ed 03/2013 : caiman.de

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spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Vierte Etappe: Zum Geisterdorf Ruesta
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


chile: Valparaíso (Bildergalerie)
Rundgang durch Chiles heimliche Kulturhauptstadt
THOMAS MILZ
[art. 2]
spanien: Der Pumarejo-Palast
Chronik einer Bürgerrechtsbewegung im Herzen von Sevilla
CARMEN NAVARRO MEZQUITA
[art. 3]
venezuela: Vieh und Viehtreiber in den Los Llanos
ALEJANDRA HUYNALAYA / DIRK KLAIBER
[art. 4]
helden brasiliens: Der ewige Dritte!
Deutschland kann auch den Carnaval nicht gewinnen
THOMAS MILZ
[kol. 1]
macht laune: Paragliding – Tandemflug in den Anden Venezuelas
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER
[kol. 2]
grenzfall: Santa Anna und das Schicksal Mexikos
BERTHOLD VOLBERG
[kol. 3]
lauschrausch: Flamenco, Jazz und Raga
Geschichte und Musik der Roma
TORSTEN EßER
[kol. 4]


[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Etappe [12] [11] [10] [9] [8] [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Vierte Etappe: Zum Geisterdorf Ruesta
 
18. August 2012. Kurz nach 5.00 Uhr im Morgengrauen. Heiliger Gesang wabert wie Weihrauch durch die alten Gemäuer von Arrés. Gregorianische Choräle als Weckruf für Pilger – eine stimmungsvolle Idee. Cayetana räkelt sich müde und bemerkt, dass Hard Rock der Heroes del Silencio sie jetzt schneller wach machen würde als dieser „sakrale Singsang“. Es hilft aber nichts: wenn wir heute der erwarteten Gluthitze durch eine Siesta im Schatten entkommen wollen, müssen wir in einer halben Stunde losmarschieren. Ohne zu murren, rollt sie ihren Schlafsack zusammen und verstaut alles im Rucksack. Jeder von uns „tankt“ je drei Liter Wasser am Dorfbrunnen. Und ich möchte hier nicht unerwähnt lassen, dass von allen Brunnenwassern, die wir auf dem ganzen Camino getrunken haben, das Wasser des Brunnens von Arrés am köstlichsten geschmeckt hat. An diesen Dorfbrunnen werden wir im Lauf des Tages noch denken, denn heute erleben wir den gefühlten Hitzerekord und werden erneut an unsere Grenzen stoßen (oder darüber hinaus).

Noch ist es dunkel und erstaunlich kühl, als wir am Ortseingang links (nicht geradeaus!) den steilen Felsenpfad hinunter stolpern. Im Dämmerlicht entdecken wir ein „Buen Camino!“, das jemand mit gelber Schrift auf einen Felsblock geschrieben hat. Noch ein Blick zurück auf den Dorfhügel von Arrés, dann geht es leicht bergab durch die Hochebene Richtung Artieda. Es ist noch immer nicht richtig hell, die Sonne lässt sich heute Zeit. Besser so! Es weht ein kühler Wind, Cayetana überlegt sogar, sich ihre Trainingsjacke überzuziehen. Ich bin selbst überrascht, aber erstens sind wir schon lange nicht mehr so früh los gegangen und zweitens befinden wir uns im Alto Aragón auf fast 900 Metern Höhe; da darf es vor Sonnenaufgang auch im August kühl sein. Es scheint so, als ob wir am schnellsten von allen aufgebrochen sind, denn vor uns sehen wir keinen, hinter uns erkennen wir in der Ferne zwei Kleingruppen.



Inzwischen ist die Sonne aufgegangen und wir biegen in einen Feldweg ein, wo wir zunächst einer Schafherde den Vortritt lassen müssen. Der alte Hirte schaut auf die Muscheln an unseren Rucksäcken, lächelt und weist mit seinem Stock gen Westen: „Nach Santiago – immer nur geradeaus!“ Nach einer entmutigend langen Strecke durch gelbgrünes Nichts taucht am Horizont der Hügel von Artieda auf. Es ist erst 10 Uhr und wir haben bereits 20 Kilometer zurück gelegt! Das ist unser neuer Rekord, bemerkt Cayetana nicht ohne Stolz. Das war auch nötig, denn die angedrohte Hitze erfüllt bald die Luft wie Feueratem - und Wasser haben wir auch keins mehr.



Cayetanas Augen folgen meinem Blick zum Gipfel von Artieda. „Da geh ich jetzt nicht hoch, niemals!“ „Willst Du Wasser?“, frage ich sie. „Also gut, dann gib mir Deine Flaschen, ich geh für uns beide und Du kannst hier warten.“ „Nein“, meint sie verlegen, das könne sie mir in meinem Alter doch nicht zumuten. „Also gut, ich komme mit.“ (Das mit dem Alter habe ich überhört). Fluchend stapft sie mir hinterher. „Wieso muss in Aragón jedes Kaff auf einem Berg liegen?! Ich schwöre, ich werde dafür sammeln, dass ein paar Brunnen in der Ebene angelegt werden.“.





Nach endlosem Anstieg, der rund um den ganzen Hügel führt, stürzen wir uns auf den Brunnen, der schon von einer Gruppe Fahrrad-Pilger belagert wird. Eine Lektion des Camino ist zweifellos die Verehrung des Wassers und darüber hinaus die Erkenntnis, was die wirklich wichtigen Dinge im Leben sind und was eher überflüssig ist.



Nach dem Abstieg liegen noch knapp 10 Kilometer vor uns. Die erste Hälfte führt uns über eine glühende Schotterpiste, vorbei an seltsam geformten Karstfelsen, dann durch eine schattenlose Hochebene, bevor der Reiseführer danach wieder Wald verspricht. Nachdem wir heute Morgen fast fünf Kilometer pro Stunde geschafft haben, wird jetzt in diesem Glutofen jeder Meter zur Qual. Mit dem Schwung des Abstiegs (und solange das Brunnenwasser in unseren PET-Flaschen noch nicht kocht) können wir ein oder zwei Kilometer zügig marschieren. Aber dann kriechen wir wie Schnecken kurz vorm Koma über den vielleicht einsamsten Pfad des ganzen Camino. Trotz Kopfbedeckung wird uns schwindelig vor Hitze. „Sieh mal, da kommt ein Polizeiauto“, sagt Cayetana – doch wir glauben beide an eine Fata Morgana. Was macht ein Polizeiwagen auf einem Feldweg inmitten der aragonesischen Bergwelt, wo es vor lauter Einsamkeit gar keine Kriminalität geben kann? Langsam fährt der Wagen an uns vorbei. (Beim Abendessen erfahren wir, dass die Polizei an solch extrem heißen Hochsommertagen ab und zu diese einsamste Strecke des Camino abfährt, um zu sehen, ob möglicherweise Pilger dort verdursten).



