ed 01/2012 : caiman.de

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spanien: Gipfelsturm über dem Abgrund
Chronik eines unfreiwillig riskanten Aufstiegs zum Roque Nublo
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


bolivien: Zu Besuch im TIPNIS-Park - Teil 2
Zwischen Coca und peruanischen Schwestern
THOMAS MILZ
[art. 2]
spanien: Kataloniens Schönste 2050
Aber nicht bei Regen
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER
[art. 3]
peru: Vogelbeobachtung - Teil 1
Kurztagebuch 05.06.2011 - 24.06.2011
WOLFGANG NEHLS
[art. 4]
helden brasiliens: Adeus Dr. Socrates - Zum Tod eines Fußballhelden
THOMAS MILZ
[kol. 1]
grenzfall: Mach’s nur einmal - Macchu Picchu
ANDREAS DAUERER
[kol. 2]
pancho: Carne Mechada im Rhythmus der Straßenbauer
Knecht Ruprecht hat das Nachsehen und s' Christkind kürzt ab
DIRK KLAIBER
[kol. 3]
lauschrausch: Addys Mercedes
TORSTEN EßER
[kol. 4]




[art_1] Spanien: Gipfelsturm über dem Abgrund
Chronik eines unfreiwillig riskanten Aufstiegs zum Roque Nublo
 
Der Roque Nublo krönt den zweithöchsten Gipfel (1811 Meter) der Insel Gran Canaria und ist das spektakulärste Einzelmonument der bizarren Felsenformation, die vom Philosophen Miguel de Unamuno der "versteinerte Sturm" genannt wurde. Nachdem ich erstmals ein Foto dieses Felsenturms gesehen hatte, der mit 80 Metern immerhin halb so hoch ist wie der Kölner Dom, stand für mich fest, dass ich ihn persönlich entdecken und dass dies der Höhepunkt meines Urlaubs auf Gran Canaria sein musste.

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Das Ziel war also klar, der Weg dorthin dagegen gar nicht. In drei verschiedenen Tourismus-Büros der Insel fragte ich nach Wanderkarten von der Gipfelregion – überall hieß es, sie seien "momentan vergriffen" (fraglich ist, ob sie je existiert haben). Auf meine Frage, wie man denn als Bergwanderer am besten zum Roque Nublo käme, erhielt ich drei verschiedene Antworten – alle interessant, aber keine von ihnen zutreffend. Die beste Antwort war, man könne eigentlich nur mit dem Auto "nah ran fahren und dann Fotos machen", alles andere sei zu "mühsam". Allerdings weckten diese entmutigenden Nachforschungen meinen humboldtschen Ehrgeiz. Jetzt erst recht!

Da ich mir aus ökologischen Gründen keinen Mietwagen nehmen wollte (ich wäre darin aber auch bei den Serpentinen nicht weit gekommen; spätestens nach der dritten Nadelöhrkurve mit energisch hupendem LKW auf Konfrontationskurs wäre mir schwindelig geworden), musste ich zuerst die Busfahrpläne studieren. Die Linienbusse, die auch weite Strecken bedienen, sind atlantikblau und gehören einem Unternehmen mit dem anspruchsvollen Namen "Global" – sie fahren nur nicht allzu oft. Man muss schon den einzigen frühen Bus der Linie 18 nehmen, der täglich um 8.00 morgens vom Leuchtturm in Maspalomas aufbricht (ca. 8.10 von San Fernando bei Playa del Inglés) und Richtung Tejeda / San Mateo ins gebirgige Inselzentrum fährt (ca. 50 Kilometer). Nur dann hat man ausreichend Zeit; denn bereits um 16.00 fährt der letzte Bus zurück gen Süden.

Um Punkt 8.00 stand ich also an der Bushaltestelle der Avenida de Tirajana, kurz hinter der Kreuzung, die auch heute noch – das war schon ein Schock! – "Viuda de Franco" heißt. Es war noch dunkel auf dem Weg hierhin und ich begegnete den letzten Disco-Heimkehrern. Also eines ist klar: man sollte schon einigermaßen ausgeschlafen an die Eroberung des Roque Nublo heran gehen. Deshalb, Jungs und Mädels, einmal  in 14 Tagen Urlaub schon um Mitternacht ins Bett gehen, statt im "Cita", "Yumbo" oder "Kasbah" bis Sonnenaufgang abzuzappeln. Denn der Aufstieg zum Roque Nublo lohnt sich (auch wenn man definitiv einen anderen Weg als ich dafür einschlagen sollte…)

Den blauen Bus von Global bevölkerten eine kleine Gruppe geschwätziger englischer Touristen und ein paar müde einheimische Barkeeper, die nach einer harten Nacht zurück in ihr Bergdorf fuhren. Die aufgehende Sonne warf lange Schatten.

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Während sich der Bus mühsam die Serpentinen hinauf schraubte, lagen die Täler der Schluchten noch im Dunkel. Erst als wir um 9.00 die erste nennenswerte Ortschaft, San Bartolomé de Tirajana, passierten, war es der Sonne gelungen, die ganze Insel zu erobern; als der Bus abrupt zwischen Felsen außerhalb jeglicher Ortschaft anhielt und der Busfahrer ausstieg. Ein anderer Fahrgast erklärte mir, dass es hier einen "Buswechsel"  gäbe: wir würden in einen anderen blauen Bus umsteigen. Bevor es weiter gehen sollte, genehmigten sich der "alte" und "neue" Busfahrer allerdings noch einen Kaffee (hoffentlich) in einer Bar mit dem schönen Namen "Las Candelillas" (die Nachtlaternchen).

Während die beiden mit der Wirtin von "Las Candelillas" die neuesten Inselgerüchte debattieren, betrachte ich den bizarren, fast dreieckigen Schatten, den der mächtige Fels gegenüber auf die Steilwand wirft. Und ich friere, denn hier auf über tausend Meter Höhe weht ein unangenehmer Wind. Gerade als ich mich auch mit einem Kaffee aufwärmen will, erscheint unser neuer Busfahrer erschreckend munter und drängt zum Aufbruch. Eine Viertelstunde später, etwa 9.30, erreichen wir das Dorf Ayacata. Hier muss ich meiner Landkarte zufolge aussteigen, es ist die Bushaltestelle, die dem Roque Nublo am nächsten liegt. Ich folge dem Landsträßchen mit der stolzen Nummer GC-600 ein paar Kilometer Richtung Nordosten. Auf der Landkarte hat es spektakuläre Kurven.

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Nachdem ich zwei Kilometer Kurven bergauf gegangen und außer einer Ziegenherde niemandem begegnet bin, sagt mir ein Blick auf die Karte ziemlich sicher, in genau der Kurvenschleife zu stehen, die dem Gipfel des Roque Nublo am nächsten liegt. Eigentlich müsste er sich direkt hinter diesem steilen Berghang befinden. Der Augenblick der Entscheidung. Kurz entschlossen lasse ich Straße und Zivilisation hinter mir und beginne ungeduldig mit dem Aufstieg quer durch Kakteengewächse und Gestrüpp. Einen Pfad kann ich nirgends erkennen. Aber am Anfang wirkt alles einfach und der Hang auch nicht besonders steil. Doch dann ändert sich der Untergrund. Statt harter Erde habe ich lockeres Steingeröll unter den Schuhen, so dass ich immer wieder ausrutsche. Drei Meter vor, zwei Meter zurück.

Zwar haben meine Schuhe ordentliche Profilsohlen, doch in diesem staubtrockenen Geröll können sie wenig ausrichten. Es fühlt sich an, als ob ich über eine Pyramide von Murmeln laufen würde, die unter meinen Füßen als winzige Lawine zu Tal rollt. Immer wieder greife ich im letzten Moment in ein Gestrüpp, um nicht abzustürzen – und oft bricht ein Ast davon ab wie ein Strohhalm und ich rolle unsanft einige Meter hinunter. Sehr frustrierend diese Form des Aufstiegs, zumal ich von Dornengestrüpp umgeben bin und jeder Rettungsgriff sehr schmerzhaft wird.

Schon sind meine Hände und Arme mit blutigen Striemen übersät. Kurz, ganz kurz, denke ich daran, aufzugeben und wieder hinab zu steigen. Aber hätte Humboldt aufgegeben bei der Besteigung des Chimborazo oder des Teide? Niemals! Also weiter bergauf!

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Der schöne Spruch, man wächst an seinen Herausforderungen mag ja stimmen, doch hier wächst jetzt über mir vor allem die Herausforderung und türmt sich himmelhoch auf. Dieser Bergrücken, der von unten so nah schien, scheint immer höher zu werden. Die Wolfsmilchgewächse und das Dornengestrüpp, von unten nur als dekorativer Bergbewuchs zu erkennen, sind plötzlich mehr als mannshoch und immer dichter und undurchdringlicher, ein staubtrockener Dschungel. Der unsichere Untergrund bleibt also nicht das einzige Hindernis, ich muss mich an vielen Stellen  - ohne Machete – durch unzählige Dornenzweige kämpfen, während meine Beine nach Halt suchen. Oft benutze ich meinen Rucksack wie einen Rammbock und halte ihn schützend vor mich beim Aufstieg durch dieses Dornen-Labyrinth. Trotzdem tropft bald Blut von den Schrammen an Armen und Beinen. Die Rinnsale von Blut vermischen sich mit Strömen von Schweiß und Schmerzen so noch mehr.  Wäre Humboldt wenigstens stolz auf mich? Ich will es hoffen. Doch wofür mache ich das eigentlich? Jetzt habe ich einen Moment nicht aufgepasst und bin ausgerutscht, einen abgebrochenen Dornenzweig in der Hand.  Mein rechtes Knie blutet und ich liege zwischen Dornen im Staub. Als ich mich an einem Felsvorsprung hoch ziehe, überkommt mich einer Welle gleich der Wunsch, diese ganze waghalsige Aktion sofort abzubrechen.

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Doch nichts ist unmöglicher als das. Ich habe schon mehr als zwei Drittel dieses Berges, von dem ich nicht mal den Namen kenne, geschafft. Ein Blick nach unten reicht, um festzustellen, dass es kein Zurück gibt. Ein Abstieg von hier wäre noch gefährlicher, als das Unternehmen zu Ende zu bringen, denn von oben kann man vor lauter Gestrüpp nicht sehen, wohin man tritt und der Abschnitt unter mir ist so steil, dass ich mich mit einem Seil sichern müsste. Mir wird schwindelig. Halb über dem Abgrund hängend, öffne ich mühsam mit einer Hand die Wasserflasche, während ich mit der anderen den Fels neben mir umklammere. In einem Zug trinke leere ich die Flasche. Da erblicke ich schräg über mir erstaunlich nah den "Sitzenden Mönch" – so nennen die Einheimischen diesen merkwürdig geformten Felsen. Er scheint sich über mich lustig zu machen. Langsam hole ich die Kamera heraus, bediene sie einhändig und drücke ab. Wenigstens noch ein letztes Foto als Beweis, dass ich es bis hierhin geschafft habe, bevor ich abstürze…

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Diese Möglichkeit erscheint mir plötzlich erschreckend real. Meine Arme zittern vor Anstrengung, ich kann mich kaum noch halten. Falls ich jetzt in den Abgrund stürze, bin ich entweder tot oder schwer verletzt und niemand in dieser steinernen Einsamkeit würde meine Schreie hören. Über mir ein Stück senkrechte Felswand. Hier komme ich nicht weiter. Ich taste mich entlang dem Felsvorsprung, habe keinen Boden mehr unter den Füßen, nur zusammen krachende Dornengerippe. Weit über eine Stunde bin ich schon unterwegs, muss jetzt wieder ein paar Dutzend Meter nach unten klettern, um eine bessere Stelle zum Aufstieg zu finden. Zu allem Überfluss kommt nun auch ein gefährlicher Wind auf. Ach, Wind, was sag ich? – Sturm! Das Ziel scheint jetzt nah zu sein, aber auf den letzten 50 Metern gibt es kaum noch Bewuchs, nur noch nackten, oft senkrechten Fels. Ich muss mich konzentrieren, Arme und Beine zittern vor Anstrengung. Da entdecke ich eine Stelle, wo der Fels weniger steil ist und beginne, auf allen Vieren, Halt suchend und in Zeitlupe wie eine Schildkröte diesen Felsen empor zu klettern. Ich zwinge mich, dabei nicht eine Sekunde nach unten in den Abgrund zu schauen. Mein Herz rast, mit letzter Kraft ziehe ich mich an einer Felsnase, die Gott sei dank nicht abbricht, nach oben, ohne sehen zu können, was sich dahinter verbirgt. Dann, nachdem ich in einer Schublade meines Gehirns schon mein Testament hinterlegt habe, bin ich tatsächlich oben. Der Hang des Grauens ist bezwungen, ich stehe auf dem Bergkamm und erlebe das Panorama wie einen rauschhaften Schock. Statt Dornen und bröckelige Felsen über mir nun plötzlich auf der anderen Seite ein Gewirr von Schluchten und ein Wolkenkranz mit blau schimmerndem Meer unter mir.

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Und jetzt sehe ich IHN. Nur ein paar Dutzend Meter entfernt erhebt sich der gelbgraue Felsenturm des Roque Nublo. Und davor – wie Pilger auf dem Weg zur Kathedrale – ein Strom von Wanderern. Wie um alles in der Welt sind die hierhin gekommen? Irritiert blicke ich nach meinem Weg durch die Wildnis auf ein ordentliches Schild, das zum Gipfel weist. Unter "Roque Nublo" hat ein begeisterter Gipfelstürmer gekritzelt: "lo mejor" (das Beste!). Langsam, wie hypnotisiert das Ziel meiner Mühsal anstarrend, stolpere ich eine schmale Felsentreppe empor.

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Von rechts erreichen zwei (natürlich deutsche) Frauen den Pfad zum Gipfel – und weisen keine Anzeichen von Anstrengung auf. Ganz offensichtlich haben sie einen weit bequemeren Weg als ich gewählt. Auf meine Frage, wohin der Pfad führt, den sie  empor kommen, antwortet die eine mit schwäbischem Akzent ganz selbstverständlich: "Zum Parkplatz!" Eine böse Ahnung steigt in mir auf: "Liegt dieser Parkplatz vielleicht an der GC-600?" – "Ja genau! Da kommen wir her", antwortet mir die Schwäbin fröhlich. Ich muss meinen Zorn herunter schlucken. Zorn über die fehlenden Wander- und unvollständigen Inselkarten, die weder diesen Parkplatz noch den bequemen Wanderweg zum Gipfel eingezeichnet haben, Wut über die ahnungslosen Angestellten der Tourismusbüros, die nur den Weg zum nächsten Strand weisen, aber diesen – offiziell ausgeschilderten! – Wanderweg nicht kennen, und natürlich auch Wut über mich selbst und meine risikofreudige Ungeduld. Andererseits, während ich mich schweißüberströmt und blutend die Felsentreppe zum Roque Nublo hinauf schleppe, keimt plötzlich auch etwas Stolz auf. Ich bin nicht einfach vom Parkplatz kommend inmitten einer Menschenmasse hoch spaziert, ich habe mir diesen Gipfel erkämpft! (Und ihn deshalb viel mehr verdient als ihr alle, würde ich am liebsten laut rufen.)

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Und dann stehe ich vor dieser Felskathedrale im Herzen von Gran Canaria und muss mit den Tränen kämpfen. Unter mir breitet sich ein grandioses Schluchten-Panorama aus, mit Terrassenfeldern und kleinen weißen Dörfern; in der Ferne rundum das Meer. Nur den Teide, den doppelt so hohen Gipfel Teneriffas, kann man heut nicht sehen, er hüllt sich wie so oft in Wolken. Über mir der majestätische Turm des Roque Nublo, den man eigentlich auf einem an vielen Stellen höchstens einen Meter breiten Felsenpfad komplett umrunden müsste. Angesichts der Sturmböen, die gerade vor mir einer erschreckt französisch fluchenden Wanderin den Strohhut fort geweht haben, verzichte ich darauf. Man sollte seinen Schutzengel an einem Tag nicht zu sehr heraus fordern – es ist schon ein Wunder, dass ich jetzt hier stehen darf, statt irgendwo in die Schlucht unterhalb des "Sitzenden Mönchs" gestürzt zu sein. Ich begnüge mich damit, durch ein Felsenfenster einen Blick auf die andere Seite zu werfen. Plötzlich bittet mich ein junger Russe, vor diesem "Fenster" ein Foto von ihm und seiner Frau zu machen. Mit leicht anerkennendem Blick auf meine Wunden fragt er mich in einer Mischung aus Spanisch und Englisch, ob ich gerade eine Runde Kickboxen absolviert hätte. "Kickboxen mit Kakteen", antworte ich und wir müssen lachen. Danach kann er sich gleich revanchieren, damit auch ich einen Bild-Beweis habe, diesen Felsentempel erreicht zu haben.

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Zum Abstieg wähle ich nun natürlich den bequemen Wanderweg. Dabei bekämpfe ich die dramatische Unterzuckerung, die sich bemerkbar macht, mit einer großzügigen Portion von Marzipan aus Tejeda, das ich während des gefährlichen Aufstiegs vergessen hatte. Am Parkplatz angekommen, betrachte ich noch ein paar Minuten die von mir so unnötig bezwungene Bergwand unter dem "Sitzenden Mönch". Das Blut auf Knien und Armen ist getrocknet und die Euphorie, den schon abgeschriebenen Gipfel doch noch erreicht zu haben, lässt Schmerzen und Schrammen vergessen.

