet, der kann selbst noch den letzten Schluck aus ihm trinken. Ich empfehle: grüne Kokos und Pflaume, aber ich warne vor den exotischen Geschmackssorten wie jenes Rambutan. Da seht Ihr, wie sehr ich Lokalpatriot bin!

Meine Freundin Gi hat es ausprobiert und kann es nicht empfehlen, also werde ich es auch nicht tun. Aber natürlich könnt Ihr Euch irgendwas Neues ausdenken, wofür der Begriff Rambutan stehen könnte, benutzt einfach mal Eure Vorstellungskraft! Die Baianos an sich sind ein sehr kreatives Volk, und nachdem ich Terminologie studiert habe, bin ich jetzt dabei, die Begriffe auch anzuwenden. Gebrauch und Missbrauch.

In Bahia gibt es auch leckeres Brot, das "Pão delícia". Das zergeht im Mund ... das gibt es sowohl mit Füllung als auch ausgehöhlt, damit Ihr Eure eigene Füllung hinein tun könnt.

Es lebe die Moderne aus Bahia! In diesem Fall empfehle ich einfach, alles einmal auszuprobieren und sich voll zu stopfen. "Pão delícia" ist eine Delikatesse! Eine Frau aus Bahia macht jeden verrückt, wenn sie sich mit "Pão delícia" vollkleckert. [Nach Angaben des Sängers der Band Psirico, Márcio Victor, war es genau solch eine Erfahrung die ihn zu dem Karnevalshit ‘Toda Boa’ inspirierte. Die Melodie des Liedes kann man überall hören, auf den Straßen des Pelourinho oder in der Unterstadt, gesummt zu Flirts, Eroberungen und ähnlichen Unternehmungen.]

Dass die Brasilianerinnen eine Köstlichkeit sind, das wissen wir ja. Personen mit wundervollen Beinen, Brüsten, eine kompakte Körpermasse, aber die "Frau Typ todo boa" ist noch eine ganz andere Geschichte. Jungs, aufgepasst! Wen man eine Frau als "toda boa" bezeichnet, ist das 1000 Mal besser als lediglich zu sagen, dass sie "hot" ist. Und wenn man dazu noch den richtigen Tonfall trifft, aiaiai.

In der Abteilung "Süß – Sauer" gibt es noch die Läden von Perini, und da empfehle ich die "Coxinhas" (kleine tropfenförmige Teigwaren mit Füllung). Am besten die mit Catupiryu-Käse-Füllung.

Um ehrlich zu sein, esse ich ja alles (was von Perini kommt, klar!) und empfehle, viel und oft bei Perini zu essen. Und die Leute aus Bahia bekleckern sich gerne von unten bis oben, wenn sie Köstlichkeiten verschlingen. Oder wie sagt eine Freundin von mir: uiiiih!

Natürlich muss Acarajé dabei sein, aber ich will nichts hören von diesem Gelaber über kalt oder warm. In Bahia muss Acarajé immer heiß serviert werden, was nichts damit zu tun hat, ob man Pfeffersoße drauf tut oder nicht. Wer so etwas behauptet, hat wohl nichts anderes zu tun. Kalt? In Bahia? Junge, Junge, wer hat Dir denn so etwas verklickert? Die Stadt ist heiß, die Menschen sind warmherzig und die feuchte Luft macht das Klima erträglich. Bestell Dir Deinen Acarajé wie Du willst, aber vergiss es nicht. Iss! Und denke daran, dass Acarajé ein Essen der Götter ist. Biete der Göttin Yansã einen an, sie wird begeistert sein!

Wir leben nicht nur von Acarajé, doch Acarajé ist so etwas wie der Hamburger der Leute aus Bahia. Das Dendê-Öl wird hier wie sonst nirgends verwendet, probier eine Moqueca oder Bobó de camarão oder das Hühnchengericht Galinha de xinxim und mach Dir dabei die Finger schmutzig, aber vergiss nicht einen Caranguejo (Krebs) oder Meeresfrüchte zu bestellen. Das "Corongondé" Gericht stelle ich Euch erst gar nicht vor – geht einfach ins Restaurant Vital am Pelourinho und probier es aus! Diese wunderbare Manie alles mit den Händen zu fassen ... nun gut, ich glaube fest daran, dass alles mit den Händen beginnt, aber natürlich nicht mit irgendwelchen...

Nun, Früchte? Habt Ihr schon einmal eine Mango gelutscht bis Euch der Saft über die Arme lief? Oder solange Umbu gegessen bis die Zähne taub wurden? Oder eine weiche Jaca verspeist und danach Wasser getrunken? Oder Cajá mit Siriguela verwechselt?

Und habt Ihr Zuckerrohr gekaut und versucht, gleichzeitig zu pfeifen ... die Leute hier können das. Und da wir gerade über das Früchte vernaschen sprechen – Mädels, mal unter uns: Sagt mir bitte, habt Ihr schon einmal einen Afro-Brasilianer vernascht? Also, eine Frau kann sich nicht als komplett bezeichnen, wenn sie noch nie etwas mit einem Afro-Brasilianer hatte. Und die hier aus Bahia sind von allerhöchster Qualität, feinste Exportware. Ist Euch noch nie aufgefallen, wie verrückt die "Gringas" nach ihnen sind? Und noch ein Tipp: die, die nach Kokos riechen sind die besten ... und achtet auf die mit den Halsbändern!!! Und da wir schon mal bei Halsbändern sind, da gibt es die von der "Ghandi" Gruppe. Tauscht die Bänder gegen einen Kuss und spürt den Lavendelgeruch. Geruch ist alles im Leben!

Und jetzt ein Tipp für die Jungs: ist Euch schon einmal eine dieser Piriguete-Mädels untergekommen? Sensationell! Echte Piriguetes gibt es nur in Bahia. Wir sind dabei, die Frau ganz neu zu erfinden!

Wenn Du also noch nie einer begegnet bist, lauf hinterher. Es wird im schlechtesten Fall lustig werden. Aber seid vorsichtig, denn mit den Piriguetes läuft es so ab: wer sie nicht ausreichend beschäftigt, öffnet der Konkurrenz Tor und Tür und der nächste aus der langen Schlange darf ran. Nun sag mir mal, wo auf der Welt außer in Bahia hört man von solchen Dingen? Ich warte auf Eure Antwort...

Und nur in Bahia bereitet man sich das ganze Jahr über derart auf den Karneval vor, in jener wunderbaren Stimmung, die bei den Proben herrscht. Da gibt es den Cortejo afro, Negra cor, Ylê, Gerônimo und all die anderen großartigen Künstler, die die Welt schon kennt. Axé. Wir hier haben das alles das ganze Jahr über, doch während der Sommerfestivals bieten wir es allen großzügig an. Also, kommt hierher, auf geht’s!

Und jetzt noch ein Tipp für die Freunde meines guten Freundes, die Jungs aus Rio. Wenn Ihr hier gewesen seid und all die Dinge, von denen ich gesprochen habe, nicht kennt, dann tut es mir Leid. Ihr müsst noch so viel kennenlernen in Eurem Leben.

Und wenn Ihr diese Dinge schon erlebt habt, aber niemals über die Stadtgrenzen von Salvador hinaus gekommen seid, dann tut es mir umso mehr Leid. Bahia zu kennen, heißt auf den Straßen zu flirten, Hand in Hand spazieren zu gehen, den Sonnenuntergang in Humaitá zu sehen und jemanden an seiner Seite zu haben, der einem die kleinen Dinge in Bahia zeigt.

Cachoeira und Santo Amaro kennen zu lernen, Maniçoba zu essen, zu zweit in der Hängematte zu liegen und zu dritt aufzuwachen, die Plätzchen aus dem "Recolhimento dos Humildes" Museum in Santo Amaro zu probieren, unter den Vitória und Urubu-Wasserfällen zu baden, still eine kleine Samba zu tanzen, über die Praça zu spazieren und das Leben anzulächeln – das ist das Mindeste, was man tun kann. Macht es! (Hier zweite Fußnote einfügen: [All die Köstlichkeiten des Recôncavo wurden von der Autorin ausprobiert. Nach Rocha ‘ist es Sinn und Zweck ihres Informationswissenschaftsstudiums, die Möglichkeit zu haben, Dinge zu belegen’. Ich bestätige hier aber bereits im Voraus die Richtigkeit aller gegebenen Informationen und weise darauf hin, dass ihre Interpretation unzweideutig ist. Bahia kennen zu lernen, ist wie nach Mekka zu gehen: mindestens einmal im Leben muss man es tun. Und wenn mal einmal in Bahia war, ist klar, dass man immer wieder zurückkommen muss.]

Und außer dem Recôncavo hat Bahia noch das Gebirge der Chapada Diamantina zu bieten. Eine Tour zur Lapa Doce Höhle oder zur Pratinha, durch die Gruta azul – überall gibt es Trampelpfade denen man folgen kann. In der feuchtkühlen Nachtluft zu schlafen ist das Mindeste was man hier tun sollte. Denkt doch mal, wie romantisch das wäre. Stellt Euch den Mond vor. Bastelt Euch eine Halskette aus all dem was Ihr im Contas-Fluss findet. Lest Eure Zukunft aus den Muscheln heraus. Sucht nach den Außerirdischen in Capão. Und seid dankbar.

Nun, ich liebe die Stadt Natal; und ich liebte es, Ouro Preto kennen gelernt zu haben und dort ein Pão de Queijo gegessen zu haben; und Rio de Janeiro verzaubert mich jedes Mal mit seinen Naturschönheiten und ich sage mir: Rio de Janeiro hab ich mir verdient!

Die Menge an Informationen und Daten, die jeden Tag in São Paulo verarbeitet wird, erstaunt mich, und ich mag den schnellen Rhythmus der Stadt; Recife andererseits mag ich nicht, und so gibt es meiner Ansicht nach nur drei gute Dinge, die Pernambuco jemals hervorgebracht hat: meine Tochter, die dort geboren wurde, den schönsten Strand, den ich bisher gesehen habe (Porto de Galinhas – und seid Euch sicher, dass ich etwas von Stränden verstehe), und die Inselgruppe Fernando de Noronha; Aracaju hat die beste Shrimpssauce des ganzen Nordostens. Aus all diesen Gründen halte ich mich für eine Person, die fair mit dem Rest Brasiliens umgeht.

Nun, ich werde unerträglich wenn ich über Bahia spreche. Das hat seinen Grund in dem Ausspruch eines Freundes von mir – demselben, der an jenem Tag am Strand mein demokratisches und partizipatives Image zerstört hat. Er sagte, nachdem ich mir meine Tätowierung hatte machen lassen (drei Sterne, die Yemanjá freundlicherweise von ihrem Kleid abnahm und mir gestattete, sie mir an jenem 2. Februar vor fünf Jahren einzutätowieren): „Meine Herren, jetzt bist Du also eine 5-Sterne-Frau!" Und ich entgegnete prompt: „Ganz genau, mein Freund! Drei habe ich hinter meinem Ohr tätowiert, eine sternförmige Wunde dazu an meiner linken Hand, und den fünften Stern kann ich auch noch zum Vorschein bringen." Nur in Bahia kann es eine 5-Sterne-Frau geben ... ich bin mir sicher, dass es in den anderen Ecken dieser Welt auch Dinge mit ungeraden Zahlen gibt, aber in Bahia ist alles im Plural!

So, ich habe meinen kleinen Bericht vollbracht. Wenn Du glaubst, dass es etwas Besseres auf der Welt gibt – schicke mir Deinen Bericht. Bahia wird Dich stets mit offenen Armen empfangen. Vorsicht lediglich mit dem Arm, der zu einer Schlinge wird...

Cheiro.

Text: Ana Karina Rocha de Oliveira
Fotos: Ana Karina Rocha de Oliveira + Thomas Milz

[druckversion ed 03/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[kol_3] Erlesen: Guatemala - Journalistische Streifzüge / Mexiko - Entre Fronteras

Guatemala: Land des Grauens, Land der Hoffnung?
Das "Fest der Liebe" ist seit zwei Monaten vorbei und in vielen Haushalten werden Weihnachtssterne Tische und Fensterbänke verschönert haben. Die meisten von ihnen stammen aus Zuchtbetrieben im Urwald Guatemalas. Von dort werden pro Jahr 300 Millionen Setzlinge in alle Welt verschifft, was das Land zum international größten Weihnachtsstern-Exporteur macht. Leider sind die Produktionsbedingungen ähnlich schlecht wie auf den Blumenplantagen in Kolumbien: die Arbeiterinnen kommen ungeschützt mit Pestiziden in Berührung, werden schlecht bezahlt und nicht sozialversichert. Die Plantagenbesitzer streichen satte Gewinne ein, die aber im Vergleich zum größten Patentrechteinhaber auf Weihnachtssternsorten - der US-Firma Paul Ecke Ranch - immer noch gering erscheinen. Diesen und viele weitere Skandale aus Guatemala beschreibt der Journalist Andreas Boueke in seinem Buch. Verantwortungsbewusste Verbraucher kaufen also kommendes Jahr Weihnachtssterne aus ökologischer Produktion. Aber wo findet man die? Sehr hilfreich sind daher am Ende eines jeden Kapitels die Kästen mit Informationen zu betreffenden Organisationen inkl. Link.

Andreas Boueke
Guatemala. Journalistische Streifzüge
Horlemann Verlag, Bad Honnef 2006, 240 S. 12,90 Euro

In einem Land, in dem - zumindest aus Sicht der Bevölkerungsmehrheit - fast alles schief läuft, ist es schwer, sich als (normalerweise strikt objektiv berichtender) Journalist nicht zu solidarisieren. Und darum schreibt der mehrfach journalistisch ausgezeichnete Autor auch gleich im Vorwort, dass er angesichts von Gewalt, Rassismus, Umweltzerstörung etc. nicht in der Rolle des Beobachters verharren konnte und bevorzugt über die benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen berichtet. Interviews mit Betroffenen zwischen den einzelnen Reportagen geben den oft abstrakt klingenden Vorgängen und häufig so unglaublich brutalen und daher unglaublichen Ereignissen ein Gesicht und führen dem Leser die Auswirkungen von Krieg, Armut und Ausbeutung auf die Menschen direkt vor Augen.

Neben Reportagen über das gesellschaftliche Trauma der Straffreiheit für die Mörder des Bürgerkriegs berichtet der in Guatemala lebende Boueke über das ungerechte Gesundheitswesen, umweltzerstörende Garnelenfarmen, Jugendbanden, Drogenkuriere, die Lage der Homosexuellen uvm. Die schmutzigen Methoden der Ölindustrie, die auch in Guatemala nicht vor Mord zurückschreckt, hat Andreas Boueke zum Teil mit aufgedeckt, weswegen sich dieses Kapitel fast wie ein Krimi liest. Erstaunlicherweise blitzen immer wieder Funken der Hoffnung auf, vor allem dann, wenn die Interviewpartner in all dem Elend ihren Glauben an eine bessere Zukunft nicht verlieren.

Razteco oder basorolo?
Was sind raztecos, tomboys oder basorolos? Den Überblick über die verschiedenen Jugendkulturen bzw. -bewegungen in Mexiko zu wahren grenzt an Unmöglichkeit. Ein lesenswertes Buch über die verschiedenen Jugendszenen, ihre Geschichte, ihre Ansichten und ihre Stellung in der Gesellschaft haben Manfred Liebel und Gabriele Rohmann im Verlag des Berliner Archivs der Jugendkulturen herausgegeben. Mexikanische Autoren berichten über Pachucos, Cholos, Punks, Raver uva., ihr Verhältnis zum allgegenwärtigen Tod und zur nahen US-Grenze (die in Mexikos Gesellschaft insgesamt eine herausragende Rolle spielt), die Stadt-Land-Unterschiede der Szenen und die Rolle der Mädchen in ihnen, die - soviel sei verraten - nicht immer die devote Rolle der Frau in der mexikanischen Gesellschaft widerspiegelt. Viele Szenen übernehmen die Verhaltensweisen und Kennzeichen der Jugendszenen aus Europa und den USA, aber sie wandeln sie lokal ab, und gerade die raztecas, Jugendliche, die afro-antillanische (rastafaris) und indigene (aztecas) Musik und Elemente auf der Suche nach ihren Wurzeln in ihrer Kultur vermischen, sind eine besonders interessante "Spezies".

Manfred Liebel und Gabriele Rohmann (Hg.).
Entre fronteras. Grenzgänge. Jugendkulturen in Mexiko
Archiv der Jugendkulturen Verlag KG 2006, 144 S., 20 Euro

www.jugendkulturen.de

Das Buch schließt mit einem interessanten Bericht von Manfred Liebel über Barrio-Gangs in den USA. Und im anhängenden Glossar klärt sich dann auch schnell, was tomboys und basorolos sind!

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon

[druckversion ed 03/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





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