Heute sind wir vorsichtiger als gestern und teilen uns das Wasser sparsamer ein. Plötzlich lässt sich Cayetana auf einen Stein am Wegesrand plumpsen und klagt. „Wenn es wenigstens eine einzige Sonnenblume geben würde, die Schatten wirft, dann könnte ich meinen Kopf drunter halten…“ Ich setzte mich auch und sie zerrt ihr knallrotes Regencape aus dem Rucksack und spannt es wie einen Sonnenschirm über uns auf. Vielleicht zehn Minuten kauern wir so auf den glühenden Steinen und bilden einen kleinen herzroten Hügel in der gelbgrauen Hitzewüste, die von unheimlicher Stille erfüllt wird. Als wir das Gefühl haben, das rote Plastik beginnt zu schmelzen, raffen wir uns wieder auf – und entdecken endlich am Horizont einen dicht bewaldeten Hügel. Nach einer gefühlten Ewigkeit haben wir den rettenden Schatten erreicht und können unter dem schützenden Blätterdach den Schritt beschleunigen. Der Wald oberhalb der Talsperre von Yesa ist märchenhaft schön, aber dafür haben wir jetzt keinen Blick. Wir sind erschöpft und wollen nur noch ankommen. Auch die interessante Kapelle mitten im Wald lassen wir rechts liegen, denn uns bleibt nur ein Schluck Wasser und wir sind noch nicht am Ziel. Wütend tritt Cayetana gegen einen Stein und spielt mit ihm Fußball. Mit trockener Stimme, in Erinnerung an das gestrige Abendmahl-Thema, das man später vielleicht das „Manifest von Arrés“ nennen wird, macht sie plötzlich einen kaum konsensfähigen Vorschlag: „Vielleicht sollte jeder Investmentbanker Europas gezwungen werden, auch diesen Weg im Sommer zu gehen und in einfachen Herbergen zu übernachten wie wir!“ „Wie kommst Du denn jetzt darauf?“ Ich blicke sie an: da steht sie wie eine wilde Waldfee – verschwitzt und sonnengebräunt, schön und rebellisch, mit flammendem Blick aus fast schwarzen Augen wie eine Art weiblicher Che Guevara und irgendwie hab ich sie furchtbar gern in diesem Moment. Ich umarme sie spontan, drücke sie an mich und flüstere ihr „meine kleine Kommunistin“ ins Ohr. Doch als wir weiter gehen und mein Verstand zurück kehrt, gebe ich zu bedenken: „…aber wenn Du Banker über den Camino treibst, ist das Ergebnis doch klar: in ein paar Jahren würden sie dafür sorgen, dass die einfachen Herbergen, wo man jetzt (fast) umsonst übernachten kann, in teure Wellness-Hotels umgewandelt werden, so würde der Camino zu einem Mallorca-Trail.“



Die befürchtete Diskussion wird durch die ersehnte Erscheinung der Burgruine von Ruesta unterbrochen. Mit letzter Kraft noch einmal steil bergauf, dann stehen wir inmitten der verfallenen Häuser des Geisterdorfs Ruesta und Cayetana murmelt etwas von „Draculas Schloss“. Überall Häuser ohne Dach, halb überwuchert von Bäumen und Sträuchern, zurück erobert von der Natur. Aus der Kirchenkuppel wächst ein Baum. Unheimliche Stille, nur ein Hund heult, als ob Vollmond wäre. Nachts möchte man hier nicht ankommen.



Es ist kurz nach zwei Uhr mittags. Wir fallen wie tot auf unsere Matratzen, schlafen fast bis zum Abendessen und träumen ausnahmsweise mal gar nichts. Als wir aufwachen, fragt Pietro mit bezauberndem, aber auch leicht spöttischem Lächeln: „Seid ihr wieder unter den Lebenden?“ Cayetana reagiert erstaunlich gereizt: „Ich kann mich nicht erinnern, tot gewesen zu sein!“ Wie eine Tigerin springt sie von ihrem Hochbett herunter und verkündet: „Ich muss all diese toten Häuser fotografieren bevor es Nacht wird.“ Beim Abendmahl feiern wir unseren morgigen Abschied vom Königreich Aragón und genießen die unwirkliche Atmosphäre dieses malerischen Ruinendorfs. Ich frage den Herbergsvater, ob es stimme, dass dieser Ort – wie in meinem Reiseführer angegeben – genau vier Einwohner habe. „Da haben sie wohl meine drei Hunde mitgezählt. In Wirklichkeit wohne ich hier ganz allein, nur im Sommer gibt es manchmal Freunde oder Gäste, die länger bleiben, aber im Winter halte ich als einziger die Stellung!“



Hoffen wir, dass dies auch so bleibt, denn leider gibt es Pläne zum Ausbau der Yesa-Talsperre. Sollte man diese trotz einer breiten Protestbewegung realisieren, wird der Teil des Camino, den wir heute gegangen sind, für immer in den Fluten verschwinden, und ebenso einige Dörfer – bewohnte und (fast) unbewohnte wie Ruesta. Im schlimmsten Fall könnten wir zu den letzten gehören, die an diesem magischen Ort zwischen bizarren Ruinen in den Sonnenuntergang blicken durften – und auf die blau gemalte Wand der Dorfkirche, an die Ama Lurra ihr Protest-Gedicht gegen die drohende Überflutung der geheimnisvollsten Region von Aragón gepinselt hat. Also schließen wir uns ihr an, so gut das aus der Ferne geht, damit Europas tausendjähriger Pilgerweg nicht an dieser Stelle für immer unterbrochen wird, und rufen einstimmig „YESA NO!!“



Text und Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Warnung:
Auf der gesamten fast 30 Kilometer langen Strecke zwischen Arrés und Ruesta gibt es KEINE Verpflegungsmöglichkeit, d.h. keinen Laden und nur einen Brunnen im Dorf Artieda. Deshalb wird empfohlen, in Arrés und Artieda mindestens je drei Liter Wasser zu „tanken“ und Trockenfrüchte wie z.B. Mandeln mitzunehmen. Der Abschnitt zwischen Artieda und Ruesta ist der einsamste des Camino Aragonés. Wer hier an einem heißen Sommertag kein Wasser mehr hat, kann durchaus in Lebensgefahr geraten.

Etappe Arrés bis Ruesta: knapp 30 Kilometer

Pilgerherberge in Ruesta (gegenüber der Kirchenruine):
Wird von der Gewerkschaft CGT unterhalten, man zahlt 24 Euro für Übernachtung + Abendessen – wem dieser Preis hoch erscheint, der sollte bedenken, dass sämtliche Lebensmittel von weit her an diesen verlassenen Ort transportiert werden müssen – im weiten Umkreis gibt es außer anderen verlassenen Dörfern – nichts! Zudem ist die Lage des romantischen Ruinendorfs Ruesta, das wie ein Adlernest über der Talsperre thront, so spektakulär, dass sich ein Abend hier lohnt. Tel.  948-398082

[druckversion ed 03/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_2] Chile: Valparaíso – Rundgang durch Chiles heimliche Kulturhauptstadt (Bildergalerie)
 
Valparaíso, das Paradiestal, ist nicht nur eine Augenweide, wie unsere Bildergalerie zeigt. Die Perle des Südpazifiks ist auch Chiles heimliche Kulturhauptstadt und Sitz einer gigantischen alternativen Kunstszene.

Weltbekannt sind die bunt gestrichenen Häuser und die mit Graffiti verzierten Wände. Im Plano mit seinem Hafenviertel oder auf den Hügeln, den Cerros, herumzuwandern, verschafft pure Lust. Besonders dank des stets frühlingshaften Klimas. Das hatte einst bereits Pablo Nerudo, Chiles Dichtergröße, der hoch auf einem der Berge in seiner schmucken Villa residierte, für sich eingenommen. – Viel Spaß mit unserem bunten Rundgang:

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Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 03/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: chile]





[art_3] Spanien: Der Pumarejo-Palast
Chronik einer Bürgerrechtsbewegung im Herzen von Sevilla

Dieser Artikel erzählt die Geschichte des Kampfes um die Erhaltung des Pumarejo-Palastes, der im Norden der Altstadt von Sevilla liegt. Zugleich zieht er die Bilanz einer Bürgerrechtsbewegung, die sich dafür engagiert, dieses Gebäude von großem kulturhistorischem Wert zu retten – aber so, dass nach einer Restaurierung seine aktuellen Bewohner zurückkehren können und die traditionellen Funktionen dieses Architekturkomplexes erhalten bleiben (Wohnungen, Läden, Handwerksbetriebe, Vereinsbüros).

