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[kol_2] Helden Brasiliens: Die runde Revolution
Walter Casagrande und die "Democracia Corintiana"

Selten gelingt es dem Fußball, der Gesellschaft mehr als nur pure Unterhaltung und kurzweiligen Zeitvertreib zu vermitteln. Und noch seltener sind die Fälle, in denen Spieler in schweren Zeiten einen politischen Impuls geben können. In Brasilien tauchte zu Beginn der 80er Jahre, inmitten der Militärdiktatur, eine Bewegung auf, die unter dem Namen "Democracia Corintiana" bekannt wurde. Sie entsprang dem damals populärsten brasilianischen Fußballklub, den Corinthians São Paulo, einem Arbeiterklub aus den Armenvierteln im Osten São Paulos. Spieler und Funktionäre des Clubs teilten sich die Verantwortung, ließen den Autoritarismus hinter sich und stimmten über alle die Spieler betreffenden Belange demokratisch ab.

Angeführt wurde die Bewegung von drei Spielern: "Doktor" Sokrates, rechter Mittelfeldspieler und Bohemien, zudem der beste politische Querdenker des brasilianischen Fußballs, Wladimir, Linksaußen und Kommunist und Walter Casagrande, ein junger offensiver Mittelfeldspieler und Rocker. Sie bereiteten das politische Spektrum für die "Diretas Já"-Bewegung von 1984, die direkte demokratische Wahlen forderte und das Ende der Militärdiktatur einleitete.

Doch nicht nur auf der politischen Bühne war die "Democracia Corintiana" erfolgreich, auch auf dem Spielfeld, das sie mit Slogans wie "Demokratie jetzt" auf ihren Hemden betraten, eilten sie von Erfolg zu Erfolg und gewannen die São Paulo Meisterschaft 1982 und 1983.

Wir sprachen mit Walter Casagrande über die "Democracia Corintiana". Es war sein erstes Interview nach einer langen und schweren Krankheit.

"Ich kam 1975 zu den Corinthians, mit gerade einmal 12 Jahren. Ich war etwas aufmüpfig, musste mich an den Dingen reiben. Schon als Kind hatte ich einen Draht zur Politik, las sehr viel darüber, und war 100 Prozent auf Seiten der Freiheit und des Rechts, zu sagen was man will, und der Pflicht, die Meinung der anderen zu respektieren. Ich habe niemals verstanden, warum man etwas nicht sagen darf, oder dass man aufgrund seiner Meinung Repressalien zu erleiden hat.

Die Corinthians hatten damals einen Direktor mit diktatorischen Zügen, sehr ähnlich der damaligen politischen Situation des Landes. Ich war zu der Zeit gerade mal 17 Jahre alt und geriet mit diesem Direktor ständig aneinander. Das war wohl auch der Grund dafür, dass man mich an Caldense, den Club aus Poço de Caldas, auslieh. Danach wollte ich auf keinen Fall zurück zu den Corinthians. Mein Bild von denen war das einer puren Diktatur, man konnte nichts machen außer Befehlen zu gehorchen. Man besaß Pflichten, aber keine Rechte. Da habe ich mir gesagt, dass ich hier nicht bleiben möchte.

Mein Entschluss stand also fest, als ein neuer Direktor auftauchte, Adilson Monteiro Alves. Er rief mich zu sich und sagte zu mir: "Lass uns einen Prozess der Freiheit starten, damit die Spieler sowohl an den Belangen des Klubs wie Diskussionen über Neuverpflichtungen teilhaben können als auch an dem, was sich in unserem Land abspielt. Machst Du mit?" Ich fand das Ganze etwas dubios und sagte ihm deshalb: "Okay, gib mir einen Drei-Monats-Vertrag. Wenn es mir gefällt, bleibe ich, wenn nicht, haue ich ab!"

Bereits im Januar 82 begannen die Dinge sich zu entwickeln. Es entstand ein Prozess, mit dem Ziel, eine demokratische Bewegung zu initiieren, den Spielern Mitspracherecht zu gewähren. Natürlich hatten wir unsere Pflichten, aber wir hatten auch unsere Rechte, so wie sie jeder Bürger haben sollte.

Das war unser Projekt. Doch wir wollten nicht einfach nur den Fußball verändern, wir wollten etwas wichtiges für das Land tun.

Die Demokratie war zum Greifen nahe, aber diejenigen die für sie gekämpft hatten, hatten viel erleiden müssen: Folter, Inhaftierung, Exil und viele Leute verschwanden und tauchten nie wieder auf. Wir fühlten, dass die Leute müde waren, verbraucht und aufgerieben von dem langen Kampf. In diesem Augenblick war es unsere Aufgabe, der demokratischen Bewegung neues Leben einzuhauchen, Gas zu geben… Ich glaube, dass das wichtigste an der "Democracia Corintiana" genau dies war: in exakt diesem Moment aufzutauchen, als die Kämfer müde und verbraucht waren.

Die "Democracia Corintiana" zeichnete sich aus durch zwei Charakteristika: zum einen den Fußball. Wir spielten unter einem Trainer, der letztendlich die Entscheidungen traf. Es war nicht jener chaotische Haufen von Anarchisten wie viele Leute behaupteten; aber wir diskutierten, wir vetraten unsere Meinung, sowohl zur Spieltaktik als auch über die Reisekonditionen - wann wir fliegen sollten, wann wir trainieren sollten. Wir stimmten ab über Neuverpflichtungen und Trainingslager und es gab stets eine direkte Abstimmung vor den Augen aller Beteiligten.

Die Spieler stellten sich gegen geschlossene Trainingslager, denn wir hielten sie für ein Symbol der Diktatur inmitten des Fußballs. Man zwang die Spieler, sich an einem Ort einzuschließen. Deshalb haben wir die geschlossenen Trainingslager abgeschaft und nur die Junggesellen blieben über Nacht im Trainingslager. Die Verheirateten bekamen bis zum Mittag vor dem Spiel Zeit, zur Mannschaft zu stoßen, um so mehr Zeit mit ihren Familien verbringen zu können. Wir Junggesellen erhielten Ausgang bis Mitternacht. So konnten wir das diktatorische Gewicht der Trainingslager etwas verringern.

Auf der anderen Seite erfüllte die "Democracia Corintiana" eine gesellschaftliche Funkton: wir verlangten Mitbestimmung. Wladimir und ich waren von Anfang an Mitglieder der oppositionellen Arbeiterpartei PT. Wir unterstützten Lula bereits 1982 während dessen Kandidatur für das Amt des Gouverneurs von São Paulo, und Socrates war damals Mitglied der PMDB.

So begannen wir, am politischen Prozess des Landes teilzuhaben. Wir machten bei der "Diretas"-Bewegung von 84 mit und kletterten sogar einmal auf eine Bühne an der Praça da Sé, vor über einer Million Teilnehmer. Socrates hielt eine Rede, ganz spontan und natuerlich, nichts war voher abgesprochen.

Doch wir zahlten einen relativ hohen Preis, wir alle wurden in gewisser Form angegriffen. Jeder mit unterschiedlicher Intensität, ein jeder auf unterschiedliche Art und Weise. Socrates und Wladimir waren respektierte und verheiratete Persönlichkeiten, und ich ein Junge von 19 Jahren. Ein Hippy. Ich habe immer alle Menschen gleich behandelt, ob Präsident oder Straßenkehrer, für mich besitzen alle den gleichen Wert, sind gleich wichtig. Über Socrates haben sie verbreitet, dass er Alkoholiker sei, kein professioneller Sportler, kein Athlet… "Guckt sie euch an, die Demokratie, so ist sie, immer nur besoffen!" Und über Wladimir redete man schlecht, weil er Neger war… "Schaut sie euch an, diese Demokratie! Die Demokratie ist ein Haufen Unfug, ein riesiges Durcheinander!" Ich war der Junge auf Drogen. Das war das Schema, das sie sich für mich ausgedacht hatten.

Ende 1982 kursierte das Gerücht, dass die Diktatur versuchen würde, etwas gegen uns einzufädeln, etwas, was unsere Glaubwürdigkeit untergraben, der "Democracia" den Respekt entziehen sollte. Ich war das schwächste Glied in der Kette, und in dieser Zeit repräsentierte ich die brasilianische Jugend. Ich war 19 Jahre alt und Torschützenkönig. Wir lebten vollkommen isoliert in unserem Hotel, zum eigenen Schutz. Als wir dann die Meisterschaft gewannen, dachten wir, dass sie jetzt nchts mehr gegen uns unternehmen konnten und entspannten uns. Das war der Moment, in dem sie mir eine Falle stellten.

Die Polizei griff mich auf, und sie gaben vor, mich nicht zu kennen. Sie nahmen meine Tasche und zogen ein Glasfläschchen mit einer Substanz darin heraus. Ich wurde festgenommen. Auf dem Weg zum Polizeirevier informierten sie sämtliche Fernsehstationen, und als wir eintrafen, wartete bereits eine Horde von Journalisten darauf, einen Riesenskandal loszutreten. Nun, mir wurde der Prozess gemacht, aber aufgrund fehlender Beweise und dermaßen schlechter Vorbereitung ihrerseits wurde ich freigesprochen.

Trotzdem handelte es sich um den Versuch, die demokratische Bewegung zu demoralisieren. Sie haben das zwar nicht geschaft, aber ich habe sehr darunter gelitten, und brauchte aufgrund dessen sehr viel länger, um in die Nationalmannschaft berufen zu werden. Und das Bild, das die Öffentlichkeit bis heute von mir hat, ist immer noch sehr durch diesen Vorfall geprägt."

Die "Democracia Corintiana" endete 1984 mit Socrates Weggang von den Corinthians. Casagrande blieb bis 1986 (er spielte 1984 für den Erzrivalen São Paulo, was bis heute kein Corinthians-Fan jemals verstanden hat), danach ging er zum FC Porto, mit dem er 1987 die Championsleague gewann. Ab 1987 spielte er in Italien, von 87 bis 91 in Ascoli und von 91 bis 93 in Turin, bevor er nach Brasilien zurückging und dort seine Karriere beendete.

Für die brasilianische Nationalmannschaft bestritt er die WM 1986 und absolvierte 19 Länderspiele, in denen er 8 Tore schoss. Heute schreibt Casagrande Kolumnen für eine Tageszeitung in São Paulo, arbeitet als Radiomoderator und kommentiert Fußballspiele als Sportkorrespondent für Rede Globo.

Text + Fotos: Thomas Milz