ed 05/2012 : caiman.de

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spanien: Giralda in der Pfütze – Semana Santa 2012 in Sevilla
Siebte Ausgabe unserer nicht ganz ernsten Chronik
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


ecuador: Walkabout
THOMAS BAUER
[art. 2]
paraguay: Fundierte Ausbildung an Stelle von Gepuzzle
Zu Besuch bei Kolping in Asunción
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 3]
brasilien: Rapte-me camaleão! – Caetano Veloso zum 70.
Teil 1: Vom Bossa zum Tropicalismo
THOMAS MILZ
[art. 4]
pancho: Falsches Allioli für den Ungeübten
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER
[kol. 1]
erlesen: Venezuela. Ein kleiner Roman
DIRK KLAIBER
[kol. 2]
grenzfall: Garota de Berlim
Nina Hagen in São Paulo?
THOMAS MILZ
[kol. 3]
lauschrausch: Galicischer Doppelpack
Talabarte trifft Lucía Martínez
TORSTEN EßER
[kol. 4]




[art_1] Spanien: Giralda in der Pfütze – Semana Santa 2012 in Sevilla
Siebte Ausgabe unserer nicht ganz ernsten Chronik
 
Sevilla, Palmsonntag, 01. April 2012, 15:00 Uhr
Am Vorabend hatte ich von einem meiner Sevillaner Freunde folgende SMS erhalten: "Angesichts der Wetterprognosen würde ich mich am liebsten von der Giralda stürzen!" Er tat es dann nicht, obwohl der Himmel ihm genug Gründe lieferte: in Form von endlosen Wolkenformationen, die eine solche Sintflut über Sevilla brachten, dass der Bau einer Arche von gewissen Kreisen ernsthaft debattiert werden sollte.

In der Tat waren schon die Vorzeichen für die diesjährige Semana Santa nicht gut, die Isobaren-Karte kündigte ähnlich desaströses Regenwetter wie bereits 2011 an.

Vor dem Regen und nach der Palmsonntags-Messe im Kloster Santa Paula sitzen Carmen und ihr Mann Manolo, Theresa und Regina, meine Freundin Angélica (sie langweilt sich oft während der Prozessionen, kommt aber uns zuliebe mit), die junge, 20-jährige und oft euphorische Cayetana aus Cádiz, zwei Pilger aus Madrid (Manuel und Christina) und ich (diesmal hat die Redaktion die Namen nicht geändert) im Patio des Pumarejo-Palasts.

Das traditionelle Palmsonntags-Buffet unter den Arkaden des Innenhofs ist so köstlich wie immer: Kabeljau-Kichererbsen-Eintopf, Tintenfisch-Frikadellen, Gazpacho in verschiedenen Rottönen und Thunfisch-Schinken (Mojama), zum Nachtisch Mango-Tiramisu und Torrijas, die köstliche, honigtriefende Süßigkeit der Sevillaner Karwoche.

Eigentlich ist alles wie immer. Elegant gekleidete Menschenmassen, Kinder, die mit Madonnenbildchen Karten spielen, frohe Erwartung über dem Platz. Nur eines fehlt, das wird um halb fünf nachmittags allen klar: die Prozession der Bruderschaft La Hiniesta, die zu diesem Zeitpunkt den Platz überqueren soll. Keine Musik, keine in Blau gewandeten Nazarenos, stattdessen ein Donner wie ein Erdbeben und ein plötzlicher Platzregen, der alle überrascht. Nur wenige haben Schirme dabei, viele flüchten unter die Arkaden des Palasts, während im Zentrum des Pumarejo-Platzes ein gigantischer Regenschirm improvisiert wird – die Menge hält eine Plastikplane über ihre Köpfe. Doch noch sind alle gut gelaunt, niemand will sich ernsthaft vorstellen, dass dieser Regenguss fast eine ganze Woche dauern anhalten könnte.

Cayetana quengelt, dass sie dieses Jahr aber endlich mal "La Borriquita" sehen möchte - eine Prozession für Kinder mit einer reichlich kitschigen Altarbühne ("Paso"). Manuel, immer mit einem Ohr am Radio, mahnt zur Geduld und berichtet, im Moment sei aufgrund des Regens keine einzige der neun Prozessionen des Palmsonntags unterwegs und schon fünf wären komplett abgesagt.

Diese Neuigkeit dämpft dann doch die Stimmung, nur Angélica wirkt nicht sonderlich traurig, sondern fast erleichtert und lehnt sich entspannt in ihrem Sessel zurück. Zu früh. Denn als die Dämmerung anbricht, verkündet das Radio, dass El Amor, die schönste Prozession des Tages, doch stattfinden wird. Es hat aufgehört zu regnen und die Menge macht sich auf den Weg zur Kirche El Salvador.
El Amor [zoom]

Das Gedränge auf dem Platz vor der Kirche ist unerträglich und zu allem Übel fällt genau in dem Moment, als der golden strahlende Paso mit dem Christus der Liebe herab steigt aus der roten Barockkirche, eine junge Frau neben uns in Ohnmacht. "Manche übertreiben es aber mit der mystischen Ekstase…", bemerkt Theresa trocken und Regina fügt hinzu: "Sicher eine Touristin." Manolo, Manuel und ich tragen sie über die Köpfe der Menge hinweg wie bei einem Rockkonzert an den Rand des Platzes, wo sie, an einen duftenden Orangenbaum gelehnt, wieder zu sich kommt. Und gleich einem Engel der Altarbühne in die Augen blickt, als diese nah an ihr vorbei getragen wird. "Nein, Du bist noch nicht im Himmel", beruhigt Manolo lächelnd die Erwachte, die etwas erschrocken in die Runde blickt.

Heiliger Montag, 02. April 2012
Nachdem wir bei Angélicas Eltern zu Mittag gegessen haben (ihre Mutter macht die besten Croquetas der Welt!) gehen wir ins Café de la Prensa nahe der Brücke von Triana, wo wir die Prozession der Bruderschaft San Gonzalo ansehen wollen.
San Gonzalo [zoom]

Es hatte schon mittags einen heftigen Wolkenbruch gegeben, der alle Straßen kurz unter Wasser setzte, doch jetzt scheint der Himmel einen Waffenstillstand anzubieten. Angélica und ich sitzen vor Espresso und Trüffeltörtchen im Café. Während ich natürlich im Semana Santa Programm blättere und mich angesichts der dunklen Wolken frage, welche Bruderschaften sich heute mutig für oder vernünftig gegen ihre Prozession entscheiden, studiert Angélica ganz entspannt einen Modekatalog. Sie scheint sich innerlich schon auf den nächsten Regenguss ohne Prozessionen und einen gemütlichen Nachmittag im Café de la Prensa eingerichtet zu haben und nippt zufrieden an ihrem Sherryglas.

Ich dagegen blicke unruhig nach draußen und als ich sehe, wie dort die ersten drei Regenschirme aufgespannt werden, wird mir schlagartig klar, dass man diesen Tag in die Tonne treten kann. Da kommen Manuel und Christina und drängen zum Aufbruch. Obwohl wir nichts Gutes ahnen, steigen wir die Treppe zur Brücke hinauf. Inzwischen haben fast alle Zuschauer der Prozession von San Gonzalo Schirme aufgespannt und als der goldglänzende Paso auf der Brücke erscheint, bietet er ein bizarres Bild. Die ganze Altarbühne ist mit Plastik abgedeckt, die Christusstatue in ein schwarzes Regencape gehüllt – so marschieren die Träger, ohne Musik und fast im Laufschritt, um ihre wertvolle Fracht so schnell wie es die drei Tonnen Gewicht erlauben, unter das rettende Dach der Magdalena-Kirche zu bringen.

Die Menge applaudiert so gut das mit Schirmen in der Hand geht. Doch dann nützen auch die Schirme nichts mehr, Dutzende fliegen durch die Luft, als sich der Regen zum flutenden Orkan steigert. Hunderte (diesmal Zuschauer, nicht Schirme) flüchten von der Brücke, retten sich unter Arkaden und Vordächer des Arenal-Viertels. Der Regen peitscht unter den Schirmen hindurch und klatschnass erkämpfen wir uns einen Platz in einem Hauseingang. Die Straße Arjona verwandelt sich in einen Fluss. Eine Stunde müssen wir warten, bis der Regen etwas nachlässt. Zum Trost gönnen wir uns im Restaurant "Pepe Hillo" ein Abendessen mit "reichlich Rotweinchen" (wie Cayetana meint) und einer zünftigen Stierschwanz-Suppe – serviert unter Stierköpfen, die stoisch auf uns herab blicken.

Omnium Sanctorum [zoom]
Los Javieres [zoom]

Heiliger  Dienstag, 03. April 2012
Um 16.00 Uhr stehen wir mit neuem Mut vor dem Portal der Kirche Omnium Sanctorum und warten auf die Prozession der Bruderschaft Los Javieres. Es regnet nicht, aber dunkle Bewölkung liegt wie ein bleischwerer Vorhang über dem Stadtpanorama und Manuel verkündet was niemand hören will: im Radio wird von ergiebigen Regenfällen nur 50 Kilometer westlich von Sevilla berichtet. Im Innern der Kirche diskutiert die Bruderschaft, ob man die Prozession wagen soll oder nicht. Eine Stunde später – es regnet noch nicht – wird den frustrierten Zuschauern das Nein bekannt gegeben. Zum Trost öffnen sich um 17.45 Uhr die Pforten der Kirche, damit die Menge zumindest die Altarbühnen der Bruderschaften Los Javieres und Carmen Doloroso bewundern kann. In diesem Moment lässt ein Donner, laut wie ein Explosionsknall, die Stadt erzittern und der Regengott öffnet erneut die Schleusen des Himmels.

Ein zweiter Donner scheint endgültig das Jüngste Gericht anzukündigen und versetzt die Menge in Panik. Alles flieht überstürzt ins rettende Kirchenschiff von Omnium Sanctorum, als ob es die Arche Noah wäre. Neben mir schwelgt ein Apokalyptiker in Weltuntergangsphantasien: die Maya, die das Ende der Welt ja erst für den 21.12.2012 vorausgesagt hätten, müssten sich irren – es passiert schon heute! Aber während draußen der Regen prasselt, beruhigen wir uns beim Anblick des "Christus der Seelen" und der melancholisch lächelnden "Jungfrau des Schutzes".

Dann wagen wir uns hinaus in den Regen, kommen aber nicht weit. Wie gestern müssen wir über eine Stunde unter einem Vordach verharren, bis das Schlimmste vorbei ist. Diesmal in der Straße Amor de Dios (Liebe Gottes). Plötzlich ruft neben uns eine Frau fast hysterisch gegen den Himmel: "Was haben wir bloß getan, um das zu verdienen?!" Christina murmelt entmutigt: "Also heute scheint Gott uns wirklich nicht zu lieben…"

Und Carmen dreht sich traurig kichernd (ja, das gibt’s!) um: "Habt ihr mal darauf geachtet, wo wir gerade stehen? Im Eingang eines Begräbnis-Instituts!" In der Tat schwebt das Schild mit der Aufschrift "Funeraria" symbolisch für diesen Tag drohend über uns.
[zoom]

Es ist der Tiefpunkt. Sogar Cayetana geht deprimiert bereits um acht Uhr abends ins Bett.

Heiliger Mittwoch, 04. April 2012
Zum Auftakt der gleiche Schauplatz wie gestern, nur etwas hoffnungsvoller. Es wäre übertrieben zu berichten, dass die Sonne sich gezeigt hätte, aber die Wolkendecke hat sich deutlich aufgehellt und gibt ein paar Lichtfenster frei. Applaus brandet auf, als sich das Kirchentor öffnet. Aus dem Portal von Omnium Sanctorum schiebt sich der riesige Paso von El Carmen Doloroso, eine Altarbühne üppig geschmückt mit violetten Lilien und groß wie eine Doppelhaushälfte.

Carmen Doloroso [zoom]
San Bernardo [zoom]

Wir begleiten ihn bis zur Herkules-Allee, dann trennt sich unsere Gruppe kurz. Die Madrilenen müssen schnell ins Hotel, um ihre Kamera aufzuladen. Manolo, Cayetana und ich eilen im Laufschritt zum Alfalfa-Viertel, wo wir die Prozession von San Bernardo sehen wollen. Wir kommen gerade noch rechtzeitig und postieren uns am Ende der engen Gasse Candilejo. Zwischen Balkonen, vergitterten Fenstern und Reklametafeln, die so unterschiedliche Produkte wie Juwelen und Backfisch anpreisen, bahnt sich der gekreuzigte Christus von San Bernardo langsam seinen Weg. Die Gasse ist so eng, dass man oft Angst haben muss, die Kreuzbalken würden an einem offenen Balkonfenster oder Gitter hängen bleiben. Doch alles geht gut und ergriffene Blicke folgen dem Paso, als er um die Ecke biegt.

Auf die Madonna können wir nicht warten, denn um 17.00 sind wir auf der Plaza de San Lorenzo mit den anderen verabredet, um dort der feierlichen Prozession der Franziskaner-Bruderschaft Buen Fin zu harren. Kaum angekommen, setzt Angélica sich auf ihren Klappstuhl, blickt zum Himmel und bemerkt in die Runde: "Es ist jetzt fünf Uhr nachmittags, eigentlich müsste es doch nun anfangen zu regnen – wie an den letzten drei Tagen…" Böse Blicke treffen sie, wandern nach oben und hellen sich auf. Dieser Mittwoch scheint ein perfekter Semana Santa Tag zu werden, ganz ohne Regen und mit allen neun Prozessionen. Wie schon 2011. Cayetana schlägt vor, da ja im ganzen letzten Jahrzehnt der Mittwoch stets der einzige "perfekte Tag" war, sollte man die wichtigsten Prozessionen der Madrugá (Karfreitagnacht) lieber gleich auf Mittwoch verlegen. Eine wilde Diskussion begleitet diesen gewagten Vorschlag.

Cayetana beteiligt sich nicht, ist ganz still geworden und starrt wie in Trance auf die Prozession. Ihre Blicke und ihre Kamera richten sich aber nicht auf die "Jungfrau der Palme", sondern auf einen glutäugigen Kerzenträger, der vor der Madonna schreitet. "Aber den hast Du doch schon vor zwei Jahren wie wild fotografiert", bemerkt Manuel. "Ja, und da hat er mir noch besser gefallen, weil er ohne Bart noch hübscher war", entgegnet sie, fotografiert ihn aber weiterhin. Alle anderen Zuschauer fangen mit ihren Kameras den Blütenregen ein, der von Balkonen auf den Baldachin der Madonna herab rieselt.

In der Straße San Vicente treffen wir endlich auch Theresa und Regina, die sich wieder sehr beliebt machen, indem sie selbst gemachte Mini-Torrijas verteilen, mit reichlich Servietten, weil die Wein-Honig-Soße überall herunter tropft. Hier ziehen die drei Pasos der Bruderschaft Siete Palabras vorbei. Inzwischen ist die Dämmerung angebrochen und die blaue Stunde passt farblich gut zur silbern glänzenden Altarbühne, auf der Christus sein Kreuz trägt. Als sich der silberne Baldachin der Madonna nähert, murmelt Regina mit spöttischem Lächeln: "Da kommt die kleine Transvestitin…" Ich zische sie an, das um Himmels willen nicht laut zu wiederholen, denn neben uns könnten Mitglieder der Bruderschaft stehen und niemand weiß, wie sie auf eine solch ketzerische Bemerkung reagieren. Obwohl Regina recht hat, denn diese Jungfrau war früher ein Engel und wurde vor einigen Jahrzehnten in eine Madonna "verwandelt".

San Bernardo [zoom]
El Baratillo [zoom]

Um 10 Uhr abends genießen wir das großartige Szenario auf dem Platz des Triumphes zwischen der Kathedrale und den tausendjährigen Mauern des Alcázar. Kerzenflammen erhellen die blau schimmernden Gewänder der Nazarenos der Prozession von El Baratillo, die an uns vorbei zieht. Ergreifend wie immer die wunderschöne Pietà, die alle Blicke und Kamerablitze auf sich zieht und unter den Klängen eines pathetischen Trauermarsches an den Burgmauern entlang gleitet. Da bahnt sich plötzlich eine Gruppe soeben ausgewechselter, verschwitzter Träger einen Weg durch die Zuschauer. Dabei stößt einer von ihnen, natürlich der Schönste, mit Cayetana zusammen und lächelt kurz. Völlig verzückt blickt sie ihm nach. Er trägt ein blaues Muscle-Shirt und auf seinem Trizeps prangt unübersehbar ein Tattoo, das den Giraldillo zeigt (die Bronzestatue, von der die Giralda bekrönt wird). "Er hatte ganz weiche Haut", schwärmt sie.