Die Bewohner des Pumarejo sehen ihre Zukunft bedroht durch den schleichenden Verfall der Gebäudestruktur und die nachlässige, geradezu respektlose Haltung des aktuellen Eigentümers, der Stadtverwaltung Sevillas, zu diesem Problem. Die skandalöse Passivität der Stadt Sevilla, die das Eigentumsrecht am Pumarejo-Palast erworben hat, dauert nun schon zwölf Jahre an und scheint die Befürchtung vieler Bürger des Viertels zu bestätigen, dass der endgültige Verfall dieses Kulturerbes von den Verantwortlichen offenbar gewünscht wird. Denn wie in vielen ähnlichen Fällen in Europa scheinen die Spekulanten schon in den Startlöchern zu sitzen. Das Ziel: entweder Luxuswohnungen in dieser Top-Lage zu errichten (die sich niemand der aktuellen Bewohner leisten könnte) oder den entkernten Barockpalast in ein Luxushotel zu verwandeln. Gegen solche Absichten protestiert die Bürgerbewegung mit zahlreichen Aktivitäten.

Ein Haus mit 227 Jahren Geschichte
Unsere Geschichte beginnt im vorletzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Don Pedro de Pumarejo, einer der vielen Adligen Sevillas, befahl den Bau eines Palastes nahe der arabischen Stadtmauer. Bald trug nicht nur der Palast selbst, sondern auch der Platz davor seinen Namen. Obwohl die Fassade zum Platz nicht besonders groß wirkt, wuchs der Palast zu einem Komplex von enormer Größe an, mit vielen Innenhöfen und Gärten. Don Pedro jedoch blieb nicht lange in seinem neuen Haus.

Schon 1785 verließ er es und drei Jahre später, nach seinem Tod, unterzeichnete seine Witwe einen Vertrag, in dem sie den gesamten Besitz der Stadt Sevilla überschrieb.

Foto: Der Pumarejo-Palast am Anfang des 20. Jh.


Die Stadt übergab das Gebäude der wohltätigen Institution "Los Toribios", die dort ein Pflegeheim für Arme und eine Schule einrichtete, die beide bis 1823 in Betrieb waren.

Zwischen 1823 und 1861 blieb der Komplex weitgehend unbewohnt, bis eine gemeinnützige Stiftung, die Sociedad Benéfica, Subventionen von der Stadt Sevilla erhielt, um eine Schule für Erwachsene und eine Volksbibliothek im Pumarejo zu gründen. Zufrieden mit den Resultaten dieser Initiative, beschloss die Stadt, das weitläufige Gebäude zusätzlich als Sonntagsschule für Kinder zu nutzen.

Ab dem Jahr 1865 wurde ein großer Teil des Palastes in Mietwohnungen umgewandelt. Dies war eine Entwicklung, die in jener Zeit in vielen Städten Europas zu beobachten war: aufgrund der zu hohen Instandhaltungskosten wurden Adelspaläste in kleine Wohneinheiten zur Vermietung umgewandelt. Im Jahr 1886 erwarb der reiche Unternehmer Aniceto Sáenz Barrón das gesamte Areal des Pumarejo mit der Absicht, in den Gartenanlagen, die zum Palast gehörten, Mietshäuser zu errichten. So entstand in wenigen Jahren rund um den alten Palast ein neues Wohnviertel, dessen Straßen die Namen von Aniceto Sáenz und seinen Familienangehörigen tragen. Der Palast blieb weiterhin ein Komplex von Mietwohnungen.

Nach dem Tod von Aniceto Sáenz im Jahr 1903 erbte sein Sohn das gesamte Anwesen und verwaltete die zahlreichen Wohnungen. In den Jahrzehnten danach wechselte der Palast mehrfach den Besitzer, blieb aber zum größten Teil ein Wohnkomplex, wobei sich auch ein paar Läden und Handwerksbetriebe unter seinem Dach ansiedelten.

Das Stadtviertel San Luis – Alameda: ein Ghetto der Gentrifizierung
Im Jahr 1975 erbten schließlich vier Geschwister den Pumarejo-Palast zu jeweils gleichen Teilen. Zwar wurde in der Zweckbestimmung des Gebäudes der Mix aus Mietwohnungen und Läden beibehalten, aber seit Ende der 70er Jahre musste der einst glanzvolle Palast die schleichende Vernachlässigung durch seine Besitzer hinnehmen. Er verlor die prachtvolle Ausstattung seiner Fassaden und Patios.

Dieser Prozess des langsamen Zerfalls verlief parallel zu den Folgen der totalen Vernachlässigung des Stadtviertels San Luis-Alameda durch die städtischen Behörden von Sevilla. Nicht wenige Historiker suchen den Grund für die Jahrzehnte lange Missachtung in der Tatsache, dass dieses "rote" Viertel beim Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs auf der Seite der Zweiten Republik und damit gegen Franco stand. So wurde ein ganzer Stadtteil von den Behörden "bestraft" und als Spanien nach Francos Tod wieder zur Demokratie zurück kehrte, war das Viertel rund um die Calle San Luis verarmt, herunter gekommen und beherrscht von Kriminalität und Unsicherheit.

Vor allem seit dem "Jubeljahr" 1992, als Sevilla seine Weltausstellung feierte, kam der lange vernachlässigte Stadtbezirk zwischen der Macarena-Stadtmauer und der Alameda de Hércules wieder in Mode und viele neue Bewohner zogen ein. Der Charakter des Viertels wurde durch die Neuankömmlinge und den "Plan Urban" stark verändert. Dieser Stadtentwicklungsplan versteckte unter seiner sozialen Maske ein gewaltiges Spekulationsgeschäft.

Gleichzeitig war das Jahrzehnt nach der Weltausstellung geprägt von einem Phänomen, das die ganze Altstadt Sevillas betraf und ganz besonders das Viertel rund um die Plaza de Pumarejo. Viele Hauseigentümer vermieteten nicht mehr; angesichts der stark gestiegenen Grundstückspreise wollten sie leer stehende und baufällige Häuser lieber verkaufen. Viele Mieter mussten in andere Viertel umziehen, zurück blieben vor allem ältere Bewohner. So führte die wuchernde Spekulation im Viertel San Luis- Alameda Ende der 90er Jahre auch dazu, dass viele alte Mieter, die ihr ganzes Leben hier verbracht hatten, aus ihren Wohnungen geworfen wurden. Aber auch viele betagte und verarmte Eigentümer(innen) von Häusern, die ihre beste Zeit hinter sich hatten und längst renovierungsbedürftig waren, wurden zur leichten Beute von Immobilienhändlern, die bald unter dem Beinamen "Witwenschreck" berüchtigt wurden.

Damit begann hier zum Ausklang des vergangenen Jahrhunderts ein Prozess, den Anthropologen Gentrifizierung nennen: ein Begriff, der nichts anderes beschreibt als die Vertreibung der alteingesessenen, oft verarmten Bevölkerung und die Substitution derselben durch eine neue, wirtschaftlich erfolgreiche Einwohnerschaft, die "Gentry".

Diese Entwicklung machte auch vor dem Pumarejo-Palast nicht Halt, denn im Januar 2001 kauft eine Hotelkette die Anteile von zwei der vier Palasteigentümern (also 50%) mit dem Ziel, das Gebäude in ein Luxushotel umzuwandeln.

Das Jahr 2000 – der Beginn des Kampfes zur Erhaltung des Palastes
Schon im Juni 2000 war von einem Kollektiv, in dem Personen aller Altersgruppen und verschiedenster Berufe und Weltanschauungen und sogar Menschen von außerhalb des Viertels vertreten waren, die "Plattform für den Pumarejo-Palast" gegründet worden, und zwar mit folgenden Zielen:
  • Die Restaurierung des gesamten Palastkomplexes zu erreichen
  • Die Wiederbelebung des Gebäudes durch den Erhalt seiner traditionellen ethnologischen Werte (Wohngemeinschaft, Handwerksbetriebe und Nachbarschaftstreffpunkt)
  • Den Verbleib der aktuellen Bewohner/Mieter zu erreichen, die von der Spekulantenwillkür bedroht sind.
Diese Protest-Plattform konnte eine große Vielfalt von Wissen, Energien und persönlichen Begabungen in sich vereinen, was sich sehr positiv auf ihre Strategien und Aktivitäten auswirkte. So wurde diese Bürgerinitiative inspiriert von der Bewusstseinsbildung, die ein lebendiges Kulturerbe definiert.

Foto: Aztekische Tanzaufführung während des "Kulturmarkttages" Ende 2001 vor der "Reurbanisierung" der Plaza de Pumarejo. Das Plakat im Hintergrund ist eine Anspielung auf den verantwortlichen Stadtplaner jener Zeit (Koalition aus Sozialisten und Andalusischen Nationalisten).

Wir schauen also auf zwölf Jahre des Kampfes zurück. Dazu waren individuelle Anstrengungen und kollektive Initiativen sowie ehrenamtliches Engagement nötig. Die Pumarejo-Plattform ist ein Beispiel für eine Zivilgesellschaft, die an verschiedenen Fronten (der juristischen, der bautechnischen, der sozialen) kämpft und mit vielen kleinen Gemeinschaftsarbeiten den Zustand des Gebäudes verbessert hat.

Im Folgenden werden wir auf ein paar der wichtigsten und entscheidenden Kapitel dieser Bürgerinitiative eingehen. Dem Ziel der Erhaltung des kulturellen Erbes kam man 2003 näher, als der Palast von der Stadt Sevilla zum schützenswerten historischen Monument erklärt wurde – eine Erklärung, die ausdrücklich die Pluralität seiner Nutzung (Wohnungen, Läden, Handwerksbetriebe) erwähnt.

Während der Revision des Generalplans zur urbanen Raumordnung von Sevilla wurde im Juli 2006 berücksichtigt, dass der Palast in Zukunft der öffentlichen Hand gehören sollte. Schließlich erreichte man 2009, dass die Stadt Sevilla alleinige Rechtseigentümerin des Palastes wurde.

Foto: Übergabe der "Kohle" durch den "König Melchor" an das Amt für Stadtplanung (Weihnachten 2003/2004)

Die Entstehung des "Bürgerzentrums Pumarejo" im Mai 2004 gilt als ein Meilenstein, der der Initiative ein Gesicht gab in der Stadtlandschaft von Sevilla und für neue Energie und Anhänger sorgte. Nach einer teilweisen Restaurierung wurde dieses Forum im Palastkomplex eröffnet, das zugleich als Anlaufstelle für Bürgeraktivitäten des ganzen Stadtviertels funktioniert.

Die Bürgerinitiative war stets bemüht um die Unterstützung der Stadtverwaltung von Sevilla. Im Jahr 2005 wurde ein Katalog mit Vorschlägen und Entwürfen zur Wiederbelebung von Palast und Plaza de Pumarejo überreicht. Von all diesen Vorschlägen der Bürger ist bisher nur zwischen 2007 und 2009 die Reurbanisierung des Platzes realisiert worden.

Es wurde zwar schon 2007 ein Projektentwurf zur kompletten Restaurierung des Palastes vorgestellt (Kostenkalkulation sechs Millionen Euro), bis heute jedoch nicht umgesetzt. Um die Interessen der Hausbewohner stärker zu vertreten, wurde 2007 die "Assoziation Casa del Pumarejo" gegründet, in der sich die Sprecher der Mieter und Vertreter anderer Vereine wie zum Beispiel die Bürgerinitiative "La Revuelta" oder der Verein "Architektur und soziale Verpflichtung" organisiert haben. Letzterer hatte ebenfalls 2007 einen Vertragsentwurf für die Stadtverwaltung Sevillas und das Parlament von Andalusien ausgearbeitet; diese Übereinkunft wartet allerdings noch darauf, endlich unterzeichnet zu werden.

Als Ergebnis der partizipativen Arbeit und Essenz einer Sammlung von Vorschlägen und Umfragen im Stadtviertel wurde in den letzten Jahren ein Dokument mit dem Namen "Nutzungskonzepte für den Pumarejo-Palast" entworfen.

Foto: Während der letzten Jahre gab es nie versiegenden Zuspruch von zahlreichen Gruppen und Intellektuellen: ein Solidaritätsbrief von José Saramago (Nobelpreisträger für Literatur 1998), der im Eingangsportal des Palastes angebracht wurde.

Aktivitäten
Die letzten Jahre waren geprägt von Synergie-Effekten, hervorgerufen durch viele Sympathiekundgebungen zahlreicher Personen (einige von ihnen aus fernen Ländern), die vom Pumarejo-Projekt angezogen wurden und alle möglichen sozialen und kulturellen Aktivitäten, Foren und Veröffentlichungen ins Leben gerufen haben. Diese Initiativen sind so facettenreich, dass sie genug Material für einen neuen Artikel hergeben, deshalb sollen hier nur die wichtigsten und nachhaltigsten aufgeführt werden:
  • Einrichtung eines Büros für soziale Rechte in Sevilla (ODS, gegründet 2004): Sozialarbeiter, Rechtsanwälte und andere Experten stellen sich hier ehrenamtlich zur Verfügung, um zum Beispiel Rechtsbeistand und Sozialhilfe für Immigranten, Arbeitslose und andere von der Gesellschaft Vergessene zu organisieren.
  • Treffpunkt des Mieterbundes "La Corriente" (der Kreislauf): Bürgerinitiative für "gerechte, würdige und stabile Mietverhältnisse" und gegen Willkür und Missbrauch der Macht durch Vermieter: auch hier wird Mietern kostenloser Rechtsbeistand angeboten.
  • Kulturmarkt am Samstag auf der Plaza de Pumarejo (seit 2001): Kombination aus Flohmarkt (Stände für Bücher-Antiquariat, Schallplatten, etc.), Konzerten oder Tanzaufführungen. Zudem wurde zwischen 2001 und 2012 dreimal pro Jahr eine eigene Zeitschrift (La Cagá del Palomo" – "Taubendreck") herausgegeben.
Foto: Samstäglicher Kulturmarkt während des "Tages für eine würdevolle Wohnung" (24.11.2012)
  • "Bibliopuma" (seit 2009 im Kulturhaus "Rosa Moreno" organisiert): Leihbibliothek mit über 5000 Bänden, Filmen, CDs, Comics, Internet, Treffpunkt von Kulturinitiativen und Spielklubs
  • Projekt PEPA (People Participating), an dem auch die Vereinigungen "Casa Invisible" (Das unsichtbare Haus) aus Málaga und der "Kreis Johannes XXIII" aus Córdoba teilnehmen (seit 2009 als Teil des Projekts "European People – Machtübernahme der Zivilgesellschaft")
  • Verband "Anti-Wachstum" in Sevilla (seit 2009) und Gründung der Sozialwährung "El Puma" (2012): soll dazu beitragen, alternative Entwicklungsformen und Formen des Güteraustauschs zu etablieren, die sich der Tyrannei der kapitalistischen Marktwirtschaft widersetzen. Ähnliche Phänomene kann man zur Zeit auch in anderen Regionen Spaniens beobachten.
Foto: Logo der Bürger-Währung "El Puma"
  • Werkstätten und Workshops: Spanisch für Immigranten (2006), Schneiderei (2007), Italienisch-Kurs (2008), Yoga-Training (2011), Französisch-Kurs (2012)
  • Andere Aktivitäten: Weihnachtsbasar, "Rebellische Blumen für den Palmsonntag" (Karwoche), Maikreuze, Semesterabschluss-Fest, Open-Air Kino auf dem Platz (Sommer)
Foto: Weihnachtsbasar im Innenhof des Palastes

Für ein neues Modell der Bürger-Mitbestimmung: aktuelle Situation
Hervorzuheben ist, dass die Haltung der Stadtverwaltung von Sevilla (offizielle Eigentümerin des Pumarejo-Palastes) seit 12 Jahren durch Desinteresse, Gleichgültigkeit und mangelnde Sensibilität geprägt ist – und dies hat keine politischen oder wirtschaftlichen Gründe:
  • Obwohl die Stadtregierung die politische Farbe gewechselt hat, hat sich die Haltung zur prekären Lage des Pumarejo-Palastes nicht geändert. Im Jahr 2000 gab es eine Koalition von Sozialisten und andalusischen Nationalisten (PSOE-PA), von 2003 bis 2011 war Izquierda Unida (Kommunistische Partei) der Juniorpartner der Sozialisten und seit 2011 regieren die Konservativen (PP) mit absoluter Mehrheit.
  • Auch ökonomisch gesehen ist die Tatenlosigkeit kaum zu erklären, denn selbst eine umfassende Restaurierung des Palastes (kalkuliert mit ca. 6 Millionen Euro) würde nur einen winzigen Bruchteil dessen kosten, was andere, von der Stadt Sevilla in letzter Zeit geförderte Architekturprojekte gekostet haben. Hier seien nur drei Beispiele angeführt für größenwahnsinnige Projekte, die zum größten Teil von der Stadt Sevilla finanziert wurden und dabei kaum öffentlich-sozialen Nutzen haben: das "Olympiastadion" (in einer Stadt, die wohl niemals Olympische Spiele ausrichten wird, das Stadion wird kaum genutzt), das Projekt Metropol-Parasol (die "Giftpilz-Bebauung" der Plaza de la Encarnación – Bürger haben sie mit ihren Steuergeldern bezahlt, die Bauten sind aber jetzt in privater Hand und Besucher müssen bezahlen, um auf die von ihnen finanzierte Aussichtsplattform zu gelangen: es handelt sich also um dreisten Raub von öffentlichem Raum), und die Prado-Bibliothek – eine Baustelle, die jetzt wieder abgerissen werden muss, nachdem Gerichte den Klägern gegen die Abholzung des Stadtwaldes recht gegeben haben – ein Millionengrab.
Aktuelle Ansicht des Palastes: die Balkone der Fassaden wurden mit lebensgroßen Foto-Abzügen von Bewohnern dekoriert, um gegen den baufälligen Zustand zu demonstrieren.

Trotz der städtischen Vernachlässigung führt die Bürgerinitiative des Pumarejo-Palastes ihre Arbeit fort. Ihr letzter Vorschlag an die Stadtregierung: Instandsetzung der bestehenden Läden und Wohnungen mit Rückkehr-Recht für die alten Mieter sowie Installation von 26 neuen Sozialwohnungen im Obergeschoss. Im Erdgeschoss will die Bürgerinitiative ihr eigenes Büro, für das sie schon im Mai 2011 eine Lizenz über 15 Jahre erhalten hat, sowie eine Wohnung behalten.

Wie bereits erwähnt, hat die Stadtverwaltung bisher nur ein paar kleinere Restaurierungsarbeiten durchführen lassen, die Stückwerk sind und kaum etwas zur Erhaltung der historischen Bausubstanz beigetragen haben. Einige der Bewohner sind wegen des prekären Zustandes ihrer Wohnungen bereits vorübergehend ausgezogen und hoffen auf eine schnelle und umfassende Restaurierung. Drei Familien jedoch harren im Palast aus, mit großer Sorge angesichts der Baufälligkeit ihrer Wohnungen und des Zweifels an einer Rückkehr nach der Restaurierung.

Bis zum heutigen Tag demonstriert die Sevillaner Stadtverwaltung eine wenig zum Dialog mit der Bürgerinitiative neigende Haltung in der Frage um das Schicksal des Palastes. Zuletzt wurden öfter Restaurierungsarbeiten ohne vorherige Ankündigung durchgeführt – die Bewohner und Bürgerinitiative erfuhren davon aus der Zeitung oder von Handwerkern, die plötzlich im Patio standen. Dies waren stets nur kleine Arbeiten, das integrale Gesamtkonzept einer umfassenden Rettung des Palastes (eigentlich schon 2007 beschlossen) wurde wie gesagt nicht wirklich in Angriff genommen. Zudem schwebt die Drohung einer kompletten Zwangsräumung des Palastes durch die städtischen Behörden (bisher wurden 60% der Wohnungen freiwillig geräumt) und einer Schließung des Gebäudes mit ungewisser Zukunft und ohne Rückkehr-Recht über den Bewohnern.

Deshalb wurde von der Bürgerinitiative des Pumarejo-Palast am 27. November 2012 eine Pressekonferenz einberufen, auf der das Projekt "Wir machen es selbst" (die Restaurierung) präsentiert wurde. Die Initiative hat nun begonnen, mit einer internationalen Kampagne Spenden (crowdfunding) für die Realisierung dieser Rettung des Palastes durch das Volk zu sammeln.

Foto: Mitglieder der Bürgerinitiative bei einer Kundgebung für das Projekt "Wir machen es selbst!"

Der Pumarejo-Palast kämpft weiter um seine Rettung durch bürgerliche Selbstverwaltung – ein gerechtes Ziel für alle, die hier weiter leben wollen und eine Idee, die es wert ist, unterstützt zu werden, in Sevilla und anderswo.

Texto: Carmen Navarro Mezquita
Fotos: Carmen Navarro Mezquita und andere

Empfehlung Lektüre:
"Un edificio de lujo para la reivindicación social en Sevilla"
"La autogestión ciudadana frente a los intereses del Ayuntamiento" (beide Artikel von David Gómez, publiziert in der Zeitschrift "Diagonal" Nr. 129 (24.6. – 7.7.2010)

"Los Vecinos critican las obras de apuntalamiento de la Casa del Pumarejo" (Artikel von Amalia F. Lérida, publiziert in der Tageszeitung ABC, 5.8.2012)

Link:
www.pumarejo.es
Historische Chronik des Pumarejo-Palastes (Dezember 2010)
"Pumarejo Paradise (una articulación posible)

[druckversion ed 03/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_4] Venezuela: Vieh und Viehtreiber in den Los Llanos
 
Mit den Europäern kamen auch die Rinder in die Neue Welt. Vor allem in den endlosen Steppenlandschaften der argentinischen Pampas oder den Los Llanos de Venezuela fanden sie ideale Lebensbedingungen und vermehrten sich rasant. Nur 50 Jahre nachdem das erste Rind den Boden der Neuen Welt betreten hatte, erlangten die Herden eine so gewaltige Größe, dass Reisende mitunter tagelang kampieren mussten, bis die Rinder vorbei gezogen waren.



Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts berichte Alexander von Humboldt, dass das Landschaftsbild der Los Llanos über weite Strecken von Rinderherden bestimmt war. Reisende, die nach der Unabhängigkeit der amerikanischen Länder von Spanien die Los Llanos in Venezuela besuchten, sahen eine "gewaltige Verminderungen in der Zahl der Rinder, welche in Folge der endlosen Revolutionskämpfe und aus anderen Gründen stattgefunden hatte." [Aus den Llanos, in: Das Ausland, Stuttgart 1878]



Nicht desto trotz scheinen die Los Llanos aus Sicht der Reisenden ein Schlaraffenland aus Viehsicht darzustellen: "Wenn dann auf der Lehmplatte der Llanos das Steppengras längst verdorrt und als Weide unbrauchbar geworden ist, sind die feuchten Potreros ein prachtvolles grünes frisches Weideland, in dem das Vieh nicht nur die Dürre übersteht, sondern sogar dick und fett wird. Gerade während der Trockenzeit, die für die Viehzucht in den Tropen ein so ungemeines Hindernis bildet, hat das Vieh seine beste Zeit, gibt am meisten Milch und ist am fettesten." [Passarge, S., Bericht über eine Reise im venezolanischen Guyana, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde, Berlin 1902]



Mit den Europäern änderte sich nicht nur das tierische Landschaftsbild, sondern auch die Bewohnerstruktur der Steppe entwickelte sich neu. Zu den wenigen indigenen Gruppen, die die Los Llanos ihre Heimat nannten, gesellten sich Flüchtlinge und Vertriebene. Unter diesen fanden sich weitere indigene Gruppen von der Küste kommend sowie Sklaven, Deserteure und Seeräuber.