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Auf der Fahrt zurück im blauen Bus nach Playa del Inglés nicke ich kurz ein. Als ich erwache, kann ich einen letzten Blick auf meine im Abendlicht in den Himmel ragende Eroberung werfen und als ich mich umdrehe, blicke ich in einen Sonnenuntergang im Busfenster, in dem hinter dem Symbol einer springenden Figur die Beschriftung "Notausstieg" (Salida de emergencia) nach dem m abbricht – eine leuchtende Warnung, wie nah ich heute einem Sturz in den Abgrund gekommen bin.

Text + Fotos: Berthold Volberg



Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

[druckversion ed 01/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_2] Bolivien: Zu Besuch im TIPNIS-Park - Teil 2
Zwischen Coca und peruanischen Schwestern
 
Nachdem wir den triumphalen Einmarsch der TIPNIS-Indios in La Paz miterlebt haben (Teil 1), wollen wir uns nun die Situation vor Ort angucken. Wir sind in Trinidad, einer schwül-heißen Wild-West-Stadt im bolivianischen Amazonasdschungel. Von hier wollen wir nach Santissima fliegen, dem kleinen Örtchen mitten im TIPNIS-Park. Doch als wir am frühen Morgen den Flugzeughangar betreten, um wie vereinbart in einem kleinen Viersitzer Platz zu nehmen, winkt der Pilot nur ab. Am Vortag haben sich die Armee und kolumbianische Drogenhändler ein blutiges Feuergefecht dort geliefert. Jetzt will niemand den Flug wagen.

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Wir reisen stattdessen nach Santa Cruz de la Sierra weiter. Von hier aus soll es ebenfalls Flüge nach TIPNIS geben. Tatsächlich finden wir einen erfahrenen Piloten, der das Abenteuer wagt. Beim Einstieg in seine kleine Cessna werden wir vom Militär gefilzt. Immerhin, so sagt man uns, seien wir auf dem Weg in Boliviens Kokain-Region. Hoch in der Luft berichtet uns der Pilot über seine 25 Jahre Flugerfahrungen im bolivianischen Tiefland, darüber, dass es keine Radarüberwachung der gesamten Region gebe, dass letztlich niemand wisse, woher und wohin die Flugzeuge hier unterwegs seien. Ein Paradies also für Drogenhändler.

Als wir nach gut einer Stunde Flug in Santissima ankommen, werden wir bereits erwartet. Schon als das kleine Flugzeug sanft auf der Graspiste von Santíssima aufsetzt, sehen wir die Menschentraube. Die fünf Schwestern des peruanischen Ordens "Jesus, Verbo y Victima" haben gut 50 Kinder aus der Schule des Urwalddorfes mit an die Landebahn gebracht. Freudiges Winken und Händeschütteln; dann klettern die Kinder neugierig auf den Tragflächen der Cessna herum.

Wir haben es nach TIPNIS geschafft, Boliviens letztem Urwaldparadies, dessen Schutz sich derzeit so viele Menschen auf ihre Fahnen geschrieben haben. Sieben Bewohner aus Santíssima haben an dem Marsch nach La Paz teilgenommen, der Präsident Evo Morales dazu gezwungen hat, den Bau einer Fernstraße mitten durch den Park zu stoppen. Zurück sind die Helden noch nicht. Heute oder morgen wollen sie aus La Paz aufbrechen. Ihre Frauen und Kinder erwarten sie bereits sehnsüchtig.

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Seit 2001 leben die Schwestern in Santíssima, von wo aus sie per Kanu und Allradwagen das riesige Gebiet seelsorgerisch betreuen. Jetzt kurz vor der Regenzeit mussten sie das Allradfahrzeug nach Cochabamba bringen. Hier nützt es ihnen nichts mehr, steigt doch der Wasserpegel derart hoch, dass das Dorf zu einem Eiland inmitten eines riesigen Sees wird, aus dem nur noch die Baumkronen herausragen.

Nur wenige Meter von der Dorfkirche entfernt verläuft eine schmale Erdstraße durch die Ansiedlung. Gut ein Drittel des Naturparks wird von ihr durchzogen. Links und Rechts haben sich bereits "colonos" angesiedelt, darunter viele Hochlandindios, die in den 70er und 80er Jahren hierher gekommen sind. Vor ihren Häusern trocknen auf riesigen Plastikplanen Berge von Cocablättern. Wir wollen mit den Bewohnern reden, doch die Schwestern raten uns davon ab. Der Streit um die Fernstraße hat auch das Dorf gespalten.

Nach den Plänen der Regierung sollte die durch das Dorf führende Erdstraße zu einer breiten Autobahn ausgebaut werden, die TIPNIS in der Mitte durchquert und die an den beiden Endpunkten liegenden Städte San Ignacio de Moxos und Villa Tunari miteinander verbindet. Die Hochlandindios, die als "Cocaleros", als Cocabauern, ihren Lebensunterhalt verdienen, wollen die Straße. Die Gegner des Projektes befürchten, dass demnächst noch mehr Cocaleros hier siedeln werden, sollte die Straße den derzeit unzugänglichen Teil von TIPNIS ebenfalls erschließen.

Die Schwestern erzählen uns von den dort lebenden Indios, die bisher von der modernen Welt nahezu unberührt leben. Oftmals sind sie fünf oder sechs Stunden mit dem Kanu unterwegs, um die entlegenen Dörfer zu erreichen, in denen sie Katecheten ausbilden. Unterstützt werden sie dabei von Adveniat. Sie wissen, dass die Straße auch Vorteile hätte, die Versorgung von Kranken erleichtern und die Preise für Lebensmittel und Gebrauchsgüter senken würde. Doch die Nachteile überwiegen, meinen sie. Leichte Zugänge bringen viel Übel mit sich.

Am Nachmittag, als wir wieder Richtung Santa Cruz de la Sierra zurück fliegen, sehen wir, was sie meinen.

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Über dem Urwald liegt dichter Rauch, die bis hier hoch in das Innere des Flugzeugs dringt. Der Urwald wird abgebrannt, um Platz für neue Felder zu machen. Cocafelder meist, denn das hier ist das ideale Terrain für die Cocapflanze. Zum Verzehr eignen sich die hier angepflanzten Blätter jedoch nicht, da sie zu bitter sind. Einzig für die Produktion von Kokain. Zurück in der Zivilisation erfahren wir, dass Präsident Morales den Park soeben für "unantastbar" erklärt hat. Ob das die Rettung für TIPNIS bedeutet? Wir können es nur hoffen.

Text + Fotos : Thomas Milz

[druckversion ed 01/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]






[art_3] Spanien: Kataloniens Schönste 2050
Aber nicht bei Regen
 
Hat das geregnet! Während in der Heimat der November zum Sommer erklärt wurde, versank Katalonien im Regen. Es gab Tage, da blieben sogar die Schulen geschlossen. Da waren Straßen, ja auch die Schnellstraßen, etwa die NII, die wichtige Nord-Süd-Verbindung, einfach überflutet und somit gesperrt.



Unser Dorf will schöner werden
Es tut sich nach morbidem Stillstand Großes in Villavieja. 1998 habe wir im Ayuntament ein Modell gesichtet, wonach das Kernstück des alten Dorfes nahe Figueras mit Sozialwohnungen zugeplastert werden sollte. Damals waren wir entsetzt, wurden aber sogleich beruhigt: Das dauert noch Ewigkeiten. Im übrigen standen auch noch Häuser und wohnten Menschen und Tiere dort, wo das ehrgeizige Projekt realisiert werden sollte. Und eine wunderschöne alte Buche, in deren Schatten schon vor 60 Jahren die Gemüsefrau nach Schulende auf Abholung durch ihr Eltern wartete und 2004 die wohl schönste aller jemals gefeierten Hochzeiten stattfand.

Feldforschung
Wir waren zwei Jahre nicht mehr hier und so hatten wir den Beginn der Bauarbeiten glatt verpasst. Dann fuhren im Frühjahr Freunde nach Villavieja und berichteten mit leichtem Entsetzen von dem, was da entstehen würde. Sie schickten Fotos und wir erfuhren, dass das Projekt bis Ende 2011 abgeschlossen sein sollte. Das Ausmaß war bei weitem nicht so gewaltig, wie noch vom Modell der ersten Stunde dargestellt. Die Häuser, Menschen und Tiere waren geblieben. Und lediglich Spielplatz und Parkplatz, auf dem alle zwei Jahre der kleine Zirkus gastierte, hatten weichen müssen.