Nach Mitternacht erwarten wir zum krönenden Abschluss eines perfekten Tages den Cristo de Burgos auf dem gleichnamigen Platz, der in völliger Finsternis liegt. Nur unruhig flackernde Kerzen und Blitzlichter erleuchten den alten Christus, ein kostbares Kunstwerk von 1573. Wie schon im letzten Jahr singt Manuel Cuevas zwei Saetas, die derart ergreifend sind, dass das Publikum auf dem Platz zu den Taschentüchern greifen muss. Und – so kommentiert Manuel – abermals war die Saeta für die Madonna noch herzzerreißender als die für den Christus.
Cristo de Burgos [zoom]

Die Nacht verabschiedet sich mit einem mystischen Höhepunkt. Und Cayetana murmelt etwas von "Facebook", um nach dem tätowierten Träger zu suchen.

Gründonnerstag, 05. April 2012
Ein Trauerspiel mit eleganten Kostümen. Wie schon im letzten Jahr. Unter Regenschirmen wandern wir von Kirche zu Kirche, um die Pasos zu betrachten, die schon zwei Jahre lang nicht mehr lebendig wurden in den Straßen von Sevilla. Zum Trost gönnen wir uns San Marco Torte im Nobel-Café "Alarbardero". Christina fragt Cayetana, ob sie dazu ein Tässchen Kakao trinken wolle. "Nein", lautet die frustrierte Antwort der 20-jährigen. "Eher einen Cardenal Mendoza (spanischer Cognac)!"

La Madruga (Karfreitagnacht), 06. April 2012
Kurz nach Mitternacht. Es hat tatsächlich aufgehört zu regnen. Seit Stunden sitzen wir vor dem Fernseher und verfolgen Wetterprognosen und Interviews mit den Großmeistern der sechs Bruderschaften dieser magischen Nacht Sevillas, die 2011 zum ersten Mal seit fast anderthalb Jahrhunderten komplett ausgefallen war. Kaum auszudenken, was für eine Katastrophe es für die Stadt wäre, falls dies nun ein zweites Jahr in Folge passierte. Eine halbe Stunde später – Manolo und Cayetana sind schon auf dem Sofa eingeschlafen – wird die erlösende Nachricht verkündet: die Macarena, Esperanza de Triana und auch alle anderen vier Prozessionen werden stattfinden! Im Fernsehen sieht man die riesige Menschenmenge vor der Kirche der Macarena. Und dann öffnet sich das Tor und die weiß und violett gewandeten Nazarenos strömen heraus in die kalte Nacht.

La Macarena [zoom]
La Macarena [zoom]

La Macarena [zoom]
La Macarena [zoom]

Christina und Manuel rufen uns an, um einen Treffpunkt zu vereinbaren. Aber wir sind zu müde nach diesem Regentag. Carmen, Cayetana und ich beschließen, lieber früh aufzustehen als jetzt noch los zu ziehen (Angélica hat die Semana Santa ohnehin schon für sich als beendet erklärt). Durch unseren Schlaf der Gerechten verpassen wir die drei Schweigebruderschaften El Silencio, Gran Poder und El Calvario. Um halb sechs klingelt der Wecker und wir laufen zur Kathedrale. Wir kommen gerade rechtzeitig mit den ersten Sonnenstrahlen an, um den Auszug der Esperanza de Triana aus der Kathedrale zu bestaunen.

Das erste Sonnenlicht in dieser verregneten Semana Santa erleuchtet die Prozession und lässt das Gesicht der Madonna aus Triana in überirdischer Schönheit erstrahlen. Besonders Manuel, Christina und Cayetana, die Mitglieder der Esperanza de Triana sind, können sich von diesem Anblick kaum losreißen. Carmen, Manolo, Regina und ich – die "Macarena-Fraktion" – müssen energisch zum Aufbruch ans nördliche Ende der Altstadt mahnen, um früh genug an der arabischen Stadtmauer anzukommen, wo die Macarena-Prozession wieder in ihre Kirche einzieht. Denn aufgrund der erneut schlechten Wetterprognosen haben alle Prozession ihren Zeitplan reduziert und die Macarena zieht nicht wie üblich durch die zentralen Gassen ihres Viertels, sondern hat spontan den Weg verkürzt, um vor dem drohenden Regen ihre Kirche zu erreichen.

Esperanza de Triana [zoom]
La Macarena [zoom]

Das hat für uns den Vorteil, dass um 10 Uhr am Macarena-Tor erstaunlich viel Platz ist, weil viele Zuschauer, die kein Radio hören, noch in den Gassen warten, wo heut gar keine Prozession vorbei kommt. Eine Stunde früher als angekündigt wird der Paso mit der Christusstatue der Macarena durch das Tor getragen. Inzwischen haben sich doch ein paar Tausend Zuschauer eingefunden, um den von der Morgensonne angestrahlten Christus mit den maurischen Gesichtszügen zu begleiten, bis er hinter dem Gitter des Kirchenportals verschwindet. Ihm folgt das karnavaleske Element der Karwoche Sevillas: die geballte Formation der römischen Legion "Centuria Macarena" schreitet mit silberner Standarte und wehenden Straußenfedern durch das Stadttor. Vor der Kirche angekommen, küssen sich die hundert als Römer verkleideten Sevillaner. Jeder umarmt und küsst jeden (auf die Wange), das dauert ziemlich lange. Als er Christinas erstaunten Blick sieht, beschwichtigt Manolo sie lächelnd: "Nein, nicht das was Du denkst… sie beglückwünschen sich einfach nur nach der gelungenen Prozession, so wie Fußballspieler nach einem Tor…"

Vor uns steht ein Ehepaar spanischer Touristen, dem Akzent nach aus Valencia. Sie studieren nervös das Semana Santa Programm mit dem Zeitplan und plötzlich fragt die Dame einen jungen einheimischen Macarena-Anhänger (er trägt wie ich die Medaille der Bruderschaft): "Entschuldigen Sie, junger Mann, glauben Sie, wir haben Zeit genug, um da vorn am Kiosk eine Flasche zu kaufen, bevor die Jungfrau hier ankommt?" Der junge Macareno, sehr cool mit edler Sonnenbrille und modischem lila Schal, legt der Touristin die Hand auf die Schulter und verkündet dann feierlich: "Gute Frau, bevor hier unsere Macarena ankommt, haben Sie Zeit, nach Hause zu fahren, sich in aller Ruhe eine köstliche Paella zu kochen und sie sogar aufzuessen, und wenn Sie dann zurück kommen, lässt unsere Jungfrau vielleicht immer noch auf sich warten, wie alle schönen Frauen."

Das Gelächter der umstehenden Zuschauer ist so laut, dass die Ärmste den letzten Teil der barocken Antwort kaum noch versteht. Aber jeder, der die Macarena-Prozession mehr als einmal gesehen hat, weiß natürlich, dass zwischen den Pasos von Christus und Madonna mehr als zweitausend Nazarenos und mindestens anderthalb Stunden liegen. Deshalb warten wir nicht hier, sondern gehen ihr ungeduldig entgegen. In der Calle Feria haben Bewohner nur provisorisch die Balkone schmücken können, da erst vor zwei Stunden die Routenänderung bekannt gegeben wurde. Trotzdem regnen reichlich Rosenblätter herab. Und wie immer versetzt das unverwechselbare, geheimnisvolle Gesicht der Madonna alle in Entzücken. Cayetana bemerkt, es sei schade, dass das Gesicht der Macarena nicht von der Sonne erleuchtet würde wie vorhin das der Esperanza de Triana (die Sonne steht schon zu hoch und dringt nicht durch den Baldachin).

Los Gitanos [zoom]
Los Gitanos [zoom]

Obwohl wir alle noch müde sind und uns der kalte Wind zu schaffen macht, drängt Carmen zum Endspurt, denn wir wollen unbedingt zum ersten Mal seit Jahren wieder der Zigeuner-Prozession beiwohnen. Wir rennen los und drängen uns durch die Menge, bis wir in der Gasse Escuelas Pias einen Platz in der ersten Reihe erobert haben.

Ein ganz kleiner Nazareno, vier oder fünf Jahre alt, verteilt "estampitas" (Madonnenbildchen) ans Publikum. Ich schlage ihm einen Tausch vor: einmal Zigeunermadonna gegen Macarena. Er nickt sofort, hinter der lila Maske kann man sein Lächeln nur vermuten.

Die Sonne strahlt, als würde es nie wieder regnen. Da nähert sich schon die "Jungfrau der Todesängste" (so der offizielle Name der Zigeuner-Madonna), eine Schönheit mit besonders langen Wimpern und edlem, königsblauem Mantel. Die hohen, vor ihr aufgetürmten Wachskerzen haben sich zu bizarren Stalaktiten verformt. Plötzlich beginnen die unsichtbaren Träger unter dem Paso zu singen. Sie bringen ihrer Jungfrau ein Ständchen, nicht opernhaft, aber sehr leidenschaftlich gesungen.
Los Gitanos [zoom]

Dann schleudern sie für den Endspurt den Paso so impulsiv nach oben, dass die Krone der Madonna erzittert. Carmen kommentiert: "Die haben wohl gerade einen Energizer gespritzt bekommen." – Den hätten wir am Nachmittag gut gebrauchen können.

Karfreitag, 06. April 2012
17:00 Uhr Alle liegen zur Siesta auf Betten oder Sofas. Hatte ich schon erwähnt, dass es wieder regnet? Fünf Prozessionen werden abgesagt. Um 1 Uhr nachts raffen wir uns auf, um wenigstens La Mortaja, die wichtigste Prozession des Tages, vor ihrem Rückzug in die Kirche zwischen den Orangenbäumen zu erwarten. Danach treibt uns ein feuchtkalter Wind ins Bett.
La Amagura [zoom]

Karsamstag, 07. April 2012
18:00 Uhr: Heute überflutet Sonnenlicht statt Regenwasser die Stadt. Es ist deutlich wärmer und ganz Sevilla ein Frühlingsfest. Unfassbare Menschenmassen überall, sogar die Prozession von El Sol, einer neuen Bruderschaft, die noch nicht zu den Publikumsmagneten gehört, wird von Tausenden begleitet, als sie aus der Kathedrale kommt.

Danach spazieren wir durchs Barrio Santa Cruz und genehmigen uns ein paar köstliche Tapas im "Estrella". Um 10:00 Uhr abends, als die Prozession von La Trinidad an uns vorbei zieht, fragt ein Kind beim Anblick des allegorischen Paso, der die Dreifaltigkeit, Kirche und Glauben symbolisiert: "Papa, was bedeuten die Figuren?" Angesichts der Erklärungsnöte des Vaters greift Manuel, unser Kunsthistoriker, ein und erklärt dem Kind den Sinn der Symbolfiguren. "Und wer ist die schlafende Frau?", insistiert die Kleine. "Die Kirche", antwortet Manuel, und Regina beeilt sich hinzuzufügen: "Ja, die Kirche verschläft im Moment so einiges…!"

Ostersonntag, 08. April 2012
4.00 Uhr. Cayetana hat ganz entgegen ihren Gewohnheiten in der Osternacht keine Diskothek besucht, sondern sich schlafen gelegt und den Wecker auf 4:00 Uhr gestellt – um "ausgeschlafen für den Auferstandenen" zu sein, wie sie meint. "Ich glaube, sie wird langsam erwachsen…", kommentiert Manuel mit spöttischem Grinsen. (Und: seit Tagen denkt sie nur noch an den Träger des Giraldillo-Tattoos und will im Moment niemand anderen kennenlernen). 

Jedenfalls schafft sie es tatsächlich, so früh aufzustehen und ich verliere meine Wette. Damit kann sie als einzige nächtliche Fotos dieser Prozession präsentieren, während alle anderen sie heute Mittag sehen.

Als wir sie für ihre Fotos loben, besonders für eines, das den Schatten eines Nazarenos zeigt, meint sie nur, dass Manuel wie immer das beste Foto dieser Semana Santa geschossen habe – und ein symbolträchtiges für diese regenreiche Woche dazu: die Giralda gespiegelt in einer Pfütze.

Text: Berthold Volberg
Fotos: Berthold Volberg + Vicente Camarasa
La Giralda [zoom]


Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

Von Berthold Volberg sind zur Semana Santa in Sevilla folgende Artikel erschienen:
[Es ist vollbracht: Der Karsamstag in Sevilla]
[Zwischen strahlendem Barock und düsterer Mystik: Der "Heilige Montag"]
[Die Passion in Sevilla: Der "Heilige Mittwoch"]
[Der Karfreitag in Sevilla: Ein Andalusisches Requiem]
[Der Tag der Himmelsköniginnen - Palmsonntag in Sevilla]
[Goldrausch in Sevilla: Gründonnerstag der Semana Santa]
[Semana Santa in Sevilla - Die Geheimnisse der Madrugá]

Und die nicht ganz ernst gemeinten Chroniken der Semana Santa:
[Regenschirme statt Madonnen-Baldachine – 2011]
[Rosenblüten-Regen aus blauem Himmel – 2010 / Teil 1]
[Rosenblüten-Regen aus blauem Himmel – 2010 / Teil 2]
[Ostermorgen in Sevilla – 2008]
[Madonnenbildchen über Madonnenbildchen in Sevilla – 2008]
[Heilige Nacht mit Guaraná – 2007]

[druckversion ed 05/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_2] Ecuador: Walkabout
 
Ich sitze im Bus, der mich von Cuenca, der drittgrößten Metropole Ecuadors, zu der Küstenstadt Machala bringen soll. Eine Strecke, für die normalerweise fünf Stunden veranschlagt werden. Unser Fahrer hat sich jedoch vorgenommen, die Grenzen seines Gefährts auszuloten und treibt den Bus unerbittlich die Anden hinunter. In seiner Kabine prangt neben einem Bild der Jungfrau Maria der knallrote Aufkleber eines Rennwagens; das Wort "Gegenverkehr" scheint ihm gänzlich unbekannt zu sein. Ja, es macht ihm sogar Spaß, auf der engen Passstraße abrupt auf die linke Spur zu wechseln, ganz besonders vor den Kurven. Sein Beifahrer schlingert indessen durch die Reihen und verteilt Kotztüten. Für die Strecke nach Machala benötigen wir tatsächlich nur dreieinhalb Stunden.

Zwischen den Orten
15 Autoren schreiben über das Reisen

Thomas Bauer (Autor und Herausgeber)
Bei Walkabout handelt es sich um eine gekürzte Version, entnommen der Reise-Anthologie Zwischen den Orten von Thomas Bauer

Als ich den Bus verlasse, meine ich, in ein anderes Land geraten zu sein. Statt der kargen Andenlandschaft, die mich seit fünf Wochen begleitet hat, erstrecken sich grüne Bananenplantagen bis zum Horizont. Auch die Stimmung hat sich geändert: Neugierige Augen folgen mir auf Schritt und Tritt, was vor allem daran liegt, dass diese Region des Landes bisher kaum von Touristen besucht wird und mein blondes Haar wie ein Leuchtfeuer wirken muss.

Am intensivsten spüre ich die Blicke der Küstenbewohner, als ich zusammen mit etwa 25 Ecuadorianern auf dem Boot von Machala zum nahe gelegenen Strand von Jambelí fahre. Fünfzig tiefschwarze Augen treffen auf zwei blaue, und ein langes gegenseitiges Abtasten beginnt, wobei meine Wissbegierde mindestens ebenso groß ist wie ihre; am liebsten würde ich ihnen tausend Fragen stellen.

An diesem Abend bleibe ich lange wach und schaue von meinem Hotelzimmer auf die belebte Straße unter mir. Welche Gedanken verbergen sich wohl hinter all diesen dunklen Augenpaaren? Und warum sind die Menschen trotz ihrer offensichtlichen Armut so viel ausgelassener als die Leute in Europa, die doch, verglichen mit diesen Zuständen, in Luxus baden? Mir fällt keine Antwort ein.

Tage später in Baños schließe ich mich einer kleinen Reisegruppe an, mit der ich vier Tage lang in einem Indianerreservat im Dschungel lebe, um den Alltag der indígenas, der Eingeborenen, kennen zu lernen. Wir durchstreifen den Urwald, klettern Wasserfälle empor, ritzen Bambusstämme an, um daraus Wasser zu trinken und übernachten in cabañas, Urwaldhütten, unter dichten Moskitonetzen und in der Nähe einer Lagune, in der man die Augen von Kaimanen aufblitzen sieht, wenn man mit der Taschenlampe aufs Wasser leuchtet. Obwohl ich von den vielen neuen Eindrücken überwältigt bin, sind es eher die langen Phasen, die mir in Erinnerung bleiben werden, in denen wir aufgrund des permanenten Regens kaum etwas anderes tun können als unter einem halbdichten Strohdach zu sitzen und zu warten. So paart sich die Exotik, die entsteht, weil ich mich einer mir völlig unbekannten Lebenssituation aussetze, zeitweise mit dem bekannten Gefühl der Langeweile, weil Warten auf besseres Wetter überall dieselben Gefühle hervorruft, ob man sich nun in einer Hängematte irgendwo im Urwald befindet oder in der heimischen Zwei-Zimmer-Wohnung.

