ed 10/2012 : caiman.de

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brasilien: Rapte-me camaleão! – Caetano Veloso zum 70.
Teil 6: Outras palavras - auf der Suche nach neuen Worten
THOMAS MILZ
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


argentinien: Buenos Aires
Ein kulinarischer Streifzug im Zeichen des Teiges
ANDREAS DAUERER
[art. 2]
argentinien: El Centro de Participación Popular Mons. Enrique Angelelli
Interview mit der Präsidentin Karina Raimondo
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 3]
spanien: Kathedrale von Sevilla (Bildergalerie)
DIRK KLAIBER
[art. 4]
amor: Tausend Meilen tief aus der Unendlichkeit
BERTHOLD VOLBERG
[kol. 1]
grenzfall: Fußballtempel 2.0 - Maracanã reloaded
THOMAS MILZ
[kol. 2]
erlesen: Der Blinde von Sevilla
DIRK KLAIBER
[kol. 3]
lauschrausch: Retrosounds aus Lateinamerika
Ondatrópica und Curumin
TORSTEN EßER
[kol. 4]


[art_1] Brasilien: Caetano Veloso zum 70. (Teil 6)
Outras palavras - auf der Suche nach neuen Worten
 
Die 80er Jahre beginnen und Caetano ist auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft. Mit seinen letzten Alben der 70er Jahre hat er Hit um Hit gelandet. "Outras palavras", LP aus dem Jahre 1981, erweist sich als logische Konsequenz geht und geht weg wie warme Semmeln - auch wenn eigentlich nur zwei erwähnenswerte Lieder drauf sind: "Outras palavras" und "Rapte-me, camaleoã". Der Rest? Ein wenig mit Samba und einem Hauch Frankreich gemischter Pop-Jazz.


"Cores, nomes" aus dem Jahr 1982 macht es da besser. Viel mehr Bahia, viel mehr Afrika ("Um canto de afoxé para o Bloco do Ilê"), weniger Pop. "Queixa" und "Trem das cores" sind bis heute Klassiker, "Cavaleiro de Jorge" erinnert an Tim Maia, "Sina" ist ein Duett mit Djavan und mit "Sonhos" hat sich Caetano eines der schönsten Lieder von Peninha ausgesucht.


"Uns" aus dem Jahre 1983 bildet ein weiteres Meisterwerk des jetzt vierzig Jahre alten Caetano. Die Lieder "Uns" (ein köstlicher Maracatú), "Eclipse oculto" und, natürlich, "Você é linda" sind die Hits der LP. Das letzte Stück, "É hoje", ist eine mitreißende Version des Sambas der "União da Ilha", die damit den Carnaval 1982 bestritt. Das Cover verdient übrigens besondere Aufmerksamkeit - es zeigt "Ein Porträt des Künstlers als junger Mann", gemeinsam mit seinen Brüdern.


1984 erscheint "Velô", Caetanos erste LP mit der neuen Band, der "Banda Nova". Elektro-Rock, der stark an die erste LP der Legião Urbana erinnert, die fast gleichzeitig auf den Markt kommt. Oder an die LPs der Paralamas do Sucesso aus jener Zeit. Niemand entkam damals jenem seltsam quakenden Sound. Nicht mal Meister Caetano…

"Podres poderes" ("Enquanto os homens exercem seus podres poderes, índios e padres e bichas, negros e mulheres e adolescentes fazem o carnaval...") wartet mit phantastischem Text auf, genau wie "O quereres" (diese beiden Lieder sollen 2011 das Rückgrat des Live-Albums mit Maria Gadú bilden). Caetano nimmt noch einmal "Nine out of ten" vom "Transa"-Album von 1972 auf, allerdings in einer fürchterlichen Version, die heute eher an einen abgehalfterten Sänger auf einem Kreuzfahrtschiff erinnert. Karaoke für Ahnungslose.


Immerhin gibt es "O homem velho" und "Língua", ein Samba-Rap mit Elza Soares. Und "Shy moon", vielleicht die seltsamste Komposition von Caetano ever. Hört sich an wie der Soundtrack zu einem gruselig schlechten Hollywood-B-Movie, gesungen auf in Plastik-Sound eingeschweißtem Englisch.

Mit gleichem Sound, aber guter Melodie und interessantem Text, erscheint 1985 "Milagres do Povo" als Teil des Soundtracks "Tenda dos Milagres". Wir schreiben das letzte Jahr der Militärdiktatur, Brasilien wird als demokratischer Staat neu geboren. Die Dinge entwickeln sich in eine neue Richtung. Und Caetano mitten drin?

Bald schon wird er erkennen, dass das Schema "Stuhl und Gitarre" sich gut verkauft, dass es angenehmer ist, die Lieder anderer zu interpretieren statt eigene zu komponieren. Mit etwas über 40 steht Caetanos Karriere mal wieder an einem Scheideweg.

