ed 02/2013 : caiman.de

kultur- und reisemagazin für lateinamerika, spanien, portugal : [aktuelle ausgabe] / [startseite] / [archiv]


spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Dritte Etappe: Zum Geisterdorf Arrés
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Rapte-me camaleão! – Caetano Veloso zum 70.
Teil 9: Trauriges Ende (zumindest vorläufig)
THOMAS MILZ
[art. 2]
venezuela: Die Transandina bei San Rafael de Tabay
Bildergalerie
FRANK SIPPACH
[art. 3]
mexiko: Soldaderas der Mexikanischen Revolution (1910-30)
ALEXANDRA GEISER
[art. 4]
hopfiges: Estrella Damm DAURA – SIN GLUTEN
DIRK KLAIBER
[kol. 1]
grenzfall: Eine Umarmung zum Abschied!
Abracaço von Caetano Veloso
THOMAS MILZ
[kol. 2]
helden brasiliens: Brasilien rettet deutschen Carnaval
Unidos da Tijuca wagen Gewagtes
THOMAS MILZ
[kol. 3]
lauschrausch: Mexiko hören
TORSTEN EßER
[kol. 4]


[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Etappe [12] [11] [10] [9] [8] [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Dritte Etappe: Zum Geisterdorf Arrés
 
17. August 2012. Nach der sakralen Strapaze am gestrigen Tag lassen wir es heute ruhig angehen. Diese Tagesetappe wird mit 17,5 Kilometern unsere kürzeste werden. Also gönne ich mir mit meiner Begleiterin Cayetana zuerst ein üppiges Frühstück im Hotel von Santa Cruz de la Serós – das erste und einzige während unserer zwei Wochen. Denn in den Pilgerherbergen gibt es in der Regel kein Frühstück: man marschiert morgens um sechs Uhr los und bis man in einen Ort mit gastronomischer Infrastruktur kommt, kann es oft Mittag werden. Also genießen wir das Frühstück, das schon ein halbes Mittagessen ist. Vor dem Aufbruch kaufen wir im einzigen Dorfladen neben sechs Litern Wasser noch Mandeln und Kartoffelchips. Wir müssen vorsorgen, denn das kulinarische Angebot für die nächsten zwei Tage ist ungewiss, unser Weg wird uns durch eine weitgehend unbewohnte Gegend und die verlassenen Ruinendörfer Arrés und Ruesta führen.



Eine ungewöhnliche Hitzewelle hat den Norden Spaniens fest im Griff. Aktuell ist es hier heißer als in Andalusien, für die ganze Woche wurden Höchsttemperaturen von mindestens 40° Grad angekündigt und die beiden heißesten Tage sollen mit 42° heute und morgen werden. Wenigstens geht es heute meist bergab; romantische Feldwege vorbei an Ginster und Lavendel und Hunderten von Schmetterlingen. Kurz vor Santa Cilia erreichen wir wieder die Nationalstraße 240. Für die Santiago-Pilger hat man ein paar Dutzend Meter neben der N240 einen schönen Wanderweg durch Wald und Wiesen angelegt, damit sie dem weltlichen Straßenlärm entfliehen und sich besser auf die Meditation konzentrieren können. Das Problem: dieser Weg liegt auf der anderen Seite der viel befahrenen N240. Zwar gibt es Zebrastreifen und den Hinweis an Autofahrer "Pilger überqueren die Straße", aber Zebrastreifen haben in Spanien eigentlich rein dekorative Funktion – man sollte sich als Fußgänger besser nie darauf verlassen, dass Autos davor anhalten.



"Sie müssen anhalten, schließlich sind wir Pilger! Wer uns überfährt, kommt in die Hölle!", verkündet Cayetana, die Hand Gottes über sich, und marschiert ohne links oder rechts zu schauen, stur über den Zebrastreifen. Gottloses Gehupe. Um ein Haar wäre meine mutige Begleiterin von einem silberglänzenden Seat erfasst worden, der sie in letzter Sekunde rasant umkurvt. Sie wirbelt herum, zeigt den Mittelfinger und schleudert ihm einen andalusischen Fluch hinterher, der mit christlicher Nächstenliebe und Vergebung gar nichts zu tun hat und deshalb hier nicht wiederholt werden soll.

Auf dem schattigen Pfad erholen wir uns von diesem Schrecken und wandeln plötzlich durch eine ganze Armee von Steinmännchen. Normalerweise findet man diese von Pilgern errichteten Symbole überwundener Strapazen eher auf Gipfeln, die nach steilen Aufstiegen erreicht wurden. Aber hier mitten in der Ebene? "Da hat offenbar jemand richtig viel Zeit gehabt", kommentiere ich diese kunstvolle Ansammlung. "Und vielleicht Langeweile", ergänzt Cayetana. Dann fragt sie ungeduldig: "Können wir nicht mal länger Pause machen? Ich habe das Gefühl, die Luft beginnt zu brennen." Inzwischen haben wir vier Uhr nachmittags und die angedrohten 42° erreicht. "Aber Du musst doch Hitze gewohnt sein, Du kommst aus Andalusien, der heißesten Region Europas", entgegne ich. "Ja, aber da laufe ich zur Siesta nicht durch glühende Straßen, sondern liege auf dem Sofa im schattigen Patio."