Die Menschen begannen, Rinder zu domestizieren. Sie nutzten dazu ein weiteres aus Europa importiertes Tier: das Pferd. Und so entstand das heute immer noch vermittelte Bild des rauen Viehtreibers. In Deutschland wurde dieses Bild im 19. Jahrhundert publik: "Der Llanero ist ein wilder, unbändiger Geselle. Als kleiner Junge lernt er reiten, hat sich, auf dem Rücken des wilden Stieres liegend und sich an dessem Schwanz festhaltend, während seine Beine den Hals des Tieres umklammern oben zu halten, bis der Stier ermattet ist. Fällt der Junge herunter, so ist er verloren. Im Alter von 13 - 14 Jahren hat er sein erstes Pferd einzureiten, indem er sich auf den frisch eingefangenen Wildling setzt. In der Führung der Waffen von Jugend auf geübt, ist der Llanero bravo der geborene Kavallerist und Soldat. Ihn erfüllen unbändiger Mut, unbändige Freiheitsliebe. Seiner Kraft sich bewußt, ist er der ewige Revolutionär gegenüber den schlappen, willensschwachen, korrupten, sartoid entarteten, aber gerissenen und gewissenlosen Städtern." [Passarage, S., Wissenschaftliche Ergebnisse einer Reise im Gebiet des Orinoko, Caura und Cuchivero im Jahre 1901-1902]



Auf den Spuren Humboldts wandelnd, setzte im 19. Jahrhundert ein Reiseboom in die unabhängigen Länder Amerikas ein. So entstanden eine Reihe von Monografien und zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften bis hin zu Beiträgen in Schulbüchern über die Los Llanos: "Am Abend begannen die Lustbarkeiten und Singen und Tanzen fehlte nie. Die Musik ward noch von Gesang begleitet, denn alle Llaneros sind eifrige Sänger, die sehr hübsche Nationallieder, Trovas Llaneras, vorzutragen verstehen und fast alle sind geborene Improvisatoren. Kommen zwei derselben zusammen, so beginnen sie sofort einen Wettkampf und singen abwechselnd so lange, bis der Eine schweigt und dadurch den Andern als Sieger anerkennt, der nun der Löwe des Tages wird und die zärtlichsten Blicke der Damen empfängt." [Paéz, R., Die Landschaft am Apurestrom in Venezuela, in: Globus, Band 5, Braunschweig 1864]



"Unter den niederen und mittleren Klassen Venezuela´s, wenigstens im Innern des Landes, sind kirchliche Ehen geradezu eine Seltenheit; oft war ich erstaunt, wenn mir, in einem ziemlich respectablen Hause, der Hausherr seine "señora esposa" in aller Förmlichkeit vorstellte, und ich hinterher erfuhr, dass hier nur eine freie, mit gegenseitigem Kündigungsrecht eingegangene Vereinigung vorlag. Jeden Augenblick kann eine solche wilde Ehe gelöst werden und beide Theile "verheirathen" sich aufs Neue, ohne dass man darin etwas Anstössiges findet; die vorhandenen Kinder theilt man sich nach gütlicher Uebereinkunft. Welch´ bunt gemischte Familien dadurch mitunter entstehen, ist leicht zu ermessen." [Sachs, C., Aus den Llanos, Leipzig 1879]

Carl Sachs und auch Ramón Páez fragten junge Llaneras nach dem Vater ihrer Kinder, und immer wieder erhielten sie dieselbe Antwort: "Quien sabe?" – Wen kümmert das? Ramón Páez beteuert aufgrund dieser unglaublichen Haltung zur Treue der Llaneras sein Mitgefühl mit den Viehtreibern. Diese besingen ihre Beziehung zu Roß und Weib in einer Copla, einem Liedgut aus den Los Llanos: "...wenn ein Llanero oder Steppensohn das Unglück hat, Roß und Weib gleichzeitig zu verlieren, er im Stillen denkt: der Gaul thut mir weh, das Weib aber hätte der – holen können. Und wirklich hat er auch gar nicht Unrecht, wenn alle Llaneras nach dem oben geschilderten Quien-sabe-Grundsatz leben." [Páez, R., Das Leben auf den Steppen Venezuela´s, in: Das Ausland, Augsburg 1863]



Viehtreiber gibt es in den Los Llanos noch heute. Hatos, so heißen in Venezuela die Vieh-Farmen, haben oft Ausmaße, die mit dem Auge nicht fassbar sind. Auch die Viehtreiber auf den Fotos hinterlassen den Eindruck, als kämen sie aus einer anderen Zeit daher geritten, barfuß und mit einer einfachen selbst zusammen geschusterten Peitsche.

Es scheint, als ob heute noch einiges am übermittelten Bild der Llaneros aus dem 19. Jahrhundert vorhanden ist. Wie es mit den Details aussieht, erfahrt ihr auf einer Reise in die Llanos oder ihr fragt Kai.

Fotos: Alejandra Huaynalaya
Text: Dirk Klaiber

Tipp:
Detaillierte Informationen zu Reisen in Venezuela erhaltet ihr bei Kai – Los Llanos Spezialist nicht zuletzt aus familiären Gründen:
Posada Casa Vieja Mérida

[druckversion ed 03/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: venezuela]




[kol_1] Helden Brasiliens: Der ewige Dritte!
Deutschland kann auch den Carnaval nicht gewinnen

Es bleibt dabei: Deutschland kann in Brasilien einfach nicht gewinnen. Dabei sah beim diesjährigen Carnaval von Rio de Janeiro eigentlich alles ganz gut aus. Riesenjubel als die Sambaschule "Unidos da Tijuca" bei der Auszählung der Jurystimmen am Aschermittwoch kurz vor Schluss auf den ersten Platz vorrückte. Ein Viertelfinalsieg gegen Argentinien, sozusagen.

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Doch dann brach "Unidos" mit seinem diesjährigen Thema "Alemanha encantada – verzaubertes Deutschland" doch noch ein und musste zwei Schulen passieren lassen. Die Wagen waren schuld, wusste man schnell. Bei zweien gab es Probleme mit der engen Einfahrt ins Sambodromo – die Kurve nicht gekriegt, gestolpert beim Einlaufen ins Stadion, sozusagen. Dann fing einer auch noch Feuer, so dass sich eine spürbare Lücke in dem ganzen Zug auftat. Nein, Podolski war nicht dabei gewesen.'

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Und auch weit und breit kein Jögi Löw, den man ob der gewählten Taktik verantwortlich hätte machen können. Kroos hatte auch nicht mitgetanzt. Dafür natürlich Juliana Alves, die Königin der "Unidos", schön und fehlerlos wie immer. Aber was nützt einem die unverwüstliche Fönfrisur eines Mario Gomez, wenn man einfach keine Bälle bekommt?


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Platz Drei ist ja auch nicht schlecht, versuchten die angereisten Deutschen die Titelverteidiger des letztjährigen Carnavals zu trösten. Aber so denken Brasilianer nun einmal nicht. Für sie zählt nur der Sieg. Da sind die Deutschen entspannter: Platz Drei bei Olympia, WM und EM, und wir freuen uns.

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Man könnte nun antizipieren, dass das Abschneiden im Sambodromo ein schlechtes Omen für die anstehende WM 2014 sei, deren Finale unweit im gigantischen Maracanã-Stadion ausgespielt wird. Aber dann werden wir die technische Leitung nicht den Brasilianern mit ihren fehlerhaften Wagen überlassen. Und Wagen bauen können wir nun mal. Demnächst machen wir also alles selber, und dann wird sich zeigen, ob Deutschland nicht doch einmal in Brasilien über Platz drei hinaus kommt.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 03/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





[kol_2] Macht Laune: Paragliding – Tandemflug in den Anden Venezuelas
 
Die Studentenstadt Mérida verlässt man auf der Schnellstraße in Richtung El Vijia. Nachdem man El Ejído passiert hat, liegt auf der linken Seite das kleine Dorf Las González. Direkt danach geht es links ab Richtung Tierra Negra. Die Anfahrt auf Tierra Negra, der natürlichen Abflugplattform für die Paraglider, führt 900 Höhenmeter bergan durch einen gewaltigen Kaktuscanyon. Die teilweise unbefestigte Straße lässt sich nur mit Jeeps befahren. Oben angekommen, erfolgt der Aufbau des Equipments und die individuelle Anpassung der Gurte an die Gleiter. Dann hebt ein Tandemgespann nach dem anderen ab.

