ed 05/2012 : caiman.de

kultur- und reisemagazin für lateinamerika, spanien, portugal : [aktuelle ausgabe] / [startseite] / [archiv]


[art_4] Brasilien: Rapte-me camaleão! - Caetano Veloso zum 70.
Teil 1: Vom Bossa zum Tropicalismo
 
70 Jahre Caetano Veloso - im August 2012 feiert der Star aus Bahia seinen runden Geburtstag. Sein Sternzeichen ist der Löwe, besungen in seinem Song Tigresa, in dem er Sonia Braga zitiert. In diesem zerreißt die Tigerin mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln sein Herz und offenbart, sie wolle einen Ort erfinden, an dem die Tigerin dem Löwen überlegen sei.



Herr und Herrscher über eine immense Vielzahl musikalischer Stile, die er während seiner 45 Jahre andauernden Karriere miteinander vermischte, ähnelt Caetano eher einem Chamäleon (camaleão) als einem Löwen (leão). Brutale Stilbrüche, aber sich stets selbst erneuernd - sein Werk umfasst mittlerweile etwa 50 Platten, ohne die unzähligen Best-Ofs mitzuzählen. Da kann es schon mal schwierig werden, sich in dem Labyrinth seines Schaffens zurecht zu finden. Trotzdem werden wir es versuchen und euch eine Auswahl seiner besten Lieder und Platten vorzustellen.



Vom Bossa zum Tropicalismo - da sprechen wir über die Jahre 1965 bis 1969. Die erste Single erscheint 1965, wobei Caetano seinen Nachnamen noch mit zwei Ls schreibt. Seite A ist "Samba em Paz", die Rückseite "Cavaleiro". Nette Bossa Novas, treu den Stilvorgaben des großen Meisters João Gilberto folgend (später wird Caetano erklären, dass Gilbertos Bossa für ihn ein "Statement of Beauty" gewesen sei). Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei der Text von "Samba em Paz", der auf seltsam visionäre Art und Weise Chico Buarques "Vai passar" von 1985 vorweg nimmt - wobei "Samba em Paz" den Beginn der Diktatur markiert und Burques Song das Ende: "O Samba vai crescer, quando o povo perceber, que é o dono da jogada. O Samba vai vencer, pelas ruas vai correr, uma grande batucada...".



Die erste LP folgt 1967: "Domingo", ein Gemeinschaftswerk mit Langzeitpartnerin Gal Costa. Auf der Coverrückseite taucht Caetanos Name zum ersten Mal mit einem L auf. Musikalisch sticht "Coração Vagabundo" heraus, das wohl einzige Lied der Bossa-Phase, das auch heute noch einen hohen Stellenwert in Caetanos Karriere einnimmt. Ansonsten folgen die beiden Baianos treu dem Bossastil von Meister Gilberto. Interessanter ist da schon das Lied "Saudosismo", das sich auf einer 1968 live mit den "Mutantes" eingespielten Single wiederfindet. "Ah! Como era bom, mas chega de saudade, a realidade é que, aprendemos com João, para sempre, ser desafinado..." Eine Ankündigung der kommenden Veränderungen... oder besser noch, der bereits stattfindenden Veränderungen.



Ende 1967 veröffentlichte Caetano die LP "Caetano Veloso", die das absolute Gegenteil zu der erst kurze Zeit vorher veröffentlichten LP "Domingo" darstellt. Scheinbar reifte der Musiker Caetano in den wenigen Monaten musikalisch um Jahre. Direkt zu Beginn kündigt er die neuen Zeiten in dem Song "Tropicália" an: "Eu organizo o movimento.." Eine kühne Mischung aus Rock, Pop, Samba, Bolero und ein wenig "Flower Power". Herausragend "Alegria, alegria" ("caminhando contra o vento...), "Superbacana" und "Soy loco por ti, América", ein Tribut an Che Guevara.



Und da er schon einmal dabei war, die Bewegung zu organisieren, versammelte Caetano musikalische Freunde wie Gal Costa, Gilberto Gil, Os Mutantes, Nara Leão, Rita Lee und Tom Zé, um 1968 gemeinsam die LP "Tropicália" aufzunehmen. Bemerkenswert hier Caetanos "Baby" und das mit Gilberto Gil geschriebene "Panis et circensis". Die LP ist eine Achterbahnfahrt verschiedenster Stile, die zwischen einem gewitzten Intellektualismus und purem Kitsch oszillieren. All das erinnert ein wenig an die "Strawberry Fields Forever", sie Sgt. Pepper Zeiten der Beatles. Zugleich das Fundament der MPB, der "Música Popular Brasileira", die die nächsten Jahrzehnte die brasilianische Musikszene dominieren sollte.



Aber 1968 war (natürlich) auch das Jahr der Revolutionen und ein verärgerter Caetano mitten drin. Dissonanzen, schreiende E-Gitarren...  Auf der Single, die Caetano mit "Os Mutantes" aufnahm, erleben wir in "A voz do morto" den Bruch mit dem Pop-Rock-Bossa-Stil des "netten" Caetano. Als ihn m September 1968 das Publikum von TV Globe ausbuht, brüllt er ihnen "É proibido proibir" entgegen: es ist verboten zu verbieten! Eine offene Herausforderung an die Militärs! Alsbald schon wird Caetano verhaftet und während seines anschließenden Hausarrestes entsteht 1969 "Caetano Veloso", ein Meisterwerk voller Melancholie und (vorweg genommenem) "Saudade", Heimweh.



Gleich zu Beginn, in dem Song "Irene", gibt er den das ganze Werk begleitenden Ton vor: "Eu quero ir minha gente, eu não sou daqui..." und fast wortgleich in "Marinheiro só": "Eu não sou daqui..."  Ebenso im Fado "Os argonautas": "Navegar é preciso, viver não é preciso". Musikalisch interessant sind auf dieser Scheibe noch "Atrás do trio elétrico", der Tango "Cambalache" geschrieben von Enrique Discépolo ("Que el mundo fué y será una porqueria, ya lo sé!") und "Alfômega" von Gilberto Gil ("Não sei nada sobre a morte..."). Und natürlich der große Hit der Platte, "Não identificado", der später in Gal Costas Version große Berühmtheit erlangen soll. Damit endet Caetanos "Bossa - Tropicalismo" Phase.



Gemeinsam mit Gilberto Gil geht er nach London ins Exil, nachdem sich die beiden mit zwei Auftritten im Theater Castro Alves von ihrer Heimat verabschiedet haben. 1972 erscheinen diese beiden Konzerte als LP unter dem Titel "Barra 69 - Caetano e Gil ao vivo". Herausragend die unglaublich traurige Version von "Superbacana" mit teilweise neuen Texten und "Cinema Olympia". Eine tolle Demo-Version wird 2002 in Caetanos Archiv entdeckt. Sie erscheint 2006 in dem Box-Set "Todo Caetano", in dem auch andere rare Titel wie die erste Single von 1965 sowie die Live-Single mit den Mutantes und "É proibido proibir" erscheinen.



Caetano erinnert sich dieser Phase seines Schaffens auf der 2011 erschienenen Live-CD "Zii e Zie - MTV ao Vivo", auf der er die Show mit "A voz do morto" eröffnet und mit "Irene" und "Não identificado", alle drei in tollen Versionen, echte Höhepunkte setzt. Bleibt nur zu sagen: Bye-bye Caetano, wir sehen uns im kühlen London.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 05/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]


© caiman.de: [impressum] / [disclaimer] / [datenschutz] / [kontakt]