Nicht viel später folgt der Endspurt, der uns durch einen sehr schönen Wanderweg mit Blick auf Ebene und Hügel des Canal de Berdún führt. Wie jeden Tag erscheinen uns die letzten drei Kilometer bis zum Ziel wie eine Ewigkeit und natürlich geht es wieder bergauf. Reichlich erschöpft und schweißüberströmt stolpern wir vom Waldweg mitten hinein in das "Geisterdorf" Arrés, das heute allerdings sehr lebendig wirkt. Man scheint uns erwartet zu haben. Vor der Pilgerherberge, die den schönen Namen "La Casa de las Sonrisas" (Das Haus des Lächelns) trägt, sitzt auf einer langen Holzbank ein Dutzend Pilger und blickt uns entgegen. "Buenas tardes", krächzen wir mit vor Durst heiseren Stimmen. Bevor wir unsere Stimmen weiter quälen müssen, tritt ein stämmiger Mann mittleren Alters – offenbar der Herbergsvater – hervor und gießt uns einen Willkommenstrunk ein, den er in einem großen Krug bereithält. Es ist wie ein Cocktail für Verdurstende und schmeckt köstlich: eisige und zuckerfreie Zitronen-Minze-Limonade. In dem Wasserkrug schwimmen Eiswürfel, frische Minzblätter und Zitronenstückchen. Ich habe vergessen zu zählen, wie viele Becher wir davon getrunken haben, aber der Krug ist fast leer, als unser Durst gestillt ist. Zufrieden lächelt der Herbergsvater über unser euphorisches Lob seiner Getränke-Kreation (er hat ein Patent darauf angemeldet) und schlägt dann vor: "Jetzt wo ihr wieder bei Stimme seid, können wir uns ja etwas unterhalten – versteht ihr vielleicht ein wenig Spanisch?" Bevor Cayetana klar stellen kann, dass sie Spanierin ist, platzt es – arroganter als es klingen soll - aus mir heraus: "Ich habe in Spanisch über San Juan de la Cruz promoviert…" Fast lässt der Herbergsvater den Krug fallen. Er zieht die Augenbrauen hoch und meint dann in die Runde blickend: "Na, dann sprecht ihr wohl besser Spanisch als unsere anderen ausländischen Gäste." Die anderen, das sind ein junges Paar aus Holland, Luuk und Mareike, der 20-jährige Engländer Ben und Paulo* (*alle Namen von der Redaktion geändert), ein Brasilianer fortgeschrittenen Alters, kommend aus dem schwarzen Rom Salvador da Bahía. Die Spanier, die mit uns das Dutzend komplettieren, stellen aber doch die Mehrheit: eine Gruppe von Lehrern aus Valencia und zwei ältere Herren aus Barcelona.



Schnell befinden wir uns im Mittelpunkt einer mehrsprachigen Konversation, die natürlich kreist um das Woher und das (bis) Wohin – das Ziel ist zwar klar, aber die wenigsten haben soviel Zeit (Urlaub), um den Camino ganz zu Ende zu gehen. Von allen Seiten schlägt uns große Anerkennung entgegen, als wir von unserer gestrigen Bergetappe nach San Juan de la Peña erzählen. Unter Kennern gilt sie als eine der drei schwierigsten des ganzen Weges (dabei ist sie nicht Teil des "offiziellen" Jakobsweges, sondern nur ein "Abstecher"). Paulo der Brasilianer tritt lächelnd auf uns zu und ohne ein Wort bindet er gelbe Stoffbänder um unsere Armgelenke – alle anderen hat er schon damit versorgt. Auf dem Band lesen wir "Senhor do Bomfin". Paulo umarmt uns und murmelt dabei eine Erklärung auf Portugiesisch. Wir verstehen, dass der Christus dieses Namens uns auf dem ganzen Weg beschützen soll und dass wir gute Menschen seien (na hoffentlich hat er da mal recht). Gerade als wir uns mit den Holländern auf Englisch über die wichtigste aller Fragen, das Warum des Camino unterhalten wollen, klatscht der Herbergsvater in die Hände und ruft: "Wir müssen Tische und Stühle aufstellen, das Abendessen ist fertig!" Es gibt einen riesigen Salat, Nudeln mit Tomaten und Schafskäse und reichlich Rotwein.

Zufrieden blickt der Herbergsvater auf die Tafel und fragt in die Runde: "Bevor alle anfangen zu essen, die große Preisfrage: woran erkennt man Santiago-Pilger (außer an der Jakobsmuschel)?" Ein paar Sekunden Schweigen. "Naja, daran, dass sie abends todmüde ins Bett fallen", meint Mareike unter Gelächter. "Daran, dass sie ständig mit leeren Wasserflaschen auf irgendwelche Brunnen zustürzen", ergänzt Cayetana. "Oder an ihrem entrückten Blick?", fragt Luuk. "Ja, das im besten Fall auch", erwidert unser Gastgeber. "Aber ich meine etwas anderes, achtet mal darauf: zumindest im Sommer sind alle Pilger auf der linken Körperhälfte – am besten sieht man es an den Armen und Schultern – braun gebrannter als auf der rechten – weil sie immer nach Westen gehen und die Mittagsonne von Süden etwas mehr auf die linke als auf die rechte Hälfte scheint!" Alle blicken an sich herab, vergleichen Arme und Beine und müssen lachen: links ist dunkler als rechts, es stimmt tatsächlich!


Dann kommt die Rede auf die ernste Frage nach der Motivation, den Camino zu gehen und Ben, der junge Engländer meint dazu, für ihn sei der Camino wie ein "walking comment" zur europäischen Bankenkrise. Jetzt meldet sich wieder unser Herbergsvater zu Wort: "Ja in der Tat sollten wir es nicht zulassen, dass jemand Europa nur als ein gescheitertes Wirtschaftsprojekt definiert. Europa ist doch sehr viel mehr als Hin- und Hergeschiebe von Geldern. Und der Camino erinnert uns daran, wie viele Kulturschätze und Naturwunder wir hier in unserem alten Europa auf engstem Raum haben."

Und seine Frau hebt ihr Glas und ergänzt unter dem Applaus aller: "Lasst uns darauf trinken, dass wir ein Europa der Menschen und nicht ein Europa der Banken haben werden!"

Und genau das wird hier in diesem "Haus des Lächelns" zelebriert: es kommen Menschen aus den verschiedensten Ländern Europas (und der Welt) zusammen, lernen sich kennen und teilen alles, wussten heute morgen noch nicht, wo sie heute Nacht schlafen können und feiern jetzt ein gemeinsames Abendmahl inmitten der Ruinen eines halb verfallenen Dorfes, das so wieder zu neuem Leben erweckt wird. So ähnlich hatte sich das vor zweitausend Jahren wohl ein charismatischer Prediger gedacht, dessen Worten fast die halbe Welt folgte.

Es ist wie beim Heiligen Abendmahl, eigentlich fehlt nur noch der Wichtigste. "Da kommt Jesus!", ruft Cayetana plötzlich und blickt zum Waldweg. Tatsächlich sieht der müde Wanderer, der in der Abendsonne auf unsere Tafel zusteuert, so aus, wie wir uns Jesus normalerweise vorstellen: Anfang 30, längere schwarze Haare und kurzer Vollbart, engelhaftes Lächeln. Etwas schüchtern grüßt er in die Runde. Sofort weist ihm der Herbergsvater einen Platz zu. Er ist Italiener und sein Name Pietro. Als er den dringendsten Hunger gestillt hat, wird er gefragt, ob er etwas zum Tischgespräch beitragen wolle. Pietro antwortet in exzellentem Spanisch, dass er kein Freund großer Worte sei. "Nur soviel: Ich wünsche allen, die mit mir an diesem Tisch sitzen, dass für jeden von Euch der sehnlichste Wunsch während oder nach dem Camino in Erfüllung gehen wird." Cayetana bekommt leuchtende Augen und belohnt seinen schönen Satz mit einem sehr lauten "¡Olé!". Danach wird sie ganz rot, weil sich alle zu ihr umdrehen. Der Herbergsvater rettet die Situation, indem er zum Sonnenuntergang bittet. Wir steigen ein paar Meter zum höchsten Punkt von Arrés und kommen fast zu spät. Die Sonne, halb verdeckt von Wolken, verabschiedet sich mit dem Versprechen, morgen mit rekordverdächtiger Intensität zurückzukehren. Zur Abrundung dieses schönen Tages führt man uns in die kleine Dorfkirche, die entzückend ausgestattet ist – mit vielen kleinen Madonnen und Engeln im Stil eines naiven Barocks, der mich an lateinamerikanische Kirchen erinnert.



Nachts im Hochbett ist allerdings Schluss mit Romantik. Denn die Nacht im engen Schlafraum wird erfüllt von einer Schnarch-Sinfonie in Dur, begleitet von einem furiosen Hundekonzert, das von draußen durch die offenen Fenster dringt. Stundenlang versuche ich vergeblich, vor meinem inneren Auge zur Erschießung aufgereihte Hunde zu zählen, und irgendwann schlafe ich doch ein.

Text und Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Warnung:
Auf der gesamten fast 30 Km langen Strecke zwischen Arrés und Ruesta gibt es KEINE Verpflegungsmöglichkeit, d.h. keinen Laden und nur einen Brunnen im Dorf Artieda. Deshalb wird empfohlen, in Arrés und Artieda mindestens je 3 Liter Wasser zu "tanken" und Trockenfrüchte wie z.B. Mandeln mitzunehmen. Der Abschnitt zwischen Artieda und Ruesta ist der einsamste des Camino Aragonés. Wer hier an einem heißen Sommertag kein Wasser mehr hat, kann in ernste Lebensgefahr geraten.

Etappe Santa Cruz de la Serós bis Arrés: knapp 18 Km

Pilgerherberge in Arrés:
Sehr freundlicher Empfang und schöne Atmosphäre, es gibt keinen Preis, aber man sollte etwas spenden, zumal das Abendessen, das die Herbergsbetreuer kochen, von Spenden der Pilger finanziert wird. Gemeinsames Abendessen und gemeinsames "Sonnenuntergangs-Gebet" auf dem Hügel neben der entzückend geschmückten Dorfkirche, die man anschließend besichtigen kann. Tel. 974-3773074

[druckversion ed 02/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_2] Brasilien: Rapte-me camaleão! - Caetano Veloso zum 70.
Teil 9: Trauriges Ende (zumindest vorläufig)

Das neue Jahrtausend beginnt mit einem verstörenden Album. Ein schlechtes Omen darf man übrigens sagen. "Noites do Norte" ist eine Platte über die Sklaverei im Brasilien des 21. Jahrhunderts. Eigentlich wollte Caetano lediglich ein Album voll Percussion aus Bahia und Soundfragmenten einspielen. Doch dann inspirierte ihn ein alter Text von Joaquim Nabuco: "Minha Formação". Nabuco hatte ihn 1895, also sieben Jahre nach dem Ende der Skalverei, geschriebenen und prophezeit, dass die Sklaverei noch lange als Charakteristik der Nation fortbestehen werde.


Auf "Noites do Norte" präsentiert sich der Komponist Caetano Veloso völlig außer Form, die er seitdem nie wieder gefunden hat. Er taucht in die unterschiedlichsten Musikstile – singt klassisch schön auf Italienisch (Michelangelo Antonioni), begleitet eine wundervolle Percussionsequenz aus Bahia (Zera a reza) mit einem wenig inspirierten Text, spielt Rock der nicht in die Gänge kommt (Rock´n´Raul), kreiert Soundlandschaften, die an "Araça Azul", der experimentellen Platte von 1972, erinnern – und geht darin unter.

Höhepunkte? Für mich gibt es die nicht. Leider bringt Caetano als Komponist nicht mehr viel Nennenswertes hervor. So konzentriert er sich auf seine Shows.


Und so folgt im Jahre 2001 dann auch mit "Noites do Norte ao vivo" eine Live-LP. Es ist Caetanos erste Live-LP, die ungeschnitten eine komplette Show eins zu eins beinhaltet. Nahezu alle Lieder der Studio-LP tauchen hier auf, leider! – muss man sagen. Aber die Platte ist ihr Geld wert, zeigt Caetano doch wundervolle Versionen alter Klassiker: "Dom de iludir", "Tigresa", "Língua", "Nosso estranho amor" und "Tropicália". Wie fantastisch er doch war, denkt man sich da. Immerhin erinnert er sich noch an seine alten Lieder, muss man anerkennd feststellen.

Im darauf folgenden Jahr gelingt es ihm jedoch, seine Fans mit der nächsten Studio-LP abermals zu schockieren. Und scheinbar war ihm das schon vor der Veröffentlichung des Werks bewusst, nannte er es doch "Eu não peço desculpas": Ich bitte nicht um Verzeihung! Sollte er aber! Gemeinsam mit Langzeitkumpel Jorge Mautner wollte er wohl die Leidensfähigkeit der Zuhörer testen.


Immerhin - das hier alles irgendwie verkehrt ist, gesteht er direkt mit dem Titel des ersten Lieds "Todo errado" - "Alles verkehrt" ein. "Eu não peço desculpas, e nem peço perdão", "Ich bitte nicht um Verzeihung, entschuldige mich nicht", so Mautners Text. "Manjar de reis" ist immerhin vergnüglich, ein Stück von Mautner und dessen Kollegen Nelson Jacobina. Eine Version von "Maracatu atômico" gibt es auch noch, aber da hat man schon viel bessere gehört (Chico Science, Gilberto Gil); "O Namorado" ist eine Abwandlung von Carlinhos Browns "A namorada", ohne dass dies irgendwie lustig wäre. Und so geht es bis zum bitteren Ende weiter. Mein Gott, denkt sich der gequälte Geist der Zuhörer.

Das Jahr 2004 bringt neue Abenteuer in Fremdsprachen. Dieses Mal übt Caetano sich in jener Sprache, die er eigentlich gar nicht mag: dem Englischen. Zwischen Nirvana ("Come as you are") und Cole Porter ("So in love") bis Bob Dylan ("It`s alright, Ma") irrt er durch einen wirren Songkatalog aus berühmten anglo-amerikanischen Lieder. Eine Art "Fina Estampa" auf Englisch mit eingestreuten brasilianischen Rhythmen. Wenn die Platte mit dem Schlafliedchen "Love me tender" schließlich und endlich endet, fragt man sich, was man davon wohl halten soll. Ich entnehme die CD der Stereoanlage und verbanne sie auf ewig in die tiefsten Tiefen meiner Plattensammlung, aus denen sie niemals mehr den Weg ans Tageslicht finden soll – ich schwöre es.


Die einzigen überzeugenden Veröffentlichungen jenes seltsamen Jahre sind Lieder, die er nicht selber geschrieben hat: "Você não me ensinou a te esquecer" aus dem Film "Lisbela e o prisioneiro" und "Burn it blue" vom Soundtrack des Blockbusters "Frida". Beide sind überragend gut!

2006 folgt dann eine Platte mit neuen Stücken von Caetano. "Cê" nahm er mit seiner neuen Band aus jungen Musikern auf, die ihn bis heute begleitet. Die CD kommt rockig daher, ein Garagensound voller Wut. Verletzt vom Ende seiner zweite Ehe, trieft Caetano förmlich vor Enttäuschung und sexuellem Hunger. Und lässt seinem Ärger freien Lauf: "Você não vai me reconhecer quando eu passar por você, de cara alegre e cruel, feliz e mau como um pau duro…" (Du wirst mich nicht wiedererkennen, wenn ich Dir begegne, mit fröhlich-grausamem Gesicht, glücklich und böse wie ein steifer Schwanz…" Danach weint er "Minhas lágrimas" (Meine Tränen), nur um wenig später klarzustellen: "Não me arrependo" – ich bereue nichts.


In dem Stück "Rocks" klagt er, sie habe sich ihm gegenüber wie eine Ratte verhalten: "você foi mor rata comigo". Und in "Odeio" stellt er klar: "odeio você, odeio você, odeio você, odeio" (ich hasse, hasse, hasse Dich). Derart viel unverdauter Ärger ist auf die Dauer nervend, der grimmige Abgesang eines alten Mannes. Bis zum heutigen Tag scheint Caetano jene Gemütslage nicht mehr verlassen zu haben.

Das folgende Live-Album "Multishow Cê ao vivo" wiederholt die nervigen Lieder von "Cê". Zum Glück retten ihn wieder einmal interessante Versionen alter Klassiker. Dieses mal besucht er sein Londoner Exil: "London London" (in einer bombastisch-simplen Version), "You don`t know me" und "Nine out of ten".


2009 folgt "Zii e Zie", eine Platte mit dem gleichen Korpsgeist von "Cê", eingespielt mit derselben Band. Wieder gibt es Rock, aber dieses Mal in die Klänge des Samba gehüllt. Der gleiche Garagensound wie zuvor, wieder sexuell angehauchte Texte (er ist 66 zu dem Zeitpunkt!) - allerdings ist aus dem Ärger von "Cê" nun eine öde Traurigkeit geworden, Depression statt Aufbegehren. Sogar das Cover atmet Öde, Rio de Janeiro im Regen und trüben Licht. Caetano scheint derart uninspiriert gewesen zu sein, dass er die Flucht nach vorne gesucht zu haben scheint: er komponiert die neuen Songs live vor Publikum und nennt das Ganze "Obra em progresso" – Werk im Werden. Das Stück "Perdeu", das das Album eröffnet, hat sogar einige nette Momente. Danach wird es langweilig ("Lobão tem razão") und nervig ("Base de Guantanamo") bis hin zu peinlich ("Tarado ni você").


Danach folgt das altbekannte Rezept von "Cê" – eine Liveversion der Bühnenshow. Wieder kommen die langweiligen Stücke von "Zii e Zie" zur Aufführungen, gemischt – zum Glück – mit Klassikern im Garagensound: "A voz do morto", von 1968, "Maria Bethânia", "Irene" und "Não identificado", alle aus der Zeit Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre. Dazu das tolle "Volver" von Carlos Gardel und Alfredo Le Pera.

Ein Jahr danach noch ein Live-Album: "Multishow ao vivo Caetano e Maria Gadú". Die beiden spielen Caetanos Hits und ein paar Lieder von Gadú nur begleitet von der Gitarre. Wunderbar: "Beleza pura", "O quereres", "Vaca profana" und "Rapte-me, camaleoa". Maria Gadú zeigt, was sie kann und spielt eine unglaubliche Version von Caetanos "Podres poderes", eines seiner besten Stücke inklusive einem langen und schwierigen Text. Aber Gadú bekommt es hin - und wie!


Wenige Monate später folgt "Caetano Veloso e David Byrne Live at Carnegie Hall", ein Spektakel aus dem Jahre 2004. Die Platte wird allerdings nicht in Brasilien veröffentlicht, wo sie nur als Import zu haben ist. Ebenfalls 2012 erscheint mit "Recanto Gal" eine CD von Gal Costa, für die Caetano alle Stücke geschrieben und produziert hat. Diese wollen wir allerdings hier nicht besprechen, auch deshalb, weil es unmöglich ist, sie sich am Stück anzuhören! (Ich hab es jedenfalls bis heute nicht geschafft) Auch die Live-Platte "Roberto Carlos e Caetano Veloso e a música de Tom Jobim" (2008) bleibt außen vor, da sie irgendwie nicht zur offiziellen Diskografie Caetanos zu zählen ist.

Damit sind wir im Hier und Jetzt angelangt. Ende 2012 veröffentlicht Caetano die dritte Platte mit seiner jungen Band, "Abracaço". Sie wollen wir in einem gesonderten Artikel präsentieren. Soviel sei aber schon mal verraten – ein Happy End wird es vorläufig erst einmal nicht geben.

Text + Fotos: Thomas Milz

Hier kommt ihr zu:
Teil 1: Vom Bossa zum Tropicalismo
Teil 2: London, London
Teil 3: Ergrautes Chamäleon, ewig junger Romantiker
Teil 4: Araçá Azul und die Frustrationen eines verwöhnten Jungen
Teil 5: Tudo Jóia?
Teil 6: Outras palavras - auf der Suche nach neuen Worten
Teil 7: Ein Fremder in neuen Zeiten
Teil 8: Fina Estampa

[druckversion ed 02/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_3] Venezuela: Die Transandina bei San Rafael de Tabay (Bildergalerie)
 
San Rafael de Tabay. Ein Dorf an der Transandina. Der von Touristen meist befahrenen Straße Venezuelas. Der Traumstraße Venezuelas. Ein Höhepunkt jagt den nächsten: Gletscherlagunen, Pässe, idyllische Andendörfer, Klöster und natürlich eine unbeschreibliche Naturvielfalt. Bei San Rafael de Tabay liegt die Schönheit der Transandina noch im Verborgenen...

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Fotos: Frank Sippach

Tipp:
Detaillierte Informationen zu Reisen in Venezuela:
Posada Casa Vieja Mérida

[druckversion ed 02/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: venezuela]





[art_4] Mexiko: Soldaderas der Mexikanischen Revolution (1910-30)

Pancho Villa, Francisco Madero, Emiliano Zapata: quer über die Brust gekreuzt zwei Patronengurte, ausladende Sombreros und stolz geschwungene Schnurrbärte. Berühmte und verehrte Männer der mexikanischen Revolution: Anführer eines Volksaufstandes für die gerechte Sache. Klangvolle Namen, denen der gewisse Hauch abenteuerlicher Romantik anhaftet.

Doch war die mexikanische Revolution wirklich reine Männersache? Schon zu Beginn sorgten Frauen für Nahrungsmittelnachschub, kochten, versorgten die Verletzten, beerdigten die Toten und schmuggelten Waffen und Munition. Wenn auch oft nicht aus Idealismus. Ihre kämpfenden Ehemänner bestanden darauf: "Wer soll mir denn sonst meine Tortillas zubereiten, wenn nicht meine Frau?", antwortete dazu ein nicht namentlich erwähnter Soldat in einem Zeitungsinterview.

Unverheiratete Soldaten mussten für diese Dienste zahlen; ein weiterer Grund für Frauen, beim Heer zu bleiben. Ganz abgesehen davon, dem Kriegstreiben in heimatlichen Gefilden nicht schutzlos ausgeliefert zu sein.

Im Verlauf der Zeit jedoch griffen immer mehr Frauen aktiv in das Kriegsgeschehen ein. Immer öfter war von Heldentaten der weiblichen Soldaten (soldaderas) zu lesen. Der spanische Schriftsteller und Zeitzeuge Vicente Blasco Ibañez spricht sogar von einem "gemeinsamen Kampf beider Geschlechter". In Mexiko bekleideten Frauen militärische Dienstränge bis zum Grad eines Colonel. Das ist in einem Land, in dem die Bezeichnung "Macho" heute noch ein Kompliment ist und das ideale Frauenbild sich an den Tugenden der Madonna orientiert, durchaus bemerkenswert.

Abgesehen von gesellschaftlichen Einschränkungen wurden Frauen auch rechtlich benachteiligt. So durften sie lange Zeit nicht einmal Verträge abschließen. Die Vormundschaft ging vom Vater auf den Ehemann über. Daraus ergab sich aber auch: kein Rechtsstatus, keine Selbstverantwortung.

Schon hundert Jahre vor der Revolution, im mexikanischen Unabhängigkeitskrieg, schlugen sich einige Frauen aus der spanischen Oberschicht auf die Seite der Aufständischen. Folgen für ihre Spionagedienste oder den Waffenschmuggel unter weiten Röcken mussten sie lange Zeit nicht fürchten, denn ins Gefängnis dafür kamen die jeweiligen Ehegatten - wegen Verletzung ihrer Aufsichtspflicht, und das immerhin war doch konsequent.

Auf die soldaderas der Revolution traf dieses nicht mehr zu. Einige traten aus dem Schatten ihrer männlichen Gesinnungsgenossen. Sie entwickelten sich zu Heldinnen ihres Landes:
  • Über die erfolgreichen Schlachten von Colonel María Quinteras de Meras (im Gefolge von Pancho Villa, der sie sehr respektierte) ranken sich Legenden. Ihre Untergebenen glaubten, sie besäße übernatürliche Kräfte - was ihrem kriegerischen Erfolg nur zugute kam.
  • Die als Mann verkleidete Fahnenträgerin Ángela "Ángel" Jiménez kämpfte für Carranza oft an vorderster Front und wurde ein angesehener Leutnant.
  • Und auf den Wagemut der Sprengstoffexpertin Colonel "Pedro" Petra Herrera wurden Loblieder gesungen, nachdem sie den Sturm auf Torreon angeführt hatte:
    La valiente Petra Herrera
    Al combate se lanzó
    Siendo siempre la primera
    Ella el fuego comenzó

    (Corrido del combate del 15 de Mayo en Torreon)

In den Generalsstand wurde sie jedoch nicht gehoben, weil dieser den Männern vorbehalten war. Die Mitstreiterin Maderos ließ sich jedoch, genauso wie einige andere weibliche Colonels in ähnlicher Lage, mit Generala anreden.

Ab 1925 gewannen die Revolutionäre die Oberhand im Kampf. In der Konsequenz hatten die soldaderas ausgedient. Sie wurden aus den Rängen der Armee heraus gedrängt und aus den Truppen gelöst. Selten wurde ihnen eine entsprechende Pension zugesprochen; aus der anfänglichen Volksarmee der campesinos und campesinas hatte sich ein modernes, rein männliches Militär gebildet. Die weiblichen Dienstränge waren ersatzlos gestrichen worden und in der mexikanischen Populärkultur haftete den früheren Heroinen alsbald der Ruf von Prostituierten oder amazonengleichen Kämpferinnen an, die durch männlich-romantische Tapferkeit bezwungen worden waren. Seither bezeichnet man sie leicht verächtlich als "Las Adelitas".

Die Figur der Adelita, historisch gesehen die berühmteste soldadera der Revolution, wurde in späteren Jahren in verzerrter Weise zum Prototyp der mexikanischen Soldatin stilisiert: aus einer tapferen Kämpferin, die sich im Krieg und in zahlreichen Romanzen behauptete, wurde eine hübsche und begehrte Aufsässige, die letztendlich ihr Glück in der Ehe mit einem Kampfgefährten fand. Filme wie La enamorada (1946), Juana Gallo (1960) und La Valentina (1965) haben dieses Bild weiter verfestigt.

Dass die soldaderas in der Geschichte der mexikanischen Revolution eine bedeutende Rolle spielten, auch wenn dieses nicht mehr allgemein bekannt ist und zudem der aufgebauten Ideologie der Revolution widerspricht, verursacht bei mexikanischen Militärhistorikern bis heute Zähneknirschen.

Und was wurde aus den soldaderas nach dem Krieg?

  • Von der resoluten Generala wissen wir, dass sie später in Chihuahua als Spionin arbeitete und bei einer Kneipenschlägerei ums Leben kam.
  • Ángela "Ángel" Jiménez emigrierte nach San José in Kalifornien und wurde Aktivistin für die Bürgerrechte der Chicanos.
  • Und die soldadera Manuela Oaxaca Quinn ging nach Los Angeles und zog dort ihren später weltberühmten Sohn auf, der als Schauspieler lange Zeit von sich reden machen sollte: Anthony Quinn.

Text: Alexandra Geiser

[druckversion ed 02/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: mexiko]





[kol_1] Hopfiges: Estrella Damm DAURA – SIN GLUTEN
 
Jetzt ist es doch passiert. Keine Mühen hatte ich gescheut, vom Verkostungsstoff aus Spanien das Erlesenste nach Berlin zu schmuggeln. Monatlich wollte ich berichten, von der geschmacklichen Aufholjagd. In Sachen gelungener Designvielfalt liegt der um ein tausendfaches kleinere spanische Biermarkt ja eh schon weit vor dem traditionell, angegrauten deutschen.

Als letzte Cerveza fand ich im Regal ein echtes Schätzchen, die Estrella Daura der Cervezería Damm aus Barcelona. Ein wieder aufgelegter Klassiker, der noch in den 80er/90er Jahren die Supermarktregale und Bars beherrscht hatte. Damals noch unter dem spanischen Namen DORADA. Natürlich hielt sich das ewig neckende Fläschchen nicht bis zum Verkostungstermin in der Kühlung. Zu viele unbeschreibliche Erlebnisse verbunden mit der Erinnerung an die große Ochsen-Tour durch Katalonien beflügelte die Verzehrlust.



Die Tour begann mit einer Zurschaustellung höherer Gewalt. Über die gebührenfreie Landstraße, die NII, fuhren wir von Frankreich kommend über die Grenze ins gelobte Land. Linker Hand der allgegenwärtige Stier tanzend in der heißen Luft der letzten Sonnenstrahlen. Vor uns der weite Blick ins obere Empordà. Unzählige Wetterleuchten schmetterten aus dem Nachthimmel: Figueras, die Bucht zwischen Roses und L’Escala erhellt mit einem Wohlgefühl verbreitenden Hola.

Wir gaben unserem Käfer Zunder. Wollten uns in das Leben stürzen, von dem wir immer geträumt hatten und keine Sekunde dessen, was uns erwarten sollte, verpassen. Dann ging alles recht schnell und doch in unendlicher Langsamkeit. Den Blitzen folgte ein Regen, der binnen Sekunden die Straßen in reißende Flüsse verwandelte. Wir durchfuhren eine nicht mehr endende Fuhrt und schafften es, uns, ohne zuvor von der Bahn gespült zu werden, hinter einen LKW zu klemmen. In dessen Fahrwasser passierten wir mehrere verheißungsvolle Ortschaften und fanden uns plötzlich mitten in Girona wieder.

Wir beschlossen, den Versuch zu wagen und den Wagen mit Schmackes raus aus der Schutzzone in eine größere Parklücke zu lenken. Es klappte und nach einem ersten Durchatmen erkannten wir eine Kneipe auf der Ecke, die sich durch den dichten Regenguss einzig und allein durch die Estrella-DORADA-Reklametafel verriet. Wir tranken Estrella und machten uns Freunde... und um den Rest der drei Wochen kurz zusammenzufassen: Der Käfer erfüllte das in ihn gesetzte Vertrauen und wir steuerten entlang der NII noch viele Estrella DORADA Bars an.

So gerne ich auch Weiteres vom Ochsen-Sommer 1990 berichtet hätte, er hat nichts mit dem mir vorliegenden Bier zu tun. Zum Glück fällt mir das erst nach der einleitenden Träumerei auf.

Da steht auf dem Etikett doch tatsächlich SIN GLUTEN. Bislang habe ich es einfach als Werbegag überlesen. Nun aber dünkt mich, dass doch mehr dahinter steckt und ich lese von Auszeichnungen für Estrella DAURA auf internationalen SIN GLUTEN-Wettbewerben.

Also hole ich mir Rat beim caiman-Brauer und Teilnehmer der beschriebenen Ochsentour. Das Gespräch zieht sich, Erinnerungen füllen Stunde um Stunde. Wir verkosten, nur nicht das eigentliche SIN GLUTEN, und einigen uns, dass ein Satz reichen müsse: wie Estrella und Estrella DORADA ist auch das ESTRELLA DAURA ein ungemein süffiges Bier der Spitzenklasse.

Nun aber zur Frage: Warum findet man in deutschen Supermarktregalen kein glutenfreies Bier? Deutsches Reinheitsgebot: Alles Gluten oder was? ¿SIN o CON GLUTEN?



Gluten steckt in der Gerste, also auch im Gerstenmalz. Alternativ könnte Reis verwendet werden. Reis ist glutenfrei. Im Estrella DAURA findet sich beides: Gerstenmalz und Reis. Genauere Angaben liefert die Legende auf der Flasche nicht. Es gibt einige denkbare Szenarien wie trotz des Einsatzes von Gerste, Gluten vermieden werden kann. Es könnte etwa der Reisanteil um ein Vielfaches höher liegen als der der Gerste. Durch dieses Verhältnis wäre so wenig Gluten im Bier, dass der Glutengrenzwert unterschritten würde. Dann wäre das Bier per Definition glutenfrei. Etwa analog zum alkoholfreien Bier. Nur Bier, das mit 0,0 Prozent gekennzeichnet ist, muss auçh tatsächlich alkoholfrei sein. Ein mit alkoholfrei gekennzeichnet Bier darf 0,3 Prozent Alkohol aufweisen. Ebenfalls denkbar wäre der Einsatz eines Gluten abbauenden Enzyms.

Hat der spanische Biermarkt gegenüber dem deutschen wieder mal die Nase vorn? Wird uns auch hierzulande die SIN GLUTEN-Kennzeichnung einholen. Es ist eigentlich heute schon so, dass viele deutsche Biere als glutenfrei durchgehen, da sie unter dem Glutengrenzwert liegen. Mit der Frage nach dem Sinn will ich mich gar nicht erst auseinander setzen. Denn ich wohne am Prenzlauer Berg und hier sind sogar die vietnamesischen Imbissstuben mit SIN GLUTEN gekennzeichnet. Wer’ s mag.

Ich jedenfalls mag Estrella in jedweder Form. Als DAURA, DORADA oder auch ohne Zusatz ist es vollmundig und doch süffig zugleich. Es schmeckt und hat alles, was ein Bier haben muss. Die drei Sorten, von denen aktuell nur zwei auf dem Markt sind, sehen sich zum verwechseln ähnlich, sind mehrfach ausgezeichnet und lassen mich für 0,33 l in den Sommer 1990 hinüberhuschen.

Bewertung Estrella DAURA - SIN GLUTEN

1. Hang over Faktor
(4 = kein Kopfschmerz):
2. Wohlfühlfaktor (Hängematte)
(4 = Sauwohl):
3. Etikett/Layout/Flaschenform
(4 = zum Reinbeißen):
4. Tageszeit Unabhängigkeit
(4 = 26 Stunden am Tag):
5. Völkerverständigung
(4 = Verhandlungssicher):

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 02/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: hopfiges]





[kol_2] Grenzfall: Eine "Umarmung" zum Abschied!
"Abracaço" von Caetano Veloso

Noch einmal die gleiche Formel? Ein drittes Album mit jener jungen Band, eine Partnerschaft, die schon auf dem zweiten Album künstlerisch ausgelaugt erschien? Kann das sein? Ja, es kann! "Abracaço" (Umarmung), die neue Platte. die Caetano Veloso Ende 2012 veröffentlichte, schließt die Trilogie ab, die Caetano mit der Band "Cê" machen wollte. "Mission accomplished", Patient tot!



Als die erste, "Cê", 2006 erschien, funktionierte die Formel: Caetano erfand sich neu mit jenem Garage-Sound, dreckig, hingerotzt, unfertig – und neu! Nach unzähligen lauwarmen Liedchen für Novelas von TV Globo endlich etwas Unerwartetes. Der Musiker, verletzt durch das Ende seiner zweiten Ehe, verarbeitete in seine Texten seine Gefühle. Eine verletzte Zärtlichkeit, die zwischen Furie und Melancholie hin und her schwang. Caetano selbst nannte dies "Transrock", wobei wohl nur er selber genau weiß, was das sein soll.

Danach kam "Zii e Zie", die Zwillingsplatte, nur dass statt Rock jetzt Samba gespielt wurde. Caetano nannte es "Transamba", Samba gespielt von einer Rockband. Das Resultat: langweilige Lieder, für mich wenigstens. Deshalb erwartete ich vom neuen Album einen Befreiungsschlag, neue Ideen, eine neue Herangehensweise, neue Inspirationen. – War aber nix!



Die neue Platte geht los mit "A Bossa Nova é foda", ein Lied das zwanghaft versucht, modern zu klingen – Caetano vermischt die alten Helden des Bossa Nova mit den neuen Helden des martialen Kampfsports à la MMA. Auch dies übrigens eine Erfindung von TV Globe, die nichts unterlassen, um das Niveau des brasilianischen TVs immer weiter nach unten zu schrauben. Und Caetano springt auch noch auf diesen fehlgeleiteten Zug auf, wohl um ein junges Publikum zu gewinnen.

Es folgt mit "Abracaço" wenigstens eine schöne Melodie, aber es klingt müde und verloren. Wie übrigens das ganze Album, das eine "kreative Müdigkeit" ausstrahlt, wie die Kritiker das gerne nennen. "Estou triste" und "Quero ser justo" schleppen sich dahin wie eine 500 Jahre alte Schildkröte. "O império da lei" klang nur mit Gitarre besser, damals beim Konzert auf der Rio+20 Konferenz Mitte 2012. Jetzt bricht die Band dem Stück immer genau dann die Beine, wenn es endlich zu Laufen beginnt. Schade!

Und diese erste Hälfte der Platte ist noch die bessere! Was sich nach einer guten Nachricht anhört, ist natürlich keine. Von hier an ist es praktisch unmöglich, irgendetwas hervorzuheben. "Um comunista" zum Beispiel ist viel zu lang/sam/weilig und der Versuch eines Rap scheitert kläglich (Funk melódico). Der Rest ist so langweilig wie die Platte "Recanto Gal", das Album von Gal Costa das Caetano 2012 schrieb und produzierte.



Was folgen wird, weiß ich schon – viele Leute verteidigen Caetano: er mag es halt, eine schöne Polemik loszutreten. Dieses Argument hört man immer dann, wenn man etwas verteidigen will, was nicht zu verteidigen ist. Ich denke einfach, Caetano möchte uns mit seinem "Abracaço" ein (trauriges) "Auf Wiedersehen" senden.

"Where have you gone, Joe DiMaggio? A nation turns its lonely eyes to you Ooo ooo ooo..."

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 02/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]






[kol_3] Helden Brasiliens: Brasilien rettet deutschen Carnaval
Unidos da Tijuca wagen Gewagtes

Deutschland als Carnavalsthema? Wie soll denn das bitte schön gehen? Die Deutschen wie auch ihr Karneval stehen für steife Ernsthaftigkeit, wohl temperierte Betroffenheit und die überlegte Geste. Also alles das, was Carnaval in Brasilien gerade nicht ausmacht.

Ausgerechnet im fröhlich-vergnügten Rio de Janeiro macht sich jetzt eine Carnavalsschule (was soviel wie Verein bedeuten soll) daran, das Thema "Deutschland" tanzbar zu machen. Getanzt übrigens von halb- oder weniger bekleideten Mädels, die ständig strahlen; getanzt von Zehntausenden auf den Tribünen des Carnavalstempels "Sambódromo", die auch noch laut mitsingen, ohne dass Gotthilf Fischer aushelfen müsste.


Und es ist nicht irgendein Verein, der sich an das heikle Thema wagt, sondern der aktuelle Champion des weltbesten Carnavals, also dem von Rio de Janeiro. Die Carnavalsschule "Unidos da Tijuca" ist bekannt dafür, Gewagtes zu wagen. Ihr Chef-Designer, auch "carnavalesco" genannt, ist Paulo Barros, die schillerndste Figur des Carnavals von Rio.

Barros hat in den letzten Jahren derartig viele Neuerungen in die Aufführungen der Carnavalsschulen gebracht, dass ihm auch beim Thema "Deutschland" viel zuzutrauen ist. Man darf also gespannt sein, wie er Playmobil, Goethe, Brecht und die Nibelungen unter eine Jeckenkappe bringen wird.

Vermasselt hätten die Party beinahe noch die in Brasilien reichlich vertretenen deutschen Großunternehmen, die sich entgegen der Erwartung der "Tijuca" nicht darum drängelten, das Abenteuer zu sponsern. Genau so wenig wie die deutsche Regierung, die ihr Sponsoring auf Events im Rahmen des Deutschlandjahres in Brasilien konzentriert. Und das beginnt nun mal erst im Mai und nicht schon im Februar zu Carnaval. Soviel Genauigkeit muss sein dürfen!

Das alles dann doch noch geklappt hat, darf man dem Improvisationstalent der Brasilianer und der Mischung aus Beharrlichkeit und stetem Optimismus der "Unidos" zuschreiben. Jetzt fehlt nur noch das Urteil der Carnaval-Punktrichter. Ob sie die Antagonismen "Deutschland" und "Carnaval" versöhnen werden können?

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 02/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





[kol_4] Lauschrausch: Mexiko hören
 
Der erste "Indianer", der einen Weißen sah, machte eine fatale Entdeckung, schrieb sinngemäß Robert Gernhardt. Und das lässt sich auch beim Hören dieses sehr gelungenen Hörbuchs zur Geschichte Mexikos feststellen. Nicht dass die Vorgeschichte der Olmeken, Zapoteken, Maya oder Azteken unblutig gewesen wäre, wie den ersten acht Kapiteln zu entnehmen ist, in denen es auch um den Schöpfungsmythos des Popul Vuh geht oder um die drei erhaltenen Maya-Codices (in Dresden, Madrid und Paris), die z.B. über das Leben und die Taten des Königs "Jaguarkralle" berichten. Aber richtig blutig wurde es erst, als die Spanier eintrafen, denen es u.a. durch den Aberglauben der Azteken und eine Frau namens Malinche leicht gemacht wurde, das heutige Mittelamerika zu erobern. Der Untergang der indigenen Reiche war besiegelt, nun bestimmten andere die Geschicke des Kontinents.

Mexiko hören
Hörbuch
Silberfuchs Verlag

Neben den geschichtlichen Ereignissen lässt der Text den Hörer aber auch durch Ausgrabungsstätten streifen oder erklärt kulturelle Phänomene. So erfährt man, wieso wir heute Jaguar, Schokolade und Tomate sagen und wie vielfältig die Algarve verwendbar ist. In den weiteren Kapiteln (insgesamt 20) geht es u.a. um den größten innerstädtischen Platz Lateinamerikas, Persönlichkeiten wie die Universalgelehrte Sor Juana Inés de la Cruz, den ersten indigenen Präsidenten Benito Juarez, um Diego Rivera oder - natürlich – um Emiliano Zapata und Pancho Villa, die Helden der Revolution von 1910 (die leider wenig bewirkte). Angereichert werden die Texte mit Literaturzitaten von z.B. Góngora oder Juan Rulfo. Und sie werden ergänzt bzw. untermalt von der jeweiligen Musik der Zeit. So hören wir barocke Klänge, Kirchenmusik von Manuel de Zumaya, "La Cucaracha" (als Huldigung an Pancho Villa), Mariachibands oder die "nationalistischen" Komponisten Manuel Ponce und Silvestre Revueltas (leider fehlen moderne Klänge z.B. aus der sehr lebendigen Rock- oder Hiphop-Szene).

Das Massaker von Tlatelolco-Platz (1968), die Entwicklung von Mexiko-City zur Megalopolis und die Gewaltexzesse der letzten Jahrzehnte beenden einen "Reiseführer", der trotz oder gerade auch wegen solch realistischer Darstellungen Lust auf eigene Entdeckungen vor Ort macht! Der Schauspieler Rolf Becker spricht die Texte mit angenehmer und - manchmal etwas zu – ruhiger Stimme, die spanischen Ausdrücke und Namen hätte er noch etwas üben können. Wie immer in dieser Reihe rundet ein liebevoll gestaltetes Booklet mit Zeittafel das Paket ab.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 02/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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