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Je nach Windverhältnissen gleitet man zusammen mit einem erfahrenen Paraglider 20 bis 40 Minuten durch die Lüfte. Man sitzt dabei vor dem Piloten und hat einen perfekten Rundumblick über die Landschaft und die anderen Paraglider. Der Start erfolgt auf 1600 Meter Höhe. Ein paar Schritte reichen zum Abheben.

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Über 300 Tage im Jahr bläst der Wind sanft vom Tal den Canyon hinauf und schafft so ein ideales Gleiterwetter. Die Thermik erlaubt, dass bei den meisten Flügen die Landung an der gleichen Stelle wie der Abflug erfolgt.

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Nach der Landung, die genauso sanft verläuft wie der gesamte Flug, erfolgt das obligatorische après-Flugbier in Las González und der Austausch der Eindrücke der Erstflieger.

Text: Maria Josefa Hausmeister
Fotos: casa-vieja-merida.com

[druckversion ed 03/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: macht laune]





[kol_3] Grenzfall: Santa Anna und das Schicksal Mexikos
 
Es begab sich im Jahre 1812, zu der Zeit als Mexiko noch "Neu-Spanien" hieß, dass der spanische Gesandte Luis de Onís seinem Vizekönig in der Hauptstadt über ein gar merkwürdiges Angebot berichtete. Die Regierung der USA habe ihn in Washington davon in Kenntnis gesetzt, dass sie alle Gebiete Neu-Spaniens (Mexikos) nördlich des Río Grande und vom Schnittpunkt desselben mit dem 31. Breitengrad ausgehend bis zum Pazifik "erwerben" wolle.

Um dieser Absicht Nachdruck zu verleihen, präsentierten verschiedene US-Regierungen zunächst Spanien und danach dem unabhängig gewordenen Mexiko Kaufangebote für seine "Nordgebiete": die heutigen US-Staaten Kalifornien, Arizona, Nevada, Utah, New Mexico, Texas sowie Teile von Colorado und Kansas. Alle Offerten der USA wurden entrüstet abgelehnt.

Doch nach seiner Unabhängigkeit wurde Mexiko zunächst noch nicht von den expansionslüsternen USA bedroht, sondern von einer europäischen Macht: Frankreich! Im "Kuchenkrieg" von 1838 spielten sich während einer kurzen französischen Invasion ein paar Scharmützel ab, aus denen der General Don Antonio López de Santa Anna (1794 – 1876) als "großer Held des Vaterlandes" hervorging. Santa Anna stellte einen Schusswechsel mit den schon fliehenden, im Rückzug befindlichen Franzosen als grandiosen Sieg dar.

In diesem militärischen Geplänkel traf ihn eine verirrte Kugel in den Unterschenkel, der darauf amputiert werden musste. Dies brachte den General auf die bizarre Idee, für das verlorene Beinsegment ein Grabmonument bauen zu lassen. Und so geschah es. Sein Unterschenkel wurde – begleitet von den Klängen einer Blaskapelle – mit militärischen Ehren bestattet und fortan als vaterländische "Reliquie" verehrt. Der Personenkult um Santa Anna und seine geopferte Beinhälfte trieb seltsame Blüten. Man verlieh ihm Beinamen wie "Salvador de la Patria" oder "Nuevo Mesías". Er selbst zog es vor, sich schlicht "Napoleón" zu nennen.

Santa Anna wurde insgesamt elf Mal Präsident von Mexiko, aber regierte fast nie eine ganze Amtszeit. Fünf Mal schickte man ihn ins "lebenslange" Exil.

Im Verlauf des Jahres 1845 hatte sich das Verhältnis zwischen Mexiko und den USA ständig verschlechtert und ein drohender Krieg lag in der Luft. Texas hatte seine Unabhängigkeit von Mexiko erklärt und votierte nun – nach massiver Einflussnahme der USA – für eine Annexion durch die USA. Dies konnte Mexiko unmöglich akzeptieren und der Kriegsausbruch stand unmittelbar bevor.

Währenddessen führte Santa Anna seit Anfang 1846 in seinem Exil in Havanna geheime Verhandlungen mit Abgesandten des US-Präsidenten Polk und schlug ihm einen dubiosen Deal vor: Wenn die USA ihm dazu verhelfen würden, in Mexiko wieder die Macht zu ergreifen, könnte er ihnen einen Schlachtplan zur Eroberung seines Landes liefern und würde als mexikanischer Oberbefehlshaber insgeheim mit den USA kooperieren und dafür sorgen, dass sie die in ihrer "Wunschliste" seit langem begehrten mexikanischen Nordgebiete erhalten würden. Für sein Entgegenkommen erwarte er einen kleinen Obulus von 30 Mio. US-$.

Mit der wohl abenteuerlichsten Legitimation, mit der je ein Krieg auf dem amerikanischen Kontinent eröffnet wurde, wurden die USA aktiv. Im April 1846 besetzte eine US-Armee mexikanisches Siedlungsgebiet nördlich des Río Grande, das ihrer Interpretation nach zu Texas gehörte, das inzwischen als US-Staat "aufgenommen" worden war. Der Fluss bestand aber nur in der Einbildungskraft der US-Regierung als Grenze, während die demografische Grenze zwischen angelsächsischen und mexikanischen Siedlern de facto deutlich weiter nördlich verlief. Und zwar dort, wo die Sprachgrenze heute noch verläuft: auf der Linie von San Antonio zum Río Pecos.

Die Absicht der USA war klar. Man wollte Mexiko durch die Okkupation solange provozieren, bis die Mexikaner angriffen, um dann den größten Eroberungskrieg im Amerika des 19. Jahrhunderts als "Verteidigungskrieg" darstellen zu können. Diese Rechnung ging (fast) auf, denn am 25. April 1846 fielen die ersten Schüsse gegen die US-Armee, woraufhin am 13. Mai die US-Regierung Mexiko den Krieg erklärte, mit den Worten: "Mexiko vergoss amerikanisches Blut auf amerikanischem Boden." (Amerikanisch mag dieser Boden gewesen sein, aber mit Sicherheit nicht US-amerikanisch). Aus dem Tagebuch des scheinheiligen US-Präsidenten Polk, das einen Quellentext von heute unschätzbarem Wert darstellt, geht hervor, dass er die Kriegserklärung schon Monate vorher geplant und schon Tage vor dem mexikanischen "Angriff" fertig formuliert in der Schublade liegen hatte. Er beklagte sich sogar, dass die Mexikaner trotz aller Provokationen "noch immer nicht schießen wollten." Es konnte also keinen Zweifel am enormen Kriegswillen der USA geben.

Santa Anna wurde – wie in den Geheimverhandlungen mit Polk vereinbart – durch die US-Seeblockade vor Veracruz geschleust und man verhalf ihm damit zu seiner Rückkehr. Am 15. September 1846 wurde er beim Einzug in die Hauptstadt wieder als "Salvador de la Patria" gefeiert. Derweil gingen die USA exakt nach dem von ihm empfohlenen Schlachtplan vor: vor den mexikanischen Häfen wurde eine Seeblockade errichtet und im Norden stieß man über Monterrey nach Saltillo vor. Präsident Santa Anna betrachtete Mexiko wieder als seine "finca privada" und als General führte er seine Truppen zu Niederlagen, während er gleichzeitig weiter geheime Verhandlungen mit dem Kriegsgegner unternahm. Ob Santa Anna die entscheidenden Schlachten des Krieges absichtlich verlor, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Es ist wahrscheinlich, dass er ein Doppelspiel betrieb. Durch seine Geheimverhandlungen wollte er die US-Regierung verwirren, er dachte nicht daran, sein Versprechen einer schnellen Niederlage Mexikos zu erfüllen, sondern versuchte, diese abzuwenden.