Text + Fotos: Thomas Milz

Hier kommt ihr zu:
Teil 1: Vom Bossa zum Tropicalismo
Teil 2: London, London
Teil 3: Ergrautes Chamäleon, ewig junger Romantiker
Teil 4: Araçá Azul und die Frustrationen eines verwöhnten Jungen
Teil 5: Tudo Jóia?

[druckversion ed 10/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_2] Argentinien: Buenos Aires
Ein kulinarischer Streifzug im Zeichen des Teiges

Man kennt es nur zu gut: Die Sonne klettert langsam über die Dächer der Stadt, wärmt den Asphalt und seine Bewohner und erinnert diese daran, endlich mal aus dem Bett zu kriechen. Dann schlüpft man frisch geduscht in die Kleider und schon geht es hinaus über die Straße ins nächste Café. Morgens sind es Medialunas, die einen den Tag versüßen können. Quasi die argentinische Antwort auf französische Croissants. Und es gibt sie in zwei verschiedenen Varianten. Einmal die Medialunas de manteca und dann die Medialunas de grasa. Erstere also mit jeder Menge Butter im Teig, letztere haben stattdessen Fett bzw. Margarine an Bord. Das Problem ist: Sie schmecken einfach gut. Und die Schlingel in den Cafés haben immer Promociones und man bekommt zum (manchmal hervorragenden, manchmal auch fast englischen) Kaffee gleich drei von diesen kleinen Teigwundern auf den Tisch. Wunder deshalb, weil die argentinischen Croissants tatsächlich ziemlich schwer im Magen liegen können. Immerhin braucht man dann bis mittags nichts mehr. Eine ungeheure Zeitersparnis. Also liest man ein wenig in der Zeitung, plaudert mit dem Kellner über Fußball oder beobachtet einfach seine Umgebung, die immer spannend zu sein scheint.

Egal, ob man dann die kommenden zwei bis drei Stunden im Büro hockt, spazieren geht oder als Tourist vielleicht die eine oder andere Sehenswürdigkeit abfotografiert, erst pünktlich zur Mittagszeit sendet der Körper wieder eindeutige Hungersignale. Natürlich sind die Möglichkeiten mannigfaltig, sogar Sushi hat sich schon in die Hauptstadt verirrt, aber wir bleiben beim Teiggericht: Empanadas dürfen es diesmal sein.

Auch hier haben wir zwei Varianten im Angebot: Empanadas al horno oder fritas. Ofen oder frittiert. Das Schlimme daran: Beide Zubereitungsarten haben ihren Reiz. Und je nach dem, wo man die Dinger kauft, gibt es einige Füllungen nur in frittierter Form. Persönlich mag ich die Ofenexemplare lieber, aber das ist bekanntlich Geschmacksache. Ebenso übrigens wie die Füllungen. Denn man kauft und isst keine Empanadas wegen des Teigs, sondern wegen der Füllung. Klassisch ist natürlich die Rinderhackfüllung - wir sind schließlich in Argentinien. Aber auch Hühnerfleisch, Schinken und Käse, Thunfisch, Zwiebel und Käse oder Mais fehlen fast nie im Angebot. Hier scheint es keine Grenzen zu geben und die drei größten Ketten überbieten sich ebenfalls gerne mit Lockangeboten. Ab 12 Stück gibt’s dann schon mal drei extra oder ein Maxigetränk dazu - ebenso wie den obligatorischen Erklärzettel, damit man weiß, welche Füllung in welcher Empanada versteckt ist. Denn von außen sehen die Teighalbmonde nahezu identisch aus. Die Schlauen unter den Empanada-Köchen machen schon mal Eselsohren in die Ecken (mal eins, mal zwei, mal eins nach hinten, mal eins nach vorne geklappt) oder färben eine Ecke am Rand dunkel ein. Oder zwei oder drei. Irgendwie müssen die vielen Füllungen für den Kunden ja ersichtlich sein, zumal man Empandas auch gerne als Vorspeise mit mehreren Leuten verzehrt.

Wo es die besten gibt, muss man wohl oder übel selbst herausfinden. Die Ketten sind mal besser, mal schlechter, und die mit Abstand besten Empanadas macht noch immer die argentinische Großmutter. Aber da hat man als Tourist nicht immer die besten Karten: eine kennen zu lernen, die für einen auf Anhieb Empanadas in den Ofen wirft.

In jedem Falle kann man nach dem Verzehr gut gesättigt weiterziehen. Wer rein zufällig am Wochenende in Recoleta unterwegs ist, der sollte über den Markt an der Plaza Francia schlendern. Nicht etwa, weil einem da Kunsthandwerk feilgeboten wird, das man nur in den seltensten Fällen wirklich braucht, sondern weil es da als Zwischenmahlzeit das wunderbare Pan relleno gibt. Gefülltes Brot mit Tomaten-Käse-Füllung oder Fleisch. Manