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Bolivien: Von Flussdelfinen und schwimmenden Bussen
Im teils schwer zugänglichen östlichen und nördlichen Tiefland Boliviens liegen riesige Sumpf- und Waldgebiete mit einer in ihrer atemberaubenden Diversität vielfach unerforschten Flora und Fauna. Ein Reisebericht aus der Pampa und von den Wasserwegen des grünen Nordens. Teil 2 (
Teil 1)
Mit dem Reichskanzler stromaufwärts
Nach 35 Stunden erreichen wir schließlich in der nächsten Nacht Rurrenabaque. Es ist warm, Grillen zirpen und hinter der letzten Häuserreihe rauscht monoton der Río Beni. Beinahe widerwillig tragen uns die im Bus taub gewordenen Beine ins schlafende Zentrum der kleinen, tropischen Stadt, wo sich eine Vielzahl an Herbergen und Hotels befindet. Rurre hat in den letzten Jahren eine stetige Entwicklung zum touristischen Zentrum des Gebietes genommen. An den Straßen Santa Cruz und Avaroa (benannt nach Eduardo Avaroa, einem Helden des 1884 gegen Chile verlorenen Pazifikkrieges) reiht sich eine Reiseagentur an die nächste, und jedes zweite Haus im Zentrum ist Bar, Restaurant, Hotel oder Kiosk. Hier erscheint der auf der Schlammpiste zurückgelegte, beschwerliche Weg durch die Pampa und kleinen Dörfer unwirklich.
Von Rurre aus starten Touren in den Osten des berühmten Madidi-Nationalparks, in die umliegende Pampa und tropischen Wälder. Das Straßenbild prägen oftmals Touristen in Khakihosen, wasserdichten Schuhen und mit Sonnenhüten, die zumeist per Flugzeug von La Paz aus einen kurzen Abstecher ins tropische Tiefland unternehmen. Aber es gibt auch noch den kleinen traditionellen Markt am Fluss, wo Früchte und Fisch verkauft werden, und das Leben auf den Kleinbauernhöfen außerhalb der Stadt. Hier halten die Menschen auf mühsam mit der Machete dem Wald abgerungenen Wiesen und Feldern einige Hühner und Rinder und bauen Bananen, Apfelsinen, Mangos und Zuckerrohr an, dessen ausgepresster Saft als Getränk in den Straßen verkauft wird. Oft wird der Speiseplan zusätzlich durch Jagd und Fischfang aufgebessert. Ein Bauer bewirtet uns bei einem Besuch mit dem Fleisch eines Wildschweins, das er beim Durchschwimmen des Flusses überrascht und aus seinem Boot heraus durch Herabdrücken des Kopfes ertränkt hat.
In einer der Reiseagenturen arbeitet Bismarck, ein junger Mann, der aus der Gegend um Reyes östlich von Rurre stammt und seinen Namen einem germanophilen Großvater zu verdanken hat. Wir vereinbaren, mit ihm als Reiseführer die nächsten Tage am Río Yacuma zu verbringen. Zunächst fahren wir mit einem Geländewagen einige Stunden in nordöstlicher Richtung bis nach Santa Rosa ein winziges Dorf, das am Ufer des Yacuma liegt. Hier laden wir Rucksäcke, Lebensmittel und Spritkanister in ein langes Holzboot mit Außenborder und machen uns mit unserem Reichskanzler stromaufwärts auf den Weg.
Rosa Delfine und Flügel mit Krallen: Eine zoologische Wundertüte
Der Fluss ist schmal. An seinen Ufern steht üppiger, grüner Galeriewald, der nur manchmal einen Blick auf die jenseits des schmalen Waldsaumes liegenden, in dieser Jahreszeit (April) überschwemmten Ebenen der Pampa zulässt. Als wir durch einen kleinen Durchschlupf in der Ufervegetation auf eine überschwemmte Wiese hinausschippern, ertönt ein Platschen hinter unserem Boot. Bismarck lächelt, stoppt den Motor, hält ein Stück Plastikschlauch ins Wasser und bläst Luft hindurch, die blubbernd zur Oberfläche aufsteigt. Wieder ein Plätschern, diesmal vor dem Bug des Bootes. "Miren las burbujas. Estan tan curiosos!" Schaut auf die Luftblasen. Sie sind so neugierig!, sagt er, und nach kurzer Zeit schieben sich zwei schmale, hellgraue, bezahnte Kiefer vorsichtig aus dem Wasser und von zwei Seiten um den Schlauch. "Es un boto!", strahlt Bismarck. Ein Flussdelfin. Kurz darauf beginnt das Tier um das Boot herumzuschwimmen. Dabei ist immer wieder sein rosafarbener Rücken mit der breiten, höckerartigen Rückenfinne zu sehen. Es ist vermutlich ein ausgewachsener Delfin, da bei Inia geoffrensis boliviensis, so der wissenschaftliche Name der bolivianischen Unterart, die Jungtiere meist eine silbergraue Farbe haben und erst mit zunehmendem Alter rosa werden. Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass die Körperfarbe vom Aktivitätslevel und der Wasserqualität abhängt. Der Gattungsname Inia stammt aus der Sprache der Guarayo Indianer, die entlang des Río San Miguel in Bolivien leben. Die Artbezeichnung geoffrensis geht zurück auf den französischen Zoologen Geoffroy Saint-Hilaire, der sich das erste konservierte Exemplar von Inia in Lissabon um 1800 im Namen Napoleons aneignete und in das Museum für Naturgeschichte in Paris brachte, wo es sich bis heute befindet.
Bismarck erzählt, dass momentan die Fortpflanzungszeit der Flussdelfine sei, in der die ansonsten eher einzelgängerisch lebenden Tiere die weiten, überschwemmten Wiesen um den Fluss herum aufsuchten, um dort ihre Jungen groß zu ziehen. Die Nachkommen werden durch gezielte Stöße mit der Schnauze gegen Raubfeinde wie Kaimane verteidigt. "Wir sind als Kinder immer dort ins Wasser gegangen, wo botos waren", erzählt Bismarck, "da konnten wir sicher sein, dass keine Krokodile in der Gegend sind."
In Bolivien sind Flussdelfine gesetzlich geschützt, und Mythos und Aberglaube haben die Tiere ohnehin zumeist vor direkter Bejagung durch die einheimische Bevölkerung bewahrt. Allerdings ist die Art durch Gewässerverschmutzung (z.B. durch Bohrungen der Erdölindustrie) und durch Beifang in Fischernetzen gefährdet. Zudem gelten in bestimmten Regionen die Augen und Genitalien der Flussdelfine als Aphrodisiakum und werden beispielsweise auf Märkten in Brasilien und Ecuador zum Verkauf angeboten.
Wir verlassen die überschwemmte Ebene und kehren zurück auf den Fluss. Auf aus dem Wasser ragendem Treibholz sitzen Schienenschildkröten (Podocnemis), die sich halb übereinander geschoben auf dem begehrten Sonnenplatz drängeln. Blaue Schmetterlinge gaukeln vorüber, Moskitowolken schwirren über der Wasseroberfläche, und aus einiger Entfernung hallen die grollenden, dumpfen Rufe von Brüllaffen (Alouatta caraya und Alouatta sara) durch den Galeriewald: "Nichts ist unmöglich" hinter jeder Biegung des Flusses scheint eine neue Art zu warten. Im Gebüsch am Ufer sammelt sich derweil eine Gruppe Totenkopfäffchen (Saimiri boliviensis boliviensis), die weißgesichtig und neugierig auf den Fluss schauen, und dem Boot am Ufer entlang folgen. Oftmals werden die Tiere hier von Touristen mit Bananen gefüttert; eine zweifelhafte Art der Kontaktaufnahme, bietet der Yacuma doch auch ohne derartige Eingriffe genug Beobachtungsmöglichkeiten.
Der Fluss wird schmaler, mehrfach muss Bismarck aus dem Wasser ragende Baumstämme umfahren. An einer Stelle, an der sich der Wasserlauf wieder etwas weitet, sitzen drei Hoatzine (Opisthocomus hoazin) beisammen, fasanengroß mit beigefarbener Brust und dunklen Flügeldecken, unverwechselbar durch ihr bläuliches Gesicht, den kräftigen Schnabel und die wild abstehenden orange-braunen Federn am Kopf. Der lautmalerische Name Hoatzin geht auf den Ruf der auch als Schopf- oder Zigeunerhuhn bekannten Art zurück; der auch verwendete Name Stinkvogel auf ihr ungenießbares Fleisch. Die großen, etwas behäbig wirkenden Tiere haben ihre Nester auf über dem Wasser hängenden Ästen gebaut. Die Jungvögel, die einzigartig im Vogelreich über Flügelkrallen verfügen, lassen sich bereits vier bis sechs Tagen nach dem Schlüpfen bei Gefahr ins Wasser fallen. Sobald der Raubfeind weiter zieht, erklimmen die Tiere mit Hilfe der Krallen wieder einen Baum, wo sie von den Eltern aufgesucht und versorgt werden.
Pfahlbauten und Hauskrokodile
Als Bismarck den Motor wieder anwerfen will, bleibt es still. Beim zweiten Versuch ertönt ein leises Röcheln, danach bleibt der Außenborder endgültig stumm. Wieder einmal sitzen wir fest bzw. treiben langsam in die falsche Richtung, und die Moskitoschwärme über unsren Köpfen verdichten sich. Mit den Händen manövrieren wir das Boot ans Ufer. "Zehn Minuten flussaufwärts liegt eine kleine Siedlung", erzählt Bismarck, "da wollten wir ohnehin rasten." Nach wenigen Metern, die wir am Ufer zurücklegen, versinken die Knöchel im Schlamm, noch ein paar Meter weiter stehen wir bis zu den Knien im Wasser. Vor uns rauscht geräuschvoll ein überraschter Kaiman in tiefere Gewässer. "Wenn das Wasser bis zur Hüfte reicht, gehen wir nicht weiter, wegen der Krokodile!", raunt Bismarck. Zum Glück ist unser Reichskanzler der kleinste in der Gruppe.
Kurz darauf sind wir halbdurchnässt wieder beim Boot und schneiden einige breite Äste als provisorische Paddel von den umstehenden Bäumen. Die unmotorisierte Bootsfahrt ist Kräfte zehrend, und die gegen uns arbeitende Strömung des Flusses wirkt plötzlich viel stärker. Öfter dreht sich unser Gefährt in der Strömung, oder wir fahren frontal in die Uferböschung hinein. Als wir eine gute Stunde später die angekündigten Pfahlhäuser erreichen, schmerzen die Arme, und die Gedanken schweifen kurz zurück zu den bunten Pillen, die man in Santa Cruz verschmäht hat. Wir werden mit einem üppigen Gericht aus Reis, Gemüse und Obst empfangen, gekocht in einer Open-air-Küche am Flussufer. Bananenschalen und andere organische Abfälle werden an eine dahinter gelegene Uferstelle geschüttet. "Abendbrot für das Hauskrokodil", erzählt man uns. Und tatsächlich kommt nach einigen Minuten vom gegenüberliegenden Ufer ein Kaiman herüber und tut sich an der vegetarischen Vorspeise gütlich. Bismarck angelt derweil mit Schnur, Haken und kleinen, rohen Fleischstückchen nach Piranhas, ein kleines Mädchen schaukelt in einer Hängematte auf der Veranda, und in der Ferne stimmen die Brüllaffen ihren Abendgesang an.
Hier am Flussufer wohnt eine Mutter mit ihren zwei Töchtern und einer Schwester. Haupteinnahmequelle sind Reisende wie wir, die ein paar Bolivianos für eine Mahlzeit und eine Übernachtung in einer Hütte unter einem Moskitonetz zahlen. Ob es schon zu viele Touristen wie uns gäbe, frage ich Bismarck auf der Veranda. "Depende, amigo", erwidert er diplomatisch. "Das hängt davon ab, wie sich die Menschen verhalten. Viele wollen die Tiere füttern und berühren. Einige Arten gewöhnen sich daran, andere lassen sich dann nicht mehr sehen. Die Leute sollten nur beobachten. Aber die Menschen hier sind arm. Wer Geld bringt, dem wird nicht vorgeschrieben, wie er sich verhalten soll."