Doch kurz vor meiner Abreise geschieht dann doch noch das, was jeder Ecuador-Besucher gleichzeitig erhofft und befürchtet. Der Reventador, ein im Nordosten des Landes gelegener Vulkan, spuckt zwei Mal innerhalb weniger Tage eine Aschewolke zwölf Kilometer hoch in die Luft.

Der Ausbruch kommt völlig überraschend, hätte jedoch kaum die Aufmerksamkeit der an Eruptionen gewöhnten Ecuadorianer erregt, wenn die Aschewolke nicht direkt über die 100 Kilometer westlich gelegene Hauptstadt Quito gezogen wäre und die einst so bunte Stadt mit einer bis zu drei Zentimeter dicken Ascheschicht bedeckt.

Damit hat die Hauptstadt nicht gerechnet. Die Regierung verhängt den Ausnahmezustand, die Schulen bleiben mehrere Tage geschlossen, und die Bevölkerung wird aufgerufen, das Haus nur mit einem Mundschutz oder einer Gasmaske zu verlassen. Da der internationale Flughafen von Quito nicht benutzt werden kann, verschiebt sich mein Rückflug um einen Tag. Mit einem Mundschutz im Gesicht laufe ich durch die Straßen der Hauptstadt, die bereits eifrig von Freiwilligen der Armee gesäubert werden, auf denen die feinen Aschepartikel aber immer noch empor wirbeln, sobald ein Auto vorbei fährt.

24 Stunden später als geplant sitze ich also im Flugzeug Richtung Europa und versuche meine Gedanken zu ordnen. In den vergangenen sechs Wochen bin ich mit Bussen und auf der Ladefläche von Lastwagen kreuz und quer durch Ecuador gereist und habe die unterschiedlichsten Landschaften per Kanu, Pferd und Mountain Bike entdeckt. Ich habe, auf dem Dach eines Zuges sitzend, die "Teufelsnase" (La Nariz del Diablo) erklommen, eine Schlucht, die so steil ist, dass der Zug abwechselnd vor- und wieder zurück setzen muss, um die Strecke zu schaffen – er entgleist zwei Mal bei dem Versuch – während die ganze Zeit über wagemutige Verkäufer auf dem Zugdach balancieren, von denen ich Schokoriegel, Lutscher und Chips hätte kaufen können.

Auf einmal wird mir klar, dass ich mich in das Land verliebt habe, in die Unmittelbarkeit und Freundlichkeit seiner Bewohner, in die kargen Landschaften der Anden, in die temperamentvolle Stimmung an der Küste und in den Regenwald des Amazonas. In den letzten Wochen wurde ich mit Dingen konfrontiert, die ich bislang nicht kannte, und ich hatte das Gefühl, diese mir fremden Situationen alles in allem recht gut gemeistert zu haben; ich sitze im Flugzeug und strahle wie ein Honigkuchenpferd. Die Ureinwohner Australiens besitzen ein Wort für den Zustand, in dem ich mich befinde. Sie nennen das Ritual, bei dem ein junger Mann auf eine Reise geht, um mehr über sich selbst zu erfahren und um Stärke zu finden, den Walkabout. Als das Flugzeug zum Landeanflug auf Frankfurt am Main ansetzt, weiss ich, dass mein Walkabout in Ecuador stattgefunden hat.

Text: Thomas Bauer
Cover: amazon

Tipp: literatunest.de

[druckversion ed 05/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: ecuador]





[art_3] Paraguay: Fundierte Ausbildung an Stelle von Gepuzzle
Zu Besuch bei Kolping in Asunción
 
Im Berufsbildungszentrum von Kolping in Paraguay können Erwachsene eine fachliche Ausbildung erhalten. Davon profitieren Berufsanfänger genauso wie gestandene Familienväter.

Konzentriert beugt sich Ruben in der Lehrwerkstatt über den Motorraum und schließt ein Kabel an. Dann zündet er den Wagen und stellt zufrieden fest, dass die Klimaanlage läuft. Klimaanlagen zu reparieren, ist eine Fähigkeit, die in Paraguay gesucht und gut bezahlt ist – schließlich wird ist es hier im Sommer über Monate mehr als 40 Grad heiß. "Wenn ich diesen Kurs abgeschlossen habe, dann werde ich in der Autowerkstatt, in der ich arbeite, derjenige sein, der sich am besten mit Klimaanlagen auskennt. Ich werde eine bessere Position bekleiden und mehr verdienen", erzählt der 37-jährige Familienvater.

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Das Berufsbildungszentrum in der Hauptstadt Asunción ist das Herzstück des paraguayanischen Kolpingwerkes. Die Palette der angebotenen Kurse ist groß: Alleine im Bereich Automechanik gibt es sechs verschiedene Zweige; von Elektronik für Dieselmotoren bis hin zur Autoschlosserei. Man kann sich auf Motorräder spezialisieren, auf Schweißen, alles über Kühlschränke lernen oder Kurse in Elektroinstallation, Handyreparatur und Informatik belegen. Außerdem gibt es spezielle Angebote, die sich eher an Frauen richten: Friseurhandwerk, Kosmetik und Nageldesign. Insgesamt handelt es sich um 40 verschiedene Ausbildungsmöglichkeiten, aus denen die Schüler wählen können.

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In der großen Lehrwerkstatt von Kolping gehen die Lichter an, denn draußen ist es inzwischen dunkel. Eigentlich ist es abends um sechs Uhr ein bisschen spät um mit dem Unterricht zu beginnen, aber tagsüber haben die Schüler nun mal keine Zeit – alle müssen arbeiten und Geld verdienen. Ruben hat sich das, was er kann, bei Kollegen abgeschaut oder selber beigebracht. Doch bei den neuen Automodellen, die über immer mehr Elektronik verfügen, reicht das nicht mehr. "Die Elektronik in den Autos ist heute derart kompliziert... das muss man richtig lernen", hat Ruben eingesehen und sich deshalb für den Kurs entschieden. Alle, die zu Kolping kommen, werden sowohl in Theorie als auch in Praxis unterrichtet. In Deutschland mag das selbstverständlich sein – in Paraguay ist diese Art der Ausbildung einzigartig. Normalerweise besteht das Lernen hier nur aus Theorie und bestenfalls einem völlig veralteten Motor, an dem man die vor 30 Jahren gebräuchliche Technik studieren kann, wie einer der Teilnehmer augenzwinkernd meint. In der Lehrwerkstatt von Kolping hingegen stehen Modelle der neuesten Motoren, Computer, Kühlschränke und Klimaanlagen.

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Da verwundert es nicht, dass die Warteliste lang ist – das Berufsbildungszentrum könnte wesentlich mehr Schüler aufnehmen. Doch Olaf von Brandenstein hat gerade erst die Zahl der Schüler pro Kurs von 40 auf 25 reduziert. "Sind es zu viele Teilnehmer, dann kann auf den Einzelnen nicht ausreichend eingegangen werden, es entstehen Wartezeiten im Praxisbereich und darunter leidet die Qualität der Ausbildung", kommentiert der Leiter des Kolpingwerkes Paraguay diese Entscheidung. Und die Qualität ist anerkanntermaßen gut. "Wir bekommen permanent Anfragen von Firmen, die auf der Suche nach gut ausgebildeten Fachkräften sind und die uns bitten, ihnen unsere Absolventen zu vermitteln", erzählt Olaf von Brandenstein. Und es gibt sogar Betriebe, die ihre Mitarbeiter gezielt zu den Kursen anmelden.

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Die Kurse dauern jeweils fünf Monate. Zwei Mal pro Woche kommen die Schüler abends nach der Arbeit für vier Stunden hierher um sich weiter zu bilden. Jeder der Teilnehmer hat rund 200 Euro für seinen Kurs bezahlt. Das ist für paraguayanische Verhältnisse kein Schnäppchen, aber dennoch auch für einfache Hilfskräfte erschwinglich – anders als die Gebühren von Kursen, die von privaten Instituten angeboten werden. "Wir können diesen relativ günstigen Preis deshalb offerieren, weil das Kolpingwerk eine gemeinnützige Einrichtung ist, die keinen Gewinn erwirtschaftet", erklärt Olaf von Brandenstein. Aber die Kurse sind auch kein Zuschussgeschäft – mit den Kursgebühren trägt sich das Berufsbildungszentrum nicht nur selber, sondern es bleibt sogar ausreichend Geld übrig, um acht kleinere Bildungszentren auf dem Land zu subventionieren.

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Sechs Stunden Autofahrt durch die weite Landschaft der südamerikanischen Pampa entfernt liegt das Städtchen San Igancio de Misiones. Nachdem Kolping über Jahre in der ländlichen Region Paraguays kaum präsent war, hat hier vor einem Jahr ein neues kleines Bildungszentrum seine Pforten geöffnet. Die Kurse richten sich hauptsächlich an Frauen. "Hier auf dem Land ist eine große Zahl von Frauen ganz und gar von ihren Männern abhängig. Viele haben nichts gelernt", erklärt Mirna Martínez das Kursangebot der Filiale von San Ignacio, das unter anderem Schneidern, Sekretariat und Makeup umfasst. Diese Kursvielfalt ist auf dem platten Land Paraguays eine absolute Ausnahme – außerhalb der Hauptstadt gibt es so gut wie keine Aus- oder Weiterbildungsmöglichkeiten. Und so kann sich Mirna Martínez, die Leiterin des Zentrums über einen Mangel an Nachfrage nicht beklagen. Die Kurse sind voll und die Wartelisten lang.

Es sind vor Allem sehr junge Frauen, die sich anmelden. "Mit vielen von dem, was die Mädchen hier lernen, kann man sehr schnell ein kleines Einkommen erwirtschaften. Zum Beispiel mit Dekorationen für Hochzeits- oder Geburtstagsfeiern oder hübschem Kunsthandwerk, das sich gut verkaufen lässt. Viele der Frauen nutzen diese Einkommensmöglichkeiten dann, um damit den Besuch der Oberschule zu finanzieren." Die ersten Schülerinnen, die diese Kurse abgeschlossen haben, berichten, dass ihre kleinen Geschäfte bereits heute Gewinne abwerfen.

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Es sind aber nicht nur junge Mädchen und erwachsene Frauen, die in dem Handarbeitskurs lernen, wie sie aus einfachen Flipflops ausgefallenes Schuhwerk herstellen können, das sich ausgezeichnet verkaufen lässt. Auch viele Kinder aus dem benachbarten SOS-Kinderdorf sticken eifrig Perlen und Blumen auf die Plastikschuhe. "Es ist schön, die Mädchen so fröhlich zu sehen", meint Mirna Martínez, die die Kinder in Nachbarschaftshilfe zu den Kursen eingeladen hat. "Viele von ihnen haben Schlimmes erlebt, bevor sie in das Kinderdorf kamen und wir freuen uns, dass wir auch etwas dazu beitragen können, dass es ihnen besser geht." Und wer weiß, vielleicht ist dieser Kurs ja nicht nur eine schöne Freizeitaktivität sondern hilft den Mädchen später dabei, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

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Ana Gabriela macht sich für den Besuch ihres Friseurkurses fertig. In ihrem winzigen Schlafzimmer, das sie sich mit ihren Geschwistern und Neffen teilt, fährt sie sich vor dem fast blinden Spiegel mit der Bürste durch die Haare. Insgesamt leben sieben Personen in den zwei Zimmern, die nicht einmal über einen richtigen Fußboden verfügen. Die berufliche Situation der Eltern ist typisch für Paraguay: Weil es keine richtigen Ausbildungsmöglichkeiten gibt, wurschteln sie sich irgendwie durch. Die Familie hat ein bisschen Land, auf dem sie für den Eigenbedarf das Nötigste anbaut. Ana Gabrielas Vater versteht ein bisschen was vom Hausbau und hilft hin und wieder auf dem Bau aus, ihre Mutter wäscht und putzt. Auch die 18jährige Ana Gabriela trägt schon seit Jahren mit einer Putzstelle zum Familieneinkommen bei. Aber eigentlich möchte sie mehr vom Leben. Deshalb hat sie sich bei Kolping in dem Friseurkurs eingeschrieben. "Wenn ich diesen Kurs nicht machen könnte, dann würde ich wohl mein Leben lang Putzfrau bleiben", meint sie und macht sich zu Fuß auf den halbstündigen Weg in das kleine Bildungszentrum.

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Ihr Friseurkurs ist für Ana Gabriela nur der erste Schritt in die berufliche Selbstständigkeit. "Nächstes Jahr möchte ich auch den Schminkkurs besuchen – dann kann ich alles anbieten, was man können muss, um die Frauen für Feste zu stylen", erzählt Ana Gabriela. Schon jetzt verdient sie sich etwas dazu, indem sie Nachbarinnen die Haare macht. "Und irgendwann werde ich meinen eigenen kleinen Schönheitssalon haben!", sagt sie mit Nachdruck. Damit ist Ana Gabriela eine von 3.000 Kursteilnehmerinnen, die jedes Jahr in Paraguay mit der Hilfe von Kolping ihre Zukunft selber in die Hand nehmen.

Text: Katharina Nickoleit
Fotos: Christian Nusch

Tipp: Katharina Nickoleit hat u.a. einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den Ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

Titel: Bolivien Kompakt
Autorin: Katharina Nickoleit
252 Seiten
ISBN 978-3-89662-362-1
Verlag: Reise Know-How
3. Auflage 2012

[druckversion ed 05/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: paraguay]





[art_4] Brasilien: Rapte-me camaleão! - Caetano Veloso zum 70.
Teil 1: Vom Bossa zum Tropicalismo
 
70 Jahre Caetano Veloso - im August 2012 feiert der Star aus Bahia seinen runden Geburtstag. Sein Sternzeichen ist der Löwe, besungen in seinem Song Tigresa, in dem er Sonia Braga zitiert. In diesem zerreißt die Tigerin mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln sein Herz und offenbart, sie wolle einen Ort erfinden, an dem die Tigerin dem Löwen überlegen sei.



Herr und Herrscher über eine immense Vielzahl musikalischer Stile, die er während seiner 45 Jahre andauernden Karriere miteinander vermischte, ähnelt Caetano eher einem Chamäleon (camaleão) als einem Löwen (leão). Brutale Stilbrüche, aber sich stets selbst erneuernd - sein Werk umfasst mittlerweile etwa 50 Platten, ohne die unzähligen Best-Ofs mitzuzählen. Da kann es schon mal schwierig werden, sich in dem Labyrinth seines Schaffens zurecht zu finden. Trotzdem werden wir es versuchen und euch eine Auswahl seiner besten Lieder und Platten vorzustellen.



Vom Bossa zum Tropicalismo - da sprechen wir über die Jahre 1965 bis 1969. Die erste Single erscheint 1965, wobei Caetano seinen Nachnamen noch mit zwei Ls schreibt. Seite A ist "Samba em Paz", die Rückseite "Cavaleiro". Nette Bossa Novas, treu den Stilvorgaben des großen Meisters João Gilberto folgend (später wird Caetano erklären, dass Gilbertos Bossa für ihn ein "Statement of Beauty" gewesen sei). Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei der Text von "Samba em Paz", der auf seltsam visionäre Art und Weise Chico Buarques "Vai passar" von 1985 vorweg nimmt - wobei "Samba em Paz" den Beginn der Diktatur markiert und Burques Song das Ende: "O Samba vai crescer, quando o povo perceber, que é o dono da jogada. O Samba vai vencer, pelas ruas vai correr, uma grande batucada...".



Die erste LP folgt 1967: "Domingo", ein Gemeinschaftswerk mit Langzeitpartnerin Gal Costa. Auf der Coverrückseite taucht Caetanos Name zum ersten Mal mit einem L auf. Musikalisch sticht "Coração Vagabundo" heraus, das wohl einzige Lied der Bossa-Phase, das auch heute noch einen hohen Stellenwert in Caetanos Karriere einnimmt. Ansonsten folgen die beiden Baianos treu dem Bossastil von Meister Gilberto. Interessanter ist da schon das Lied "Saudosismo", das sich auf einer 1968 live mit den "Mutantes" eingespielten Single wiederfindet. "Ah! Como era bom, mas chega de saudade, a realidade é que, aprendemos com João, para sempre, ser desafinado..." Eine Ankündigung der kommenden Veränderungen... oder besser noch, der bereits stattfindenden Veränderungen.



Ende 1967 veröffentlichte Caetano die LP "Caetano Veloso", die das absolute Gegenteil zu der erst kurze Zeit vorher veröffentlichten LP "Domingo" darstellt. Scheinbar reifte der Musiker Caetano in den wenigen Monaten musikalisch um Jahre. Direkt zu Beginn kündigt er die neuen Zeiten in dem Song "Tropicália" an: "Eu organizo o movimento.." Eine kühne Mischung aus Rock, Pop, Samba, Bolero und ein wenig "Flower Power". Herausragend "Alegria, alegria" ("caminhando contra o vento...), "Superbacana" und "Soy loco por ti, América", ein Tribut an Che Guevara.



Und da er schon einmal dabei war, die Bewegung zu organisieren, versammelte Caetano musikalische Freunde wie Gal Costa, Gilberto Gil, Os Mutantes, Nara Leão, Rita Lee und Tom Zé, um 1968 gemeinsam die LP "Tropicália" aufzunehmen. Bemerkenswert hier Caetanos "Baby" und das mit Gilberto Gil geschriebene "Panis et circensis". Die LP ist eine Achterbahnfahrt verschiedenster Stile, die zwischen einem gewitzten Intellektualismus und purem Kitsch oszillieren. All das erinnert ein wenig an die "Strawberry Fields Forever", sie Sgt. Pepper Zeiten der Beatles. Zugleich das Fundament der MPB, der "Música Popular Brasileira", die die nächsten Jahrzehnte die brasilianische Musikszene dominieren sollte.



Aber 1968 war (natürlich) auch das Jahr der Revolutionen und ein verärgerter Caetano mitten drin. Dissonanzen, schreiende E-Gitarren...  Auf der Single, die Caetano mit "Os Mutantes" aufnahm, erleben wir in "A voz do morto" den Bruch mit dem Pop-Rock-Bossa-Stil des "netten" Caetano. Als ihn m September 1968 das Publikum von TV Globe ausbuht, brüllt er ihnen "É proibido proibir" entgegen: es ist verboten zu verbieten! Eine offene Herausforderung an die Militärs! Alsbald schon wird Caetano verhaftet und während seines anschließenden Hausarrestes entsteht 1969 "Caetano Veloso", ein Meisterwerk voller Melancholie und (vorweg genommenem) "Saudade", Heimweh.



Gleich zu Beginn, in dem Song "Irene", gibt er den das ganze Werk begleitenden Ton vor: "Eu quero ir minha gente, eu não sou daqui..." und fast wortgleich in "Marinheiro só": "Eu não sou daqui..."  Ebenso im Fado "Os argonautas": "Navegar é preciso, viver não é preciso". Musikalisch interessant sind auf dieser Scheibe noch "Atrás do trio elétrico", der Tango "Cambalache" geschrieben von Enrique Discépolo ("Que el mundo fué y será una porqueria, ya lo sé!") und "Alfômega" von Gilberto Gil ("Não sei nada sobre a morte..."). Und natürlich der große Hit der Platte, "Não identificado", der später in Gal Costas Version große Berühmtheit erlangen soll. Damit endet Caetanos "Bossa - Tropicalismo" Phase.



Gemeinsam mit Gilberto Gil geht er nach London ins Exil, nachdem sich die beiden mit zwei Auftritten im Theater Castro Alves von ihrer Heimat verabschiedet haben. 1972 erscheinen diese beiden Konzerte als LP unter dem Titel "Barra 69 - Caetano e Gil ao vivo". Herausragend die unglaublich traurige Version von "Superbacana" mit teilweise neuen Texten und "Cinema Olympia". Eine tolle Demo-Version wird 2002 in Caetanos Archiv entdeckt. Sie erscheint 2006 in dem Box-Set "Todo Caetano", in dem auch andere rare Titel wie die erste Single von 1965 sowie die Live-Single mit den Mutantes und "É proibido proibir" erscheinen.



Caetano erinnert sich dieser Phase seines Schaffens auf der 2011 erschienenen Live-CD "Zii e Zie - MTV ao Vivo", auf der er die Show mit "A voz do morto" eröffnet und mit "Irene" und "Não identificado", alle drei in tollen Versionen, echte Höhepunkte setzt. Bleibt nur zu sagen: Bye-bye Caetano, wir sehen uns im kühlen London.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 05/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[kol_1] Pancho: Falsches Allioli für den Ungeübten
 
Mein Name ist Maria Josefa Hausmeister und sowohl mein Onkel Tio Caimán Hausmeister als auch mein Vater Papi Hausmeister sind in den 40er Jahren geboren. Sie gehören damit einer Generation von Männern an, die die Küche als Räumlichkeit eines Hauses entweder komplett einnehmen (Tio Caimán) oder aber gar nicht kennen (Papi Hausmeister).

Beiden Typen kann man keinen Vorwurf machen, denn die starken Frauen, wie Tia Anaconda und Mami Hausmeister und natürlich die Abuela Hausmeister-Corazón waren es, die ihren Herd bis aufs Messer zu verteidigen wussten und keinen männlichen Vertreter in ihrem Reich duldeten. Mein Tio Caimán trug Schnittwunden davon, konnte sich aber durchsetzen und eroberte seinen Platz an der Flamme.

Sobald er heute den Küchenplatzhirsch markiert, weicht Tia Anaconda zähneknirschend. Meine Mutter hingegen war stärker und dankt es Papi Hausmeister noch heute mit Schnittchen und Herrenschokolade zum Fußball.

Beide Modelle, a. raumfüllende männliche Selbstüberschätzung für Spiegelei und b. Küchenbrand durch den Versuch Spiegelei, sind nicht mehr zeitgemäß. Ich habe daher beschlossen, beiden Küchengeistern den Sprung in das gesellige und kooperative Miteinander an Herd und Mixer zu erleichtern und ihr angegrautes Image einzufärben.

Mein Onkel Tio Caimán allerdings scheint noch nicht reif für diesen Schritt. Während er mich aus der Küche jagte, warf ich ihm an den Kopf, dass die albondigas (Frikadelle/Fleischpflanzerl/Bulette/Fleischküchle in Tomatensoße) meiner Tia Anaconda in einem erheblichen Maß geschmackvoller seien als seine Kreationen. Nun herrscht Funkstille.

Bei meinem Papi Hausmeister hatte ich mehr Erfolg. Heute glänzt er auf Partys. Für die falsche Allioli oder auch Knoblauch-Mayonnaise benötigt er genau sieben Minuten. Sie gelingt immer und man zollt ihm, aber vor allem meiner Mami Hausmeister, die es nach all den verzogenen Jahren doch noch geschafft hat, ihren jubilierten Küchenphobiker zum Lustkocher zu erziehen, Respekt. – Für den nächsten Monat habe ich mir vorgenommen, ihm auch noch das Spülen beizubringen, so dass er auf Partys nicht nur mit Allioli glänzt, sondern darüber hinaus mit einem wieder blitzsauberen Ort seines Schaffens verzückt.

Zutaten
1-5 frische, gern junge Knoblauchzehen für den Schärfegrad nach Gusto, 0,1-l intensives, fruchtiges Olivenöl, ein rohes Ei, Brise Salz, Schuss Essig

Küchengeräte
Brettchen, Messer, Stabmixer, hohes Gefäß

Training
Ihr beginnt damit, dem Kochschreck die Angst vor dem Knoblauchschälen und Zehenzerdrücken zu nehmen. Redet ihm gut zu und wascht mit ihm zwischenzeitlich die Hände mit ausreichend Seife. Der Schnuppereffekt – Wow, man riecht ja gar nichts – bewirkt eine positive Grundstimmung, die wichtig ist für den schwierigen zweiten Schritt, das Eiaufschlagen. Hier sind der Kreativität in der Vermittlung keine Grenzen gesetzt. Nur soviel mag ich mit auf den steinigen Weg geben: Ein Lätzchen ist fein. Die neuen Vokabeln, eine Brise Salz, habe ich mit der Briefwaage erklärt und ein Schuss Essig (bzw. Zitronensaft) mit einem Schnäpschen zwischendurch. Für die Ölmenge orientierten wir uns am hiesigen Bierglas. In Köln gibt es dafür glücklicherweise die Bier-Maßeinheit Stößchen mit 0,1-Liter-Volumen.

Papi Hausmeister ist ein geduldiger Mensch und so war es wenig überraschend, mit welcher Muße der Stabmixer in das Zutatenhaferl eingetaucht und im Anschluss das Rotationsblatt konsequent auf dem Grund gehalten wurde. Und dann Minuten später war die erste Allioli aus den Händen eines Typs b. Küchenbrand durch den Versuch Spiegelei erschaffen.