Aber nach der Landung von US-Truppen bei Veracruz war der Krieg eigentlich schon entschieden, Santa Anna kämpfte trotzdem weiter, um später als "Patriot" zu gelten. Als am 30. Mai 1848 der Friedensvertrag von Guadalupe-Hidalgo ratifiziert wird, durch den die USA als Siegermacht sich 60 % (!) des Staatsgebiets von Mexiko einverleiben, protestiert Santa Anna heftig gegen diese Friedensbedingungen, obwohl er sie doch selbst insgeheim vorgeschlagen hatte. Dies nennt man wohl kaum Patriotismus, sondern Perfidie.

Der Rest ist bekannt: die Machtverhältnisse auf dem amerikanischen Kontinent wurden entscheidend verschoben, die USA wurden zur Weltmacht zwischen zwei Weltmeeren und reklamierten die Begriffe "Amerika" und "amerikanisch" fortan für sich. Durch die Nordgebiete Mexikos vergrößerten sie ihr Staatsgebiet um 2 Mio. Quadratkilometer, wofür sie der mexikanischen Regierung die lächerliche Summe von 15 Mio. US-$ zahlten. Die Mexikaner, die in Santa Fe, San Francisco und Los Angeles leb(t)en, wurden zu Fremden im eigenen Land und damals wie heute diskriminiert, die Indianer des Südwestens nahezu ausgerottet.

Die Perfidie des korrupten Santa Anna, der Mexikos Schicksal im vergangenen Jahrhundert immer wieder verhängnisvoll mitbestimmte, wurde noch übertroffen von der unglaublichen Scheinheiligkeit des US-Präsidenten Polk. Dieser kommentierte den US-Sieg über Mexiko mit den Worten: "Die Grenzen der USA auszudehnen heißt die Grenzen der Herrschaft des Friedens auszudehnen."

Text: Berthold Volberg

Dieser Artikel stammt aus dem caiman-Archiv. Erstveröffentlichung: 3. ausgabe - köln, 01. märz. 2000

[druckversion ed 03/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_4] Lauschrausch: Flamenco, Jazz und Raga
Geschichte und Musik der Roma
 
Das "Volk mit den tausend Namen" wird erstmals im Jahr 1320 auf der Balkanhalbinsel dokumentiert, über Umwege aus Indien bzw. dem heutigen Pakistan kommend. Von dort zogen die Roma (abgeleitet vom sedschukischen Sultanat Rum) oder Cigani / Zigeuner etc. (aus dem Griechischen Wort "atsinganoi") oder Gypsies (abgeleitet von "Ägypter") auch nach Westeuropa weiter. In Spanien nennen sich die gitanos selbst calé. Verschiedene Theorien vermuten, dass die Roma (eine Sammelbezeichnung, auf die man sich im 20.Jahrhundert einigte) schon früher (um 1018) aus Indien kamen, als Sklaven verschiedener Heere.

Das Wissen um diese Wurzeln ging jedoch verloren und wurde erst wiederentdeckt, als die Gemeinsamkeiten ihrer Sprache Romanés mit dem altindischen Sanskrit entdeckt und erforscht wurden. Überall dort, wo sie hinkamen, brachten sie ihre Erzähl- und Musikkultur mit. So stammen wohl viele, auch deutsche Märchen, ursprünglich aus dieser Quelle. Musikalisch beeinflussten die Roma Kulturen einiger Zielländer (z.B. Frankreich, Spanien, Rumänien, Ungarn). Vor allem der Swing-Manouche (Django Reinhardt) und der Flamenco (Manitas de Plata, Camarón de la Isla etc.) sind hier zu nennen. Letzterer weist auch im Tanz Gemeinsamkeiten zu indischen Schrittfolgen auf.

Sinti und Roma hören
Hörbuch
Silberfuchs Verlag, 2011

Schon von Beginn an wurden die Roma diskriminiert und verfolgt, was sich in Geschichten und Musik widerspiegelt, die das sehr gelungene Hörbuch "Sinti und Roma hören" in großer Zahl präsentiert. So wurden sie im 15. Jahrhundert durch Reichstage in Deutschland als "Spione der Osmanen" für vogelfrei erklärt und verfolgt, von Portugal aus nach Brasilien verschleppt oder in Österreich zwangsassimiliert. Den Höhepunkt stellte die Tötung von ca. 500.000 Roma durch die Nazis dar. Erst nach dem II. Weltkrieg begannen die Roma sich zu emanzipieren und gründeten Institutionen (Roma-Weltkongress 1971 etc.) und entwarfen gemeinsame Symbole (Hymne und Fahne).

Dotschy Reinhardt, Spross der gleichnamigen Jazzmusiker-Dynastie, neigt zur Theorie, dass die Sinti (Bezeichnung einiger europäischer Roma) aus der Region Sindh im heutigen Pakistan stammen, die ihren Namen vom Fluss Sindhu hat, uns besser bekannt als Indus. Ihn wählte die Sängerin als Metapher für ihre letzte CD ("Pani Sindhu"), auf der sie fast alle Songs selbst geschrieben hat: in Romanés. Sie handeln von der Wanderung ihres Volkes, der alltäglichen Vertreibung der Sinti, von unglücklicher Liebe, Trennung und von ihren Eltern.

Dotschy Reinhardt
Pani Sindhu
Galileo Music

Musikalisch reist sie zu den Wurzeln ihres Volkes nach Indien, kombiniert mit ihren Musikern sehr gekonnt Tabla und Sitar mit Jazz. Mal überwiegt der Jazz, z.B. in "Panch bar", einem Lied über Kinder und ihr Murmelspiel, mal indische Klänge. Mit ihren Versionen von "Qué alegría" und "Prabhujee" verneigt sie sich vor Musikern, die die "Weltmusik" und den Jazz zusammengeführt haben und klanglich gut zu ihr passen: John McLaughlin und der kürzlich verstorbene Ravi Shankar. Im einzig englischsprachigen Titel des Albums, "Walkabout" von John Barry, wird einmal mehr der Heimatverlust ihres Volkes thematisiert.

Dotschy Reinhardt
Gypsy - die Geschichte einer großen Sinti - Familie
Scherz / Fischer, 2008

Aber Dotschy Reinhardt beschäftigt sich nicht nur musikalisch mit der Geschichte der Roma, sie hat mit "Gypsy" die Geschichte ihres Volkes und ihrer Familie auch zu Papier gebracht.

Anoushka Shankar, die Tochter des indischen Sitar-Virtuosen Ravi Shankar, verfolgt auf ihrem Album "Traveller" den Weg des Flamenco von Spanien zurück nach Indien. "Sie spielt auf ihrer Sitar den Flamenco so wie die großen Gitarristen", sagen ihre Kollegen. Allerdings handelt es sich gar nicht um Flamenco, sondern um indische Musik, die, wie man heute weiß, die Wurzeln des Flamenco bilden. Wenn dann noch Gitarre, palmas und ein cajon erklingen, hört man – abgesehen vom typischen Sitarklang - keinen Unterschied mehr zum traditionellen Flamenco.

Anoushka Shankar
Traveller
Deutsche Grammophon / Universal

Neben Anoushka hat der Gitarrist und Produzent des Albums, Javier Limón, ganze Arbeit geleistet, um die natürliche Verschmelzung von Flamenco und indischer Musik zur klanglichen Perfektion zu treiben. "Bulería con Ricardo", ein treibender Titel in der sich Piano – das ja auch schon länger als Instrument im Flamenco angekommen ist – und Sitar genial ergänzen, oder "Boy meets girl", in dem der Flamencogitarrist Pepe Habichuela und Anoushka Shankar die Kombination eines spanischen cante und eines indischen Raga spielen, ohne dabei skalentechnisch das jeweilige Genre zu verlassen, beweisen die Verwandtschaft dieser Musiken auf das Schönste. Gastmusiker wie der Percussionist Piraña, der unvergleichliche Sänger Duquende oder Concha Buika, mit ihrer Reibeisenstimme, untermauern das indische Erbe der "Gitano-Musik" einmal mehr.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

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