Von Null auf 4000 in einer Stunde
Zwei Tage und unzählige weitere Tierbeobachtungen später treten wir mit repariertem Außenborder, den wir jedoch meist ausgeschaltet lassen, die Rückreise nach Rurrenabaque an. Als wir flussabwärts Richtung Santa Rosa treiben, begleiten uns eine Weile zwei Gelbbrustaras (Ara ararauna) hoch über uns mit lautem Krächzen. In der letzten Nacht hat es stark geregnet, und die Piste zwischen Reyes und Rurrenabaque wird erneut zur Rutschpartie. Da Ähnliches auch für die Strecke nach Trinidad zu erwarten ist, entscheiden wir uns zur Rückreise per Flugzeug und buchen einen Flug bei der Línea Aérea Amaszonas, die über fünf kleine Maschinen verfügt, die zwischen La Paz, Rurre und Trinidad pendeln. "No hay problema, mañana van a llegar a Trinidad!" Morgen also bequem nach Trinidad fliegen. Doch am nächsten Tag hängen die Wolken tief und schwer über den Andenausläufern, so dass die Piloten aus La Paz kommend auf Grund der schlechten Sicht nicht landen können. Zudem macht vor dem Büro der Fluglinie die Runde, dass eines der Flugzeuge kürzlich eine Bruchlandung hingelegt habe und deswegen nicht einsatzfähig sei. Bezüglich der Einsatzfähigkeit der bruchgelandeten Piloten und Passagiere ist nichts zu vernehmen. Eine weitere Maschine sei zurzeit beim Mechaniker wegen Motorproblemen, meldet ein Mitarbeiter wenig später lapidar.
Fünf minus drei macht zwei, und die Liste der wartenden Passagiere ist lang. So haben wir noch einmal einen Tag am Río Beni geschenkt bekommen, schlendern über den Fischmarkt am Fluss und klettern danach auf den kleinen aber steilen Berg hinter der Stadt. Oben steht ein weißes Kreuz, in dessen Schatten wir rasten und den Blick über die endlosen grünen Weiten des Tieflandes schweifen lassen. Früh am nächsten Tag sind wir wieder vor dem Büro der Airline: Die Wolken hätten sich noch nicht gelichtet, aber das werde heute schon noch klappen. Gegen 15:00 Uhr schließlich wird die Nachricht verbreitet, heute gebe es nur noch einen Flug - und zwar nach La Paz. Völlig falsche Richtung, aber egal. Der Heimflug in Santa Cruz wartet nicht auf uns, und von La Paz aus gibt es auf jeden Fall mehr Reisemöglichkeiten als von hier. Also stehen wir eine Flugstunde später schlotternd auf dem etwa 4000 Meter hoch gelegenen, zugigen Flughafen von El Alto und bewegen uns in Zeitlupe durch die Gänge, um der Sauerstoffabnahme in der Höhenluft Rechnung zu tragen. Wir entscheiden uns wieder gegen den Bus und für einen weiteren Flug, um nach Santa Cruz zu gelangen, da am Flughafen das Gerücht geht, dass es bloqueos - Straßenblockaden - in Cochabamba gebe.
Nichts Außergewöhnliches, sind doch die Blockaden, bei denen häufig nur wenige Menschen in Gesellschaft einiger explosiver Gasflaschen auf der Straße stehen, in Bolivien ein allseits beliebtes Mittel, um gegen korrupte Bürgermeister, Koka-Verbote oder die oft wechselnden Präsidenten zu demonstrieren.
Erneut einige Stunden später landen wir also nach ruhigem, blockadefreien Flug in Santa Cruz, wo uns wiederum Schwüle und subtropische Wärme empfangen. Der Körper ist inzwischen von den Temperatur- und Sauerstoffschwankungen leicht benebelt. Wir nehmen einen Micro (Kleinbus), mit einem riesigen auf der Heckscheibe aufgeklebten Jesus, um vom Flughafen ins Stadtzentrum zu fahren. Bei einer Tankstelle hält das Gefährt und ein alter Bekannter steigt ein: blitzende Augen und dünner Oberlippenbart, der Witzeerzähler von der Hinfahrt. Auch diesmal hat er wieder seine Gesundheitspillen dabei. Ich nehme ihm drei ab: eine rote für die Wärme, eine blaue für den Sauerstoff und eine grüne für den wunderschönen Wald.
Text + Fotos: Lennart Pyritz
Weitere Veröffentlichungen des Autors:
www.spektrumdirekt.de/madagaskar
www.primate-sg.org/PDF/NP14.2.alouatta.bolivia.pdf
Lennart Pyritz hat am Reiseführer über Bolivien mitgewirkt, den ihr im Reise Know-How Verlag voraussichtlich ab April 2008 erhaltet.
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Titel: Bolivien Kompakt
Verlag: Reise Know-How
Erscheint voraussichtlich im April 2008
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