ed 05/2012 : caiman.de

kultur- und reisemagazin für lateinamerika, spanien, portugal : [aktuelle ausgabe] / [startseite] / [archiv]


[art_2] Ecuador: Walkabout
 
Ich sitze im Bus, der mich von Cuenca, der drittgrößten Metropole Ecuadors, zu der Küstenstadt Machala bringen soll. Eine Strecke, für die normalerweise fünf Stunden veranschlagt werden. Unser Fahrer hat sich jedoch vorgenommen, die Grenzen seines Gefährts auszuloten und treibt den Bus unerbittlich die Anden hinunter. In seiner Kabine prangt neben einem Bild der Jungfrau Maria der knallrote Aufkleber eines Rennwagens; das Wort "Gegenverkehr" scheint ihm gänzlich unbekannt zu sein. Ja, es macht ihm sogar Spaß, auf der engen Passstraße abrupt auf die linke Spur zu wechseln, ganz besonders vor den Kurven. Sein Beifahrer schlingert indessen durch die Reihen und verteilt Kotztüten. Für die Strecke nach Machala benötigen wir tatsächlich nur dreieinhalb Stunden.

Zwischen den Orten
15 Autoren schreiben über das Reisen

Thomas Bauer (Autor und Herausgeber)
Bei Walkabout handelt es sich um eine gekürzte Version, entnommen der Reise-Anthologie Zwischen den Orten von Thomas Bauer

Als ich den Bus verlasse, meine ich, in ein anderes Land geraten zu sein. Statt der kargen Andenlandschaft, die mich seit fünf Wochen begleitet hat, erstrecken sich grüne Bananenplantagen bis zum Horizont. Auch die Stimmung hat sich geändert: Neugierige Augen folgen mir auf Schritt und Tritt, was vor allem daran liegt, dass diese Region des Landes bisher kaum von Touristen besucht wird und mein blondes Haar wie ein Leuchtfeuer wirken muss.

Am intensivsten spüre ich die Blicke der Küstenbewohner, als ich zusammen mit etwa 25 Ecuadorianern auf dem Boot von Machala zum nahe gelegenen Strand von Jambelí fahre. Fünfzig tiefschwarze Augen treffen auf zwei blaue, und ein langes gegenseitiges Abtasten beginnt, wobei meine Wissbegierde mindestens ebenso groß ist wie ihre; am liebsten würde ich ihnen tausend Fragen stellen.

An diesem Abend bleibe ich lange wach und schaue von meinem Hotelzimmer auf die belebte Straße unter mir. Welche Gedanken verbergen sich wohl hinter all diesen dunklen Augenpaaren? Und warum sind die Menschen trotz ihrer offensichtlichen Armut so viel ausgelassener als die Leute in Europa, die doch, verglichen mit diesen Zuständen, in Luxus baden? Mir fällt keine Antwort ein.

Tage später in Baños schließe ich mich einer kleinen Reisegruppe an, mit der ich vier Tage lang in einem Indianerreservat im Dschungel lebe, um den Alltag der indígenas, der Eingeborenen, kennen zu lernen. Wir durchstreifen den Urwald, klettern Wasserfälle empor, ritzen Bambusstämme an, um daraus Wasser zu trinken und übernachten in cabañas, Urwaldhütten, unter dichten Moskitonetzen und in der Nähe einer Lagune, in der man die Augen von Kaimanen aufblitzen sieht, wenn man mit der Taschenlampe aufs Wasser leuchtet. Obwohl ich von den vielen neuen Eindrücken überwältigt bin, sind es eher die langen Phasen, die mir in Erinnerung bleiben werden, in denen wir aufgrund des permanenten Regens kaum etwas anderes tun können als unter einem halbdichten Strohdach zu sitzen und zu warten. So paart sich die Exotik, die entsteht, weil ich mich einer mir völlig unbekannten Lebenssituation aussetze, zeitweise mit dem bekannten Gefühl der Langeweile, weil Warten auf besseres Wetter überall dieselben Gefühle hervorruft, ob man sich nun in einer Hängematte irgendwo im Urwald befindet oder in der heimischen Zwei-Zimmer-Wohnung.

Doch kurz vor meiner Abreise geschieht dann doch noch das, was jeder Ecuador-Besucher gleichzeitig erhofft und befürchtet. Der Reventador, ein im Nordosten des Landes gelegener Vulkan, spuckt zwei Mal innerhalb weniger Tage eine Aschewolke zwölf Kilometer hoch in die Luft.

Der Ausbruch kommt völlig überraschend, hätte jedoch kaum die Aufmerksamkeit der an Eruptionen gewöhnten Ecuadorianer erregt, wenn die Aschewolke nicht direkt über die 100 Kilometer westlich gelegene Hauptstadt Quito gezogen wäre und die einst so bunte Stadt mit einer bis zu drei Zentimeter dicken Ascheschicht bedeckt.

Damit hat die Hauptstadt nicht gerechnet. Die Regierung verhängt den Ausnahmezustand, die Schulen bleiben mehrere Tage geschlossen, und die Bevölkerung wird aufgerufen, das Haus nur mit einem Mundschutz oder einer Gasmaske zu verlassen. Da der internationale Flughafen von Quito nicht benutzt werden kann, verschiebt sich mein Rückflug um einen Tag. Mit einem Mundschutz im Gesicht laufe ich durch die Straßen der Hauptstadt, die bereits eifrig von Freiwilligen der Armee gesäubert werden, auf denen die feinen Aschepartikel aber immer noch empor wirbeln, sobald ein Auto vorbei fährt.

24 Stunden später als geplant sitze ich also im Flugzeug Richtung Europa und versuche meine Gedanken zu ordnen. In den vergangenen sechs Wochen bin ich mit Bussen und auf der Ladefläche von Lastwagen kreuz und quer durch Ecuador gereist und habe die unterschiedlichsten Landschaften per Kanu, Pferd und Mountain Bike entdeckt. Ich habe, auf dem Dach eines Zuges sitzend, die "Teufelsnase" (La Nariz del Diablo) erklommen, eine Schlucht, die so steil ist, dass der Zug abwechselnd vor- und wieder zurück setzen muss, um die Strecke zu schaffen – er entgleist zwei Mal bei dem Versuch – während die ganze Zeit über wagemutige Verkäufer auf dem Zugdach balancieren, von denen ich Schokoriegel, Lutscher und Chips hätte kaufen können.

Auf einmal wird mir klar, dass ich mich in das Land verliebt habe, in die Unmittelbarkeit und Freundlichkeit seiner Bewohner, in die kargen Landschaften der Anden, in die temperamentvolle Stimmung an der Küste und in den Regenwald des Amazonas. In den letzten Wochen wurde ich mit Dingen konfrontiert, die ich bislang nicht kannte, und ich hatte das Gefühl, diese mir fremden Situationen alles in allem recht gut gemeistert zu haben; ich sitze im Flugzeug und strahle wie ein Honigkuchenpferd. Die Ureinwohner Australiens besitzen ein Wort für den Zustand, in dem ich mich befinde. Sie nennen das Ritual, bei dem ein junger Mann auf eine Reise geht, um mehr über sich selbst zu erfahren und um Stärke zu finden, den Walkabout. Als das Flugzeug zum Landeanflug auf Frankfurt am Main ansetzt, weiss ich, dass mein Walkabout in Ecuador stattgefunden hat.

Text: Thomas Bauer
Cover: amazon

Tipp: literatunest.de

[druckversion ed 05/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: ecuador]


© caiman.de: [impressum] / [disclaimer] / [datenschutz] / [kontakt]