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caiman.de 10. ausgabe - köln, oktober 2001
brasil

Der tote Held
Über den Verfall der “Kanarienvögel”


”Erinnerst Du dich, dass wir einmal geglaubt haben, dass alles für die Ewigkeit bestimmt sei. Dabei ist das, was für die Ewigkeit geschaffen wurde, unweigerlich dem Untergang geweiht...” (Legião Urbana)

Jede Herrschaft der Geschichte musste vergehen, die Hegemonie der großen Imperien zerfallen. Nach der Größe kommt die Dekadenz, wie nach der Flut die Ebbe; der Scheitelpunkt der höchsten Wellen trägt in sich schon ihr Brechen und ihren am Strand auslaufenden Tod. Oder die große Liebe, die im Moment des größten Glückes schon den Keim ihres Untergangs in sich trägt. Nach dem turbulenten Liebeschaos tauscht man den feurigen Liebhaber gegen einen spießigen Langeweiler, der für Dich Dein Leben wieder in ”ordentliche” Bahnen bringt.

Mit ihrem Triumph bei der Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko schwang sich Brasilien zur Hegemonialmacht der Fußballwelt auf. Sie schienen in Ewigkeit unschlagbar zu sein. Denn was die Spieler der seleção canarinha, der kanarienvogelfarbenen Auswahl, auf dem Platz vollführten, hatte nichts mit dem zu tun, was die Menschheit bis dahin unter Fußball verstanden hatte. Es war Kunst, unendliche Liebe ohne Regeln und Grenzen, zelebriert von Göttern, die dem Olymp entstiegen waren, um der Menschheit die ursprüngliche, reine Idee des Fußballs zu offenbaren. Sie waren keine Spieler, sie waren Liebhaber!


Mit der wundervollen Mannschaft der WM 1982, mit den großartigen Spielern wie Zico, Sócrates, Falcão, Toninho Cerezo und Amaral, erfuhr diese Liebe ihre glanzvolle Wiedergeburt. Bis ein kleiner Italiener, ein gewisser Paolo Rossi, in Brasilien besser bekannt als cachorro sem-vergonha, was ungefähr dem deutschen “A....loch” entspricht, die Mannschaft nach Hause schoss. Trotzdem, für die Brasilianer ist es immer wichtig, dass die seleção schön spielt, das macht selbst schmerzhafte Niederlagen erträglicher. Und die Mannschaft von 1982 war die Königin der schönen Spielzüge, sie zeigte Leidenschaft und unendliche Liebe für das runde Leder.

Danach endete die Zeit des kunstvollen Spiels. Man übernahm europäische Tugenden. Oder mit den Worten von Zagallo, Trainer der Mannschaft von 1998: “Es reicht nicht mehr, Fußball als Kunst zu zelebrieren.” Was zählte, waren Resultate! Tore verhindern, anstatt sie zu schießen. Ordnung und Verhütung anstelle von Leidenschaft.
Der 4. WM-Titel im Jahr 1994 linderte die offene Wunde von 1982 ein bisschen, aber die Spiele der “seleção” rissen niemanden mehr vom Hocker. Wo waren die phantastischen Dribblings von einem anderen Stern, jene unvergessenen Momente der Pelés, Garrinchas oder Rivelinos?

Geschichte wiederholt sich; die Dekadenz, der Verfall, kommt immer dann, wenn man aufhört, man selber zu sein, wenn man versucht, die Tricks der anderen oder die kleinen coolen Gesten des Nachbarn zu übernehmen, die eigenen Tugenden zu vergessen. Wer nicht seinem eigenen Instinkten folgt, ist verloren. Und der ureigenste Instinkt der Brasilianer ist der, ein Liebhaber zu sein. Die Niederlage der engstirnigen und mit Scheuklappen spielenden Mannschaft im Pariser Finale von 1998 markierte den Beginn des unerbittlichen Verfalls des “Landes der Fußballschuhe”, wie der Schriftsteller Nelson Rodrigues seine Heimat einst genannt hatte.

Die brasilianische Nationalmannschaft, die in letzter Zeit schmerzhafte Niederlagen gegen die neuen Großmächte des Weltfußballs wie Honduras, Japan oder Paraguay (späte Rache für die Niederlage des Krieg von 1865-70?) kassierte, erinnert mich an einen Film von Pedro Almodóvar. In diesem Film ruft eine Frau ständig nach ihrer Schildkröte, “Bürokratie” genannt. “Komm her, Bürokratie. Beweg Dich!” Es sieht so aus, als ob die Schildkröte sich wenigstens bemüht, aber was will man schon von ihr erwarten!?!

Wenn man sich an die alten Zeiten erinnert, an die Leidenschaft der Spieler, ihre Liebe zum Ball, ihre Spielkunst, so kommt es einem vor, als ob nur noch Bürokraten auf dem Platz ständen; so als ob es nicht die brasilianische, sondern die deutsche Nationalmannschaft wäre, die da kickt.

Seien wir ehrlich, in Brasilien ist nahezu alles möglich, aber Bürokratie hat dort noch nie funktioniert!

Text + Foto:
Thomas Milz
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