Kurz vor dem großen Regen im Oktober trafen wir ein und waren baff, mit welchem Ehrgeiz und Arbeitseifer zu Werke gegangen wurde am Großbauprojekt Vilaviejas. Entstanden waren sechs schmale Reihenhäuser und denen gegenüber ein gewaltiges Gebäude mit acht Wohnungen. Verkauft wurden die Wohneinheiten zunächst ausschließlich an junge Menschen aus der Gemeinde, deren Abwanderung man so verhindern möchte. Mit Erfolg, denn nur zwei der Wohnungen fanden keine jugendlichen Abnehmer und gingen an ältere Einwohner. Idee ist es, der kompletten Überalterung Vielaviejas entgegenzuwirken. Und so beschlossen die Entscheidungsträger rund um den Bürgermeister gleich noch weitere Verjüngungen: die Straßen werden erneuert und zweifarbig gepflastert. In gleichem Zuge wird das Gewusel aus schwarzen Kabeln unter der Erde verschwinden und eine Gasleitung verlegt.



Das Gebäude mit den Wohnungen ist nun tatsächlich eher ein architektonischer Fehlgriff, der sich so gar nicht ins Dorfbild einordnen lassen möchte. Die Reihenhausanlage hingegen ist zwar nicht hübsch, aber unauffällig. Immerhin jedoch passiert was in Richtung Kataloniens Schönste im Jahr 2050. Denn auch die Alteingesessenen hat der Verschönerungstrieb gepackt und so wurde nach zig Jahrzehnten zum ersten Mal wieder fleißig das heruntergekommen anmutende Grau geweißelt oder farbig aufgefrischt.
 
Als wir anreisten, war bereits das halbe Dorf gepflastert und die Straße, die zwischen den beiden neuen Gebäudekomplexen verläuft, gerade aufgerissen worden um erste Rohre zu verlegen. Und dann kam der Regen. Die neue Straße links von unserem und die vor unserem Domizil verwandelten sich in Bäche und die Baustelle lief voll. In den folgenden drei Wochen hatten die Bauarbeiter, Architekten, Bauleiter und Stadtverantwortlichen mit den nassen Umständen zu kämpfen. Immer neue Rohre wanderten unter Erde oder wurden ausgetauscht, die Straße mal aufgerissen, mal zugeschüttet. Nun scheint es, als ob die momentane Trockenphase wieder Friede für die Straße hat einkehren lassen, in der Hoffung alsbald gepflastert zu werden. Der Zeitpunkt der Schlüsselübergabe für die Käufer der Häuser und Wohnungen hat sich um zwei Monate verschoben auf Ende Februar. Was aber sind zwei Monate im Kampf gegen das Altern?



Er lahmt, der Regen
Zum Ende "der Regenzeit" fuhren wir Einkaufen in einen der größten Supermärkte Figueras, an der Schnellstraße auf dem Weg nach Rosas gelegen. Da es wieder schüttete als wir den Einkauf beendet hatten, wollten wir den Wolkenbruch abwarten und bestellten Kaffee. Kaum genippt, herrschte Aufregung. Der Fluss bzw. Bach Manol war über die Schnellstraße auf den Parkplatz vorgedrungen. Die Ausfahrt war schon nicht mehr passierbar und wir wurden aufgefordert, uns umgehend auf den Heimweg zu machen. Eine halbe Stunde später bahnte sich der Manol seinen Weg in den Supermarkt. Die Rückfahrt glich einem Spießrutenlauf, da sämtliche Straßen gesperrt waren inkl. erwähnter NII. Man war das aufregend.

Fazit der Feldforschung
Was uns persönlich getroffen hat und weshalb Vilavieja den Titel des Katalanischen Musterdorfes 2050 nicht erhalten wird, ist die Ermordung der alten Buche. An ihrer Stelle thront nun eine Batterie von Müllschluckern. Die Gemüsefrau hat Tränen vergossen und einen leichten Fluch in Richtung Dorfverwaltung geschickt. Ansonsten bleibt nur abzuwarten!

Text + Fotos: Maria Josefa Hausmeister

[druckversion ed 01/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_4] Peru: Vogelbeobachtung (Teil 1)
Kurztagebuch 05.06.2011 – 24.06.2011
 
04. Juni:
Frühmorgens fährt Wulf mich zum Hamburger Flughafen. Um 08.50 Uhr soll die Maschine (eine Fokker 70 der KLM) nach Amsterdam gehen, wo sie um 09.35 landet. Nach dem Umsteigen hebt die B 777-300 der KLM um 13.02 Uhr ab und landet nach einer Flugstrecke von 10.650 km noch am selben Abend um 17.51 Uhr Ortszeit (- 7 Stunden Zeitverschiebung, nach MESZ ist es bereits 00.51 Uhr) in Lima, wo mich nach dem Empfang des Koffers ein bestelltes Taxi und sein Fahrer Pedro erwarten und ins Hotel "The Place Hostal of Miraflores" in Lima-Miraflores bringen, wo ich zwischen 19.00 und 20.00 Uhr einchecke und für den nächsten Tag ein "verfrühtes" Frühstück für zwei Personen bestelle.

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05. Juni:
Von fast 0 m NN auf 3400 m in Cuzco, dann ca. 3100 m NN. Bedeckt in Lima, in Cuzco heiter, schwach windig und wie in Lima tagsüber 20° C. Sehr früh klopft Joe (der gegen Mitternacht aus Caracas eingetroffen ist) an meine Tür und nach dem kleinen Frühstück geht es per Taxi zum Flughafen, denn bereits um 08.20 Uhr ist Abflugzeit nach Cuzco. Nach gut einstündigem Flug mit beeindruckendem Blick über die Hochanden landen wir in der auf ca. 3400 m NN gelegenen "Großstadt". Nach dem Einchecken im Hotel "Hospedaje San Blas" in der malerischen Altstadt geht es mit einem Fahrer zur Laguna Huaracapay, einem größeren See mit sumpfigen Ufern und Schilfflächen östlich von Cuzco auf ca. 3100 m NN. Die Rundfahrt um den See mit vielen Vogel-Beobachtungen wird bis zum späten Nachmittag ausgedehnt. Anschließend Rückfahrt nach Cuzco und Übernachtung im Hotel (wegen der ungewohnten Höhe kann ich schlecht schlafen).

06. Juni:
Von 3400 auf 3100 m und wieder 3400 m NN. Heiter, kein Wind, nachts Bodenfrost (Reif), tags bis ca. 20° C. Nach dem Frühstück (wie an fast allen Tagen um 6.00 Uhr) holen uns der Orniguide Virgilio und der Fahrer Justo (Besitzer des Vans) am Hotel ab. Bis zum 16. Juni werden die beiden Mestizen nun unsere ständigen Begleiter sein. Virgilio ist ein erfahrener Ornithologe mit ausgezeichneter Arten- und Stimmenkenntnis und auch Justo beobachtet oft mit.

Es geht an diesem Tag nochmals zur Laguna Huaracapay und dem nahen Ort Lucre, wo es eine große Anzahl an Vogelarten zu beobachtet gibt. Übernachtung wieder im Hotel. Die Altstadt von Cuzco wimmelt nur so von Touristen. Das Laufen in den schmalen und oft steilen Gassen fällt in der dünnen Höhenluft schwer.

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07. Juni:
Von Cuzco bis auf ca. 4000 m (Pass) und dann bis 1600 m NN. Heiter bis wolkig / bedeckt mit Wolkennebel nachmittags in hohen Lagen und wechselnden Temperaturen, kaum Wind. Nach dem Frühstück und nachdem wir gepackt haben, holen uns Virgilio und Justo vom Hotel ab. Vor uns liegt eine lange Fahrt mit etlichen Beobachtungsstopps von Cuzco über die Anden bis an deren Osthang zur "Cock-of-the-Rock Lodge" auf ca. 1600 m NN im Bergregenwald. Die anfänglich brauchbare Straße führt bald nur noch als teilweise abenteuerliche Piste – die sogenannte "Manu-Road" – in ständigen Serpentinen weiter. Die häufig entgegen kommenden großen Holztrucks zwingen immer wieder zu gefährlichen Ausweichmanövern und Rückwärtsfahren an den steil abfallenden Pistenrand (natürlich ohne Leitplanken). Während der Fahrt werden die unterschiedlichsten Vegetationszonen bis hinauf zur Punaregion auf ca. 4000 Meter (Pass mit See) und die obere Nebelwaldzone durchquert. Erstaunlich, dass auf über 3500 Meter noch Ackerbau (Gerste, Hafer, Mais, Kartoffeln u. a.) betrieben wird. Die Bevölkerung der Dörfer besteht fast ausschließlich aus Indianern und häufig sieht man Frauen in ihren bunten traditionellen Trachten und Hüten.

Erst in der Dunkelheit erreichen wir die aus etwa zehn Bungalows bestehende Lodge und richten uns kurz ein. Das Abendessen und das Listeschreiben finden bei Kerzenlicht im Restaurant statt (Strom gibt es hier nicht).

08. Juni:
Höhe zwischen 1600 und 2000 m NN, heiter bis wolkig und maximal ca. 20° C. In der Morgendämmerung kurze Exkursion zu Fuß auf dem Lodgegelände, dann Frühstück. Im offenen Restaurant warten Kapuzineraffen auf Gelegenheiten zum Mundraub. Wir sind die einzigen Gäste in dieser Vorsaison. Anschließend Exkursion per Auto die Piste aufwärts bis auf ca. 2000 Meter im Bergregenwald. Mittags geht’s zurück zur Lodge und anschließend zu einem gut besetzten Balzplatz von Andenfelsenhähnen nahe der Lodge. Danach wieder Beobachtungen an der Piste. Übernachtung in der Lodge.

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09. Juni:
Höhen zwischen 2000 und 1300 m NN. Heiter bis wolkig, abends Regen, feuchtwarm und bis ca. 25° C. Nach dem Frühstück geht die Exkursionsfahrt auf der Piste wieder im Bergregenwald aufwärts bis ca. 2000 Meter. Dort müssen wir umkehren, da ein frischer Erdrutsch (nächtlicher Regen) die Piste versperrt. Zum Glück ist das nicht bereits vorgestern passiert, als wir diese Stelle auf dem Weg zur Lodge passieren mussten. Nach dem Mittag in der Lodge fahren wir die Piste abwärts bis auf etwa 1300 Meter. Neben anderen interessanten Arten konnten hier der einzige Amazonian Umbrellabird (Kurzlappen-Schirmvogel) und die einzigen zwei Soldatenaras der gesamten Tour beobachtet werden. Es folgten Abendessen, Listeschreiben und Übernachtung in der Lodge.

10. Juni:
Höhen 1600 bis 500 m NN. Wolkig bis bedeckt, nachmittags Gewitterschauer, abends noch 24° C in der Lodge. Nach dem Frühstück packen wir und fahren weiter bergab zur "Amazonia Lodge". Wieder nimmt die Fahrt auf der streckenweise schlechten Piste (das Fahrzeug – es ist kein Jeep – kommt manchmal noch gerade so durch) viel Zeit in Anspruch. Am Vormittag verschwinden dann langsam die Hochanden hinter uns und wir haben das Amazonasbecken erreicht. Es wird heiß, da wir uns dem Tiefland nähern. Die Lodge liegt auf nur noch 500 Meter NN. Doch im letzten Dorf Atalaya (von Cuzco bis hier sind es 280 Kilometer) muss Justo mit dem Auto zurück bleiben und wir besteigen mit unserem Gepäck ein Boot. Nach einer knapp zwanzigminütigen Fahrt flussabwärts auf dem schnell fließenden Rio Madre de Dios landen wir am anderen Ufer und müssen über ein angelegtes Brett auf das Schotterufer hinüber balancieren. Von hier geht’s auf einem Trail zur ziemlich großzügig angelegten Lodge, zu der ein großes Waldgelände gehört. Unser Guide Virgilio stammt von hier, einer ehemaligen Orangenplantage. Nach dem Empfang und der Zimmerzuweisung lassen sich in einer langen blühenden Hecke direkt vor der Veranda verschiedene Kolibriarten aus nächster Nähe beobachten.

Nachmittags geht es auf eine erste Erkundungstour in der Umgebung der Lodge und es ist deutlich zu spüren, dass wir hier unseren klimatisch unangenehmsten Reiseort mit dem typischen feuchtheißen Tieflandregenwald-Klima erreicht haben. Hinzu kommt, dass wir wegen der Chiggers, von denen wir uns gestern bereits einige eingefangen haben, ab jetzt nur noch in Gummistiefeln laufen können.

Abendessen und Listeschreiben bei elektrischem Licht (Strom über Wasserkraft). Spät abends in der Dunkelheit Eulenbeobachtung. Übernachtung in der Lodge.

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11. Juni:
Höhen 500 – 700 m NN. Wolkig bis heiter, Wind anfangs 3-4 Bft, dann nur noch schwach, morgens kühl, später bis 30° C. Nach dem Frühstück führt die Exkursion auf den auf einem Hügel gelegenen "Tower", einer etwa 30 Meter hohen und leicht schwankenden Metallkonstruktion. Leider ist der Wind ziemlich stark, so dass sich in den Baumkronen kaum Vögel blicken lassen. Sehr schön können wir dennoch einen balzenden Golden-collared Toucanet (Reinwardtarassari) beobachten. Faszinierend ist auch der Ausblick auf den etwa 200 Meter unter uns dahin fließenden Rio Madre de Dios. Nach dem Lunch in der Lodge begeben wir uns am Nachmittag auf die Trails im Wald. Abendessen und Übernachtung in der Lodge.

12. Juni:
Höhe etwa 500 m. Heiter, kein Wind (im Wald) und bis 29° C. In aller Frühe wird gefrühstückt und kurz vor Sonnenaufgang geht es per Boot durch die beeindruckende Landschaft flussabwärts zu einer Papageienleckstelle am Steilufer des Rio Madre de Dios. Hier warten bereits einige andere Touristen. Mehrere größere Trupps von Papageien verschiedener Arten fliegen herum, gehen aber aus uns unbekannten Gründen nicht in die Wand.

Schließlich brechen wir ab, fahren mit dem Boot ein Stück weiter und wandern zu einem kleinen Gewässer (wohl ein sogenannter Oxbow), auf dem Flöße bereit liegen und auch ein kleiner Beobachtungsturm errichtet wurde. Neben anderen Arten können hier mehrere Rothalsrallen verhört werden (einmal nach dem Anlocken nur zwei Meter neben uns), nur Joe sah eine auffliegende. Zum Lunch geht es mit dem Boot zurück zur Lodge, wo jetzt eine gemischte Touristengruppe (meistens aus den USA und Kanada) eintrifft. Bisher waren wir die einzigen Gäste.

Nachmittags wird wieder in verschiedenen Habitaten in der Umgebung der Lodge exkursiert. Nach dem Verhören von zwei Eulenarten in der Dunkelheit folgt die Übernachtung in der Lodge.

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13. Juni:
Höhe ca. 500 m NN. Kaum Wind, heiter, nachmittags wolkig und bis ca. 30° C. Der letzte Tag im Tiefland des Amazonasbeckens. Wir verbringen ihn auf der Suche nach bestimmten Vogelarten auf den Trails im Wald und am Fluss. Ein Trail ist durch einen umgestürzten Baum versperrt und erst am Nachmittag kann Virgilio uns mit der Machete ein Durchkommen ermöglichen. Nach dem Dinner und Listeschreiben wird schon mal gepackt, denn Morgen steht uns ein langer Fahrtag bevor – lang weniger wegen der Kilometer (es sind gut 300), sondern der teils schwierigen Pistenstrecke. Endlich können auch die lästigen Gummistiefel im Koffer verschwinden, denn im Hochgebirge und später an der Küste gibt es keine Chiggers.

14. Juni:
Höhen 500m bis fast 4000 m. Morgens bedeckt, dann wolkig, Schauer, schwacher Wind, nachmittags wolkig und ± 20° C. Gleich nach dem Frühstück wird das Gepäck zum Flussufer gebracht und aufs Boot verladen, wir folgen über das bekannte Brett nach. In Atalaya erwartet uns bereits Justo mit dem Auto – einladen und ab. Nachts hat es geregnet, so ist die Piste zwar an einigen Stellen überschwemmt, aber entgegen kommende Autos erzeugen keinen Staub.

Für Beobachtungsstopps bleibt die Zeit begrenzt, aber einige werden trotzdem eingelegt (das muss sein!). Wir essen aus den Lunchpaketen und erreichen schließlich auch wieder feste Straßen. Über Cuzco brauchen wir nicht wieder zu fahren, sondern biegen vorher über Pisaq ab. Endlich in Urubamba (2900 Meter NN) angekommen, checken wir in dem kleinen, aber komfortablen und gediegenem Hotel "Hosteria Illarimuy" ein. Dinner, Listeschreiben, Joe nutzt den Zugang zum Internet, und Übernachtung.