Text + Foto: Maria Josefa Hausmeister

[druckversion ed 05/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: pancho]





[kol_2] Erlesen: Venezuela. Ein kleiner Roman
 
Alfredo Guzman stolpert in den Tag hinein. Und dann lebt er den Moment. Allerdings unreflektiert. Nichts scheint ihm von Bedeutung. Seine Frau und die zwei Kinder: Statisten. Sein Job als Gynäkologe am Fliegerstützpunkt in Brandenburg: Nebensache. Die Epoche Nazideutschland: wird hingenommen als gegeben. Und der Vater aus Venezuela, den er nicht kannte, weil dieser die Familie früh im Stich ließ: geschenkt.

Venezuela. Ein kleiner Roman
Jochen Jung

Haymon Verlag, 2005
ISBN-10: 3852184851
ISBN-13: 978-3852184852

Er ist hübsch anzusehen – so schreibt sein Sohn, aus dessen Sicht der Roman sehr kurzweilig erzählt wird – was ihm, dem Stolperer, der für nichts, was er tut, verantwortlich zu machen scheint, zum Verhängnis wird: ein Fehltritt mit der Ehefrau des am Schnaps berauschten Generals während einer rauschenden Feierlichkeit zur Ehrung Ernst Udets, Fliegerheld des ersten Weltkriegs. Sehr angenehm für Leser, für die Nervenkitzel nicht unbedingt zum Lesespaß dazugehört: Alfredo Guzman flieht ohne größere Aufregung zunächst vom Stützpunkt, dann über Curaçao nach Venezuela.

Die Überfahrt verbringt er mit jüdischen Familien auf der Flucht vor Hitler und seinen Schergen. Sowohl sein so gar nicht deutsch klingender Name als letztendlich auch sein Beruf sind für Kontaktanbahnungen von Vorteil. Ohne, dass es besonders thematisiert würde, bricht er mit seiner militärisch auferlegten pronationalistischen Gesinnung. Und so erwacht in ihm wenige Stationen später – es hat ihn in Venezuela in die deutsche Colonia Tovar verschlagen – gar der Rebell gegen das arische Rassendenken.

Bis zu diesem Punkt bin ich begeisterter Leser von Jochen Jungs kleinem Roman. Leider aber ist dies schon der Auftakt zum Schlussakkord, der wild vereint und entzweit, neues anreisst, was unbedingt hätte interessant sein können und abrupt endet – irgendwie unbefriedigend.

Die Stärke ist der völlig unreflektierte Umgang des Protagonisten mit seinem Leben: sinnvoller Job an sinnloser Wirkungsstätte und arisches Rassendenken trotz venezolanischer Abstammung. Sowie die Begegnung Alfredos mit seinem Vater, mit dem er das gleiche Schicksal teilt, das Zurücklassen der Familie – dies aber mit keinem Satz erörtert wird. Schwäche ist das „klein“ im Titel. Es hat fast den Anschein, als ob Jochen Jung unterbrochen wurde und den Roman so vorzeitig als erledigt betrachtete. So konstruiert er zwar in letzter Sekunde noch interessante Zusammenhänge, wie beispielsweise die Verwandtschaft Alfredos zu dem spannenden venezolanischen Ex-Präsidenten Guzman-Blanco. Es bleibt aber bei einem Nebensatz und der Gedanke verpufft bzw. schwingt nach – dann ist der Protagonist leider schon zur Seite gekippt und das Büchlein ist aus.

Text: Dirk Klaiber
Foto: amazon.de

[druckversion ed 05/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





[kol_3] Grenzfall: Garota de Berlim
Nina Hagen in São Paulo?
 
Caminhava eu sozinho A noite olhando para o chão De repente eu vi uma figura Que de longe tocou meu coração... - Ich ging alleine, des Nachts, den Blick auf den Boden gerichtet, als ich plötzlich eine Person sah, die schon von weitem mein Herz berührte...



Wie wahrscheinlich ist es wohl, Nina Hagen in São Paulo zu treffen? Der Regen, der Nebel und die Kälte des Winters lassen São Paulo wie Berlin an einem tristen Oktobertag erscheinen… Da fragt mich plötzlich Ninas unverwechselbare Stimme: "'Hey Punk, wo kommst denn du her? Biste neu hier?" Ich erschrecke, weiß nicht, was ich ihr antworten soll. Und als sie mir anbietet "Soll ich Dir Berlin zeigen? Kennste das Risiko?" bin ich verloren – vollkommen.

Meine Gedanken gehen zurück in die 80er Jahre, als ich als Kind mit Schrecken auf jene seltsame Erscheinung im Fernseher meiner Eltern schaute. Welche Angst jene roten Haare mir machen. Und jener noch rotere Mund, der so schief und riesig war, dass er mich locker verschlucken hätte können.

"Diese Sängerin kommt doch aus Deinen Gefilden, oder?", fragt mich der Taxifahrer. "Die war schon ziemlich durchgeknallt, oder?" Die Leuchtziffern des Radios zeigen den Namen der Band an: Tokyo mit Nina Hagen. "Das kann man so sagen. Ich hatte riesig Schiss vor ihr als ich klein war..."

Punkmusik der 80er, Suplas alte Band… Supla, noch so eine Figur, die mich erschreckt. Vor zehn Jahren habe ich ihn mal auf einer Party im Zentrum von São Paulo getroffen. Ein rebellischer Junge aus einer reichen und einflussreichen Familie der Stadt. Im Internet lese ich, dass er und Nina eine kurze, aber angeblich heftige Affäre gehabt hätten. Damals, als Nina bei "Rock in Rio" auftrat, 1985 muss das gewesen sein. Und rausgekommen ist dabei jenes Stück Punk, dass der Taxifahrer jetzt lauthals mitsingt.

Verrückte Welt denke ich. Das hat mir gerade noch gefehlt...

Text: Thomas Milz

[druckversion ed 05/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]






[kol_4] Lauschrausch: Galicischer Doppelpack
 
Talabarte
Talabarte
Fol música / galileo mc

An keltische Dudelsäcke (gaitas) oder Harfen auf Alben galicischer Musiker ist man inzwischen gewöhnt, aber eine Nyckelharpa... das kommt dann doch eher selten vor. Dieses vor allem in Schweden beheimatete Instrument, eine Mischung aus Violine und Drehleier, spielt bei "Talabarte" (Schwertgürtel) Quim Farinha, sonst Geiger der bekannten galicischen Gruppe "Berrogüetto".

Talabarte
Talabarte
Fol música / galileo mc

Mit seinen Kollegen Pedro Pascual (Akkordeon) und Kin García (Bass) entwickelt er in dieser Formation eine zeitgenössische Folkmusik, die rein akustisch umgesetzt wird. Einflüsse vom Jazz, vor allem bei den fünf nicht-traditionellen Stücken, sind spürbar, ebenso andere europäische Richtungen der Folkloremusik. Vom melodiösen "Tres golpes" über das bis zur Mitte eher düstere "Arbore-Struga" bis hin zum fröhlichen "Arrandiando" deckt das Repertoire alles ab. Die Mehrzahl der 13 Titel ist über fünf Minuten lang, klingt modern und wird laut und lebhaft interpretiert, selbst wenn sie zunächst langsam beginnen (z.B. "Fendendo achas"). Tipp: Das Album von "Talabarte" sollte man anfangs häppchenweise genießen, denn Violine und Akkordeon können auf Dauer anstrengend klingen!

Lucía Martínez
Berliner Projekt Azulcielo
Nuba / galileo mc

Die Perkussionistin, Schlagzeugerin und Komponistin Lucía Martínez Alonso aus Galicien lebt seit einigen Jahren in Berlin, wo sie unter anderem ihren Abschluss am Jazz-Institut gemacht hat. Zuvor hatte sie in Spanien und anderen Ländern Komposition und Musik studiert und Einflüsse sowohl aus der galicischen Folklore (u.a. mit Mercedes Peón), dem Flamenco, der klassischen und der Neuen Musik aufgesogen. Das alles ist hörbar auf ihrem neuen Album "Azulcielo", auf dem sie ausschließlich Eigenkompositionen präsentiert.

Lucía Martínez
Berliner Projekt Azulcielo
Nuba / galileo mc

Die Kombination von modernem Jazz und Akkordeon lässt öfter mal an Astor Piazzolla denken (z.B. "Azulcielo"), in "El mar y yo" klingt Klezmer an, wird jedoch bald von Flamencoklängen abgelöst, die gegen Ende eine starke Energie entwickeln. Das treibende "Fogo do 23" verwandelt sich in reinen Free Jazz, "O pe do ceo" versöhnt dann wieder mit feinem Klarinettenklang im Barjazz-Stil. Ein spannendes Album mit sanften und harten Tönen, das zum Zuhören zwingt.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 05/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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