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15. Juni:
Höhen 2900 – ca. 4500 m (über dem Pass). Wolkig bis teilweise bedeckt, Schauer (nachmittags), Wind um 3 Bft, oben um 0° C (Reif) im Schatten, sonst bis fast 20° C. Frühstück und Abfahrt in die Hochanden. Hier in der Touristenregion (Machu Picchu und andere historische Ziele) sind die Straßen asphaltiert und gut. Nach längerer Serpentinenfahrt erreichen wir den Pass Abra Malaga auf 4360 Meter NN. Herrlicher Ausblick über den Wolken und auf die schneebedeckten Berggipfel, die in dieser Region zwischen 5500 und 6000 Meter Höhe erreichen.

Um einen kleinen Polylepis-Wald mit speziellen Vogelarten zu erreichen, muss ein Kamm über dem Pass überwunden und danach ein Tal erreicht werden. Mir ist das in der dünnen Luft zu strapaziös und so laufen Virgilio und Joe (es sind ja junge trainierte Männer) allein los. Doch schließlich steige ich doch noch schnaufend langsam hinterher, kann sie aber auf dem Kamm in ca. 4500 Meter Höhe angekommen, unten im Tal nicht entdecken und schlage einen leicht bergab führenden Pfad ein. Dieser erweist sich jedoch als falsch und erst auf dem Rückweg treffen wir kurz vor dem Kamm wieder zusammen (ich habe dort unten allerdings nur wenig verpasst).

Hier in der Punaregion blühen viele Pflanzen, obwohl es hier auf der Südhalbkugel ja eigentlich Südherbst ist. Aber das hängt wohl mit den Regen- und Trockenzeiten zusammen. Kurz vor der anschließenden Fahrt bergab zeigt sich über dem Kamm noch wunderschön ein dahinsegelnder adulter Kondor. Nun beobachten wir während etlicher Stopps die Vögel der oberen Bergwaldregion und erreichen am späten Nachmittag wieder das Hotel in Urubamba. Infolge der vielen "neuen" Arten sind inzwischen unsere mitgebrachten je 1 Liter Whisky- und Wodkaflaschen aufgebraucht und es wird Rum nachgekauft. Dinner und Listeschreiben im Hotel, Übernachtung.

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16. Juni:
Höhen 2900 m bis 4360 m bis 3400 m NN. Wolkig bis bedeckt (nachmittags ein Schauer), schwacher Wind und "kalt". Nach dem Frühstück checken wir im Hotel aus und fahren nochmals über den Abra Malaga Pass in die Hochanden. In der Punaregion wird an sumpfigen Wasserflächen vergeblich versucht, Graukehlhöhenläufer und Punabekassinen zu finden. Nachmittags muss die Rückfahrt angetreten werden, da wir heute wieder in Cuzco übernachten müssen. Dort treffen wir kurz vor dem Dunkelwerden ein und beziehen ein Zimmer im alten Hotel. Vorher verabschieden wir uns noch von unserem Guide Virgilio und Fahrer Justo, denn die nächste Woche werden wir nur zu zweit mit einem Mietwagen unterwegs sein. Abendessen in einem Restaurant in der Altstadt.

Text: Wolfgang Nehls / (Teilnehmer Joe Klaiber und Wolfgang Nehls)
Fotos: Wolfgang Nehls / Joe Klaiber

[druckversion ed 01/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]






[kol_1] Helden Brasiliens: Adeus Dr. Socrates - Zum Tod eines Fußballhelden
 
Brasilien trauert um sein Fußballidol Socrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveira, kurz Socrates genannt. Anfang Dezember verstarb er nach langer Krankheit an einer Blutvergiftung, Folge einer durch seinen Jahre lang ungehemmten Alkoholkonsum hervorgerufenen Leberentzündung. Er wurde gerade einmal 57 Jahre alt. Dr. Socrates, der seinen akademischen Titel einem Medizinstudium in den 70er Jahren verdankte, verstarb nur wenige Stunden bevor sein heiß geliebter Klub Corinthians São Paulo brasilianischer Meister wurde.



Ihm selber, der die brasilianischen WM-Mannschaften von 1982 und 1986 als Kapitän anführte, blieben die großen nationalen und internationalen Titel verwehrt. Brasilianischer Meister wurde er nicht, auch nicht mit den Corinthians, und Weltmeister mit der brasilianischen Nationalmannschaft auch nicht. Dafür nahm er den Ballsport letztlich nicht ernst genug. Lieber engagierte er sich für Politik, wobei Zigarretten und Alkohol stets seine Begleiter waren.

Für die Brasilianer wird Socrates als der große Intellektuelle des brasilianischen Fußballs in Erinnerung bleiben, der mit seiner revolutionären Demokratiebewegung innerhalb seines Klubs Corinthinas Anfang der 80er Jahre das Ende der Militärdiktatur in dem südamerikanischen Land vorwegnahm. Die von ihm angeführte Bewegung "Democracia Corintinana" setzte Lichter in den dunklen Zeiten der Militärdiktatur. So verlangten die Spieler Mitbestimmung bei der Ansetzung von Trainingszeiten, bei der Aufstellung, Taktik und der Reiseplanung des Klubs.

Dafür lief die Mannschaft mit "Demokratie Jetzt!" Slogans auf den Trikots auf. Sie bereiteten damit das politische Spektrum für die "Diretas Ja"-Bewegung von 1984 vor, die direkte demokratische Wahlen forderte und das Ende der Militärdiktatur einleitete. Auf den Demonstrationen der "Diretas Ja" trat Socrates als Redner auf, neben den späteren Präsidenten Fernando Henrique Cardoso und Luiz Inacio Lula da Silva.

Zweimal traf ich "Magrao", den "Dünnen", wie seine Freunde und Mitspieler den 1,92 Meter großen Mittelfeldregisseur nannten. Das erste Mal im April 2006, am Tag als Meistertrainer Tele Santana starb, zu dem Socrates während ihrer gemeinsamen Jahre in der Nationalelf eine enge persönliche Beziehung aufgebaut hatte. Es war in einem Hotel in São Paulo, wo wir nach seiner offiziellen Stellungnahme zum Tode Santanas noch gut zwei Stunden beisammen saßen und über den brasilianischen und internationalen Fußball sprachen. Intelligent war er, schüchtern auch und er wirkte oft ein wenig genervt und ungeduldig. Was natürlich auch an den Fragen gelegen haben mag.

Das zweite Mal traf ich ihn im Oktober 2007 in Ribeirao Preto, der Stadt, in der er seit seiner Kindheit lebte. Ich wollte ihn zur Vergabe der WM 2014 an Brasilien befragen, was er davon erwarte, was er zu den Mächtigen des brasilianischen Fußballs zu sagen habe. Und vieles mehr. Wann hat man schließlich schon mal die Möglichkeit, eine lebende Legende zu interviewen. Eigentlich wollte er gar keine Interviews mehr geben, sagte er mir sofort nach der Begrüßung. Er wisse nicht, welcher Teufel ihn geritten hätte, meinen Anruf zuerst einmal anzunehmen und dann auch noch für das Interview zuzusagen. Danach tranken wir in dem Lokal in der Innenstadt von Ribeirao zwei Stunden lang frisch gezapftes Bier. Immer wieder wurden wir dabei von anderen Gästen unterbrochen, die mit dem Mann in Badelatschen und kurzer Sporthose ein Foto machen wollten.

Danach lud er mich ein, mit seiner "Cachaca"-Runde weiter zu trinken, mit den Freunden für die härteren Drinks. Ich lehnte ab, er verabschiedete sich und schlenderte die Straße hinab. Danach habe ich ihn nur noch im Fernsehen gesehen, wo er zuletzt als lebende Leiche auftrat, gezeichnet von der schweren Krankheit. Mit ihm geht auch ein Stück Geschichte zuende, die des "schönen Spiels", des "Futebol Arte", und die von Brasiliens Rückkehr zur Demokratie. Gelernt haben wir (vielleicht) von ihm, dass man den Fußball und die dort errungenen Erfolge nicht ganz so ernst nehmen sollte, wie wir es heute tun. Mit seinem Einsatz als Kinderarzt und kritischer Journalist wollte er uns klar machen, dass es Wichtigeres im Leben gibt als gegen einen Ball zu treten. Aber auch nichts Schöneres, zumindest wenn man ihn so liebevoll und kunstfertig behandeln kann wie es Dr. Socrates auf dem grünen Rasen stets tat.

Text + Fotos: Thomas Milz

Zu Socrates berichtete der caiman bisher:
Der tote Held: Über den Verfall der "Kanarienvögel"
Brasilien und die WM 2014: Mal wieder Carnaval - Interview mit Sócrates
Die runde Revolution: Walter Casagrande und die "Democracia Corintiana"
Gesehen mit anderen Augen (Teil II): Wie man Fußballjournalist wird

[druckversion ed 01/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





[kol_2] Grenzfall: Mach’s nur einmal - Macchu Picchu
 
Es gibt Dinge, die sollte man einfach nur einmal im Leben erleben wollen. Weil sie eine unglaubliche Magie versprühen, die man partout nicht wiederholen kann. Tut man es dennoch, ist die Enttäuschung vorprogrammiert.

Wer nach Peru reist, kommt nicht umhin, dass er täglich an die einstige Hochkultur der Inkas erinnert wird. Zu viele Zeugnisse, Striche in der Erde und andere mehr oder weniger gut erhaltene Bauwerke sind es, mit denen man auf dem Weg von Lima in Richtung Cusco, der einstigen Hauptstadt des Inkareichs, konfrontiert wird.

Und nach Cusco muss der gemeine Tourist so unbedingt, wie der Amerikaner nach Neuschwanstein muss; auch um zu dokumentieren, dass er tatsächlich im Land gewesen ist. Kein Machu Picchu, kein wirklicher Perubesuch, ganz einfach.

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Davon kann man halten was man will, aber die Ruinen, von deren Existenz die Bauern im Umland schon immer wussten und die Hiram Bingham 1911 so medienwirksam - und damit auch für den späteren Massentourismus - neu entdeckte, sind nun einmal etwas ganz Spezielles. Besonders, weil die Stadt in ihrer Blütezeit etwa 1000 Menschen autark versorgen konnte. Besonders, weil man nie Beweise für die verschiedenen Theorien der Forschung gefunden hat, dass dort zu seiner Zeit tatsächlich ein wertvolles Heiligtum versteckt und/oder verehrt wurde. Besonders, weil man die Ruinen auf dem Bergrücken auch heute noch von unten im Urubambatal kaum ausmachen kann. Und weil die Stadt einfach nur schön ist, eingebettet in diese wunderbar friedliche Landschaft, und jedem Besucher magische Momente beschert, wenn er sie zum ersten Male vor Augen hat.

Ich war aufgeregt wie ein kleiner Junge. Das Valle Sagrado hatten wir hinter uns gebracht, sämtliche Ruinen auf dem Wege erklettert und angeschaut und uns den Höhepunkt für später aufgehoben: Machu Picchu. Jene Ruinen auf dem immer grünen Hügel, die sogar schon für eine Kaffeewerbung herhalten mussten. Die letzte Station war also Aguas Calientes, das wir von Ollantaytambo aus mit dem einheimischen Zug am Spätnachmittag erreichen wollten. Mit etwas Verhandlungsgeschick war das kein Problem und auch wenn in der letzten Siedlung vor Machu Picchu kein Tageslicht mehr herrschte, fühlte ich mich seltsam glücklich. Eine Bleibe ist immer schnell gefunden und selbst in der Unterkunft, die man getrost als Loch klassifizieren hätte können, mit klammer Bettdecke und Schimmel an der Decke, konnte ich wunderbar einschlafen. In mir wurde das Entdeckergen freigesetzt. Den Inka-Trail wollte ich nicht machen, denn man konnte ihn selbst zu meiner Zeit, so um 2002, nicht mehr alleine gehen, sondern musste sich einer geführten Tour anschließen.

Jetzt gleicht der Weg eher einer Müllhalde, ist ausgetrampelt und wenn man Pech mit der Gruppe hat, vergeht einem wahrscheinlich nicht nur der Entdeckergeist.

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Obendrein ist es auch komisch, dass man an den Ruinen selbst erst um 8 Uhr morgens ankommt, die Sonne also bereits am Himmel steht und die Touristen mit ihren Bussen immerfort eintrudeln.

Um 5 Uhr war Aufstehen angesagt. Schließlich wollten wir zu den ersten gehören, die den Sonnenaufgang oben auf den Ruinen erlebten. Eine Stunde quält man sich dann den Berg hinauf. Quälen deshalb, weil man weitgehend auf einer Treppe nach oben muss, die man extra für die Wanderer errichtet hat. Doch zu so früher Stunde wird man belohnt. Es sind nur sehr wenige Gleichgesinnte auf der Strecke, man muss nicht für das Ticket anstehen und das satte Eintrittsgeld von 25 Dollar (mit Studentenrabatt) ist einem spätestens dann egal, wenn man die ersten Schritte in Richtung Ruinen geht. Sie nehmen einem den Atem, man muss sich setzen und die Szenerie auf sich wirken lassen. Pünktlich taucht die Sonne die ersten Steine in weiches, gelbbraunes Licht und vertreibt den zarten Nebel, der sie nachts zuweilen umhüllt.

Mit jedem weiteren Strahl, der über die Mauern kriecht, zieht diese Ruinenstadt einen mehr in ihren Bann. Sie ist so friedlich und ruhig und mit einer sonderbaren Magie ausgestattet, die einem das Herz erwärmt.

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Welches Geheimnis mögen die Inkaherrscher und ihr Volk hier oben wirklich gehütet haben? Wie mögen sie gelebt haben, wie geliebt?

Erst, wenn es zu viele bunte Punkte werden, die unten auf dem Hauptplatz die grünen Flächen bevölkern, wird man aus seinen Gedanken gerissen. Höchste Zeit, sich selbst die Ruinen noch einmal genauer anzusehen und den obligatorischen Rundgang zu machen. Man riecht noch den Schweiß an den Steinen, die die Inkas ohne Rad auf über 2800 Meter hinaufgeschleppt haben, nur um diese wunderbare Stadt zu errichten, die sogar ein eigenes Wassersystem besaß. Man will nicht weg, guckt zu allen Seiten ins Tal hinab, lässt sich nieder, isst eine Kleinigkeit, die man eingepackt hat und fragt später den Wärter, ob man nicht doch für kleines Geld am Tor weiter oben, jenem Punkt, wo die Leute auf dem Inkatrail zum ersten Mal die Ruinen sehen, übernachten kann, was dieser freilich mit einem Kopfschütteln quittiert. Nachdem man dann die Summe erhöht hat und er einem recht bestimmt zu verstehen gibt, dass hier nichts zu machen ist, geht man irgendwann bei Sonnenuntergang wieder hinunter. Und in einem bleibt das wunderbare Gefühl, etwas ganz Besonderes erlebt zu haben, ohne dass das ein Außenstehender verstehen würde. Auf Fotos zu Hause schwelgt man dann ein bisschen, aber die erlebbare Erinnerung ist fest in Herz und Hirn verankert. Ein wunderbarer Zustand.

Drei Jahre später bin ich wieder da. Aguas Calientes ist einen Tick touristischer geworden, ich etwas älter, die Begleitung ist eine andere, aber der Rest ist nahezu identisch.

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Das Hotel hat noch mehr Schimmel an der Decke, die Türen schließen nicht richtig, irgendwo krabbeln noch zwei Kakerlaken über den Boden und die Bettdecke ist noch immer klamm. Aber bereits die Anreise war eine andere: Auf den einheimischen Zug in Ollantaytambo kommt man nicht mehr, allen Überredungskünsten zum Trotz. Jetzt kann man nur noch mit dem Touristenzug mitfahren, zahlt aber den gleichen Preis, als wäre man vom knapp 90 Kilometer entfernten Cusco losgefahren. In Aguas Calientes kann man noch immer nichts machen außer trinken und essen und bei den Indios ein paar Artesanías erwerben, die es auch sonst überall in Peru gibt. Ich schlafe erneut hervorragend, was diesmal jedoch vor allem auf das Bier Cusqueña zurückzuführen ist. Aber der Entdeckergeist funktioniert erneut. Um fünf möchte ich aufstehen, aber meine Begleitung ist kaum wach zu kriegen. Es dauert über eine halbe Stunde, bis sie sich überhaupt aus dem Bett herausgeschält hat und als wir erst auf der Strecke sind, bemerke ich allzu schnell, wie uns die Sonne wärmt. Zwar sind wir auf den Treppenstufen noch weitgehend allein, aber fast bei jeder Straßenüberquerung müssen wir den stinken Bussen Vorfahrt einräumen, die sich mit überwiegend grauhaarigen Touristen nach oben quälen. Am Eingang angekommen, dürfen wir dann auch erst einmal Schlange stehen, um die knapp 100 Dollar abzudrücken, um die heilige Stätte begehen zu dürfen. Überall sehe ich Funktionsklamotten, überdimensionierte Sonnenhüte und weiße Socken in Sandalen.

Als wir uns endlich den Weg auf den klassischen Panoramapunkt unterhalb des Wachhauses gebahnt haben und uns setzen, muss man nach dem saftigen Grün des Hauptplatzes schon suchen, denn die Touristen schieben sich wie eine Kolonne Ameisen vor und zurück und man hat das Gefühl, dass der ganze Berg bereits leicht schwankt.

Natürlich machen wir einen Rundgang. Oder versuchen es zumindest. Anstehen und Drängeln bei der Intihuatana-Sonnenuhr, schnelles Foto, am Haupt- und Drei-Fenster-Tempel das gleiche Bild. Auch im Königstempel samt Grab sind wir umringt von lärmenden Touristengruppen, die wild durcheinanderreden.

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Beim Tempel des Kondors habe ich längst schon meine Kamera tief in meiner Tasche vergraben. Die Lust ein paar nette Bilder für die Nachwelt zu machen, ist mir gehörig vergangen. Der einzige Lichtblick beschränkt sich darauf, vom Handwerkerviertel über die vielen Terrassen ins Urubambatal hinabzublicken. Selbst einen Aufstieg auf den berühmten Huayna Picchu erwäge ich kurz, lasse den Gedanken aber so schnell wieder fallen, wie er gekommen ist, als ich die bunte Schlange schon mit bloßem Auge erkennen kann, die sich mühevoll hinaufmüht. Alle Magie war verflogen. Und sie kam auch nicht mehr zurück, so sehr ich es auch versucht habe.

Eine kleine Pause oben am Friedhof, aber dann kamen schon im Rücken die enthusiastischen Leute des Inkatrails, die sich offenbar so viele Geschichten lauthals um die Ohren schreien mussten, dass sie sogar von einem der Wärter etwas verächtlich angesehen wurden.

Und so haben wir schon am Mittag Abschied genommen und uns von einem Bus mitnehmen lassen. Noch heute fragen wir uns, wie der kleine Indio im Inkagewand es geschafft hat, den Bus bei jeder Kurve wieder abzufangen und uns einen gewiss uralten Quechua-Gruß immer wieder aufs Neue lauthals entgegen zu schleudern.

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In jedem Falle gab’s einen Geldregen, so angetan war die Busgesellschaft von diesem kleinen Eingeborenen. Wahrscheinlich aber hat er uns nur verflucht und uns ein Nimmerwiedersehen gewünscht. Schließlich ist der Berg noch immer heilig, wenngleich er touristisch ausgeschlachtet wird und weit mehr Besucher auf den Ruinen rumturnen, als es die Wissenschafter für sinnvoll halten. Von den unzähligen geheimen Gängen unter den alten Mauern, sind viele schon eingestürzt und irgendwann werden es zu viele Menschen sein, die die Ruinen täglich besuchen wollen.

Mittlerweile zahlt man über 125 Dollar Eintritt, der Staat verdient gut daran und erwog zwischendurch sogar, ob man nicht eine Seilbahn zu den Ruinen hinaufbauen sollte. Das wäre doch sehr bequem und lukrativ.

Erst einmal ist dieses Vorhaben jedoch gestoppt worden und auch die Besucherzahlen wurden beschränkt - und es sind trotzdem noch zu viele pro Tag.

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Eines Tages wird der Berg sich wehren, da sind sich die Bewohner der Region einig. Bis es soweit ist, büßt er jeden Tag aufs Neue von seiner Magie ein. Zumindest für all diejenigen, die ihn zum zweiten Male bestiegen haben.


Text + Fotos: Andreas Dauerer

[druckversion ed 01/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]






[kol_3] Pancho: Carne Mechada im Rhythmus der Straßenbauer
Knecht Ruprecht hat das Nachsehen und s' Christkind kürzt ab
 
Phase 1: Arbeitsbeginn mit dem 1. Sonnenstrahl um 8.57 Uhr

Eifer auf der Baustelle: Hoch. Neben den beiden üblichen Straßenbauern, die uns schon die letzten acht Wochen durch den Tag begleiten, sind zur ersten Sonnenstunde auch die Offiziellen unterwegs. Zwei Betonmischer und drei Kleinbagger agieren geschäftig auf engstem Raum.

Küche: Wir übertragen die Hektik in die Küche, hacken ohne Rücksicht auf Verluste Zwiebeln, entzünden den Gasherd, platzieren auf höchster Flamme den Topf mit Olivenöl, suchen nach Kopfschüttelmusik, drehen auf, köpfen ein erstes Heiligabendgetränk, geben das Fleisch unter lautem Gezische in das siedend heiße Öl, wenden durch kreisförmiges Anreißen des Topfes, so dass die Hälfte des Öls Wand, Herd und Boden bespritzt, fügen dem Fleisch die Zwiebeln bei, reißen wieder an und löschen dann alles ab mit Fleischbrühe sowie Tomaten, frisch und aus der Dose, und roter Paprika, frisch.

Phase 2: 9.30 Uhr, Begutachten der Auswirkungen der Bauwut aus Phase 1 und beseitigen des entstandenen Chaos in der Küche.

Eifer auf der Baustelle: Gedämpft. Die Offiziellen haben Ihre Lackschuhe gereinigt und sind dem lauten, drecken Ort entflüchtet. Ein Betonmischer macht Feierabend, der zweite stellt sich auf die Frühstückspause ein. Einer der Kleinbagger bleibt in Aktion, um das rein zur Demonstration des raschen Vorankommens der Straßenbauarbeiten plattgewalzte Carrée wieder aufzureißen. Fußball dominiert das Gespräch der sich gerade formierten Morgenplausch-Grüppchen.

Küche: Wir schrubben den Boden und wischen rund um den Topf über Herd und Wand, rühren noch einmal im Topf nach der Zugabe von Salz und Pfeffer und lassen köcheln. Ein zweites Weihnachtsgetränk begleitet uns auf die Terrasse, um Handwerker zu grüßen.

Phase 3: 12.00 Uhr, Todesstille.

Eifer auf der Baustelle: Ein einsamer Hund inspiziert das Gelände.

Küche: Es köchelt. Weitere Weihnachtsgetränke, ein Mittagsschläfchen.

Phase 4: 17.00 Uhr, die Maschinen laufen wieder.

Eifer auf der Baustelle: Aufbrausend. Das letzte Licht das Tages bringt noch einmal Wind in die Konstrukteurssegel. Ein Betonmischer ist aus der Frühstückspause zurückgekehrt und der frische Zement wird umgehend von den beiden üblichen Handwerkern verarbeitet. Vier weitere begutachten das Treiben und scherzen. Zwei Kleinbagger heben Gräben aus, ein Kleinlaster jagt durchs Dorf und schafft Erde von irgendeinem Punkt A zu irgendeinem Punkt B.

Küche: Brotkaufen und abschmecken. Das Fleisch (Carne) mit zwei Gabeln zerrupfen (mechada). Weihnachtsgetränk köpfen, die Liebste knutschen.



Phase 5: 18.00 Uhr, es ist vollbracht. Das Christkind kann die Baustelle betreten, da ungesichert verlassen, und uns ohne Umweg mit Geschenken erfreuen.

Eifer auf der Baustelle: Der Hund ist zurück und hat ein Bocadillo zwischen den Zähnen.

Küche: Der Kamin ist nicht gereinigt worden und Knecht Ruprecht steckt fest. Die Gäste treffen ein und versorgen sich mit Weihnachtsgetränken zu Carne Mechada und Baguette. Geschenkeverteilung.

Text +Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 01/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: pancho]





[kol_4] Lauschrausch: Addys Mercedes
 
Musikalisch beginnt das Jahr 2012 sehr gut. Erfreulicherweise hat Addys Mercedes nichts "Anständiges" gelernt, wie es sich ihre Mutter damals in Moa, in der kubanischen Provinz Guantánamo, immer gewünscht hat. Denn dann könnten wir wahrscheinlich nicht diesen hitverdächtigen Songs lauschen, die sie auf ihrem dritten Album "Addys" präsentiert.

Addys Mercedes
Addys
medialuna

Im Song "Hollywood" hat sie die Bedenken ihrer Mutter – "el arte no da pa’ comer" - und ihre eigenen Träume, Sängerin oder Schauspielerin zu werden, rockig verarbeitet. Hier erinnert nichts an kubanische Musik, aber schon im nächsten Stück, "Alma latina", kehren Rhythmen und Instrumente der Karibikinsel zurück und vereinen sich wunderbar mit einem Rapgesang politischen Inhalts. Die Vorab-Single "Sabado roto", die einen verregneten Sommertag zum Thema hat, ist für mich das beste Mittel einen eben solchen zu überstehen, denn so fröhlich hat noch keiner über seine missglückten Pläne gesungen. Dabei erinnern Stil und Instrumentierung an den internationalen Latin Rock/Pop von Shakira (ebenso in "Gigolo").

Weitere Songs und Balladen sowie ein sehr schönes Stück im Stil der kubanischen Nueva Canción ("Dime adios") runden das wunderbare Gefühl ab, das dieses Album erzeugt und mit "Gigolo" einen potenziellen Sommerhit enthält.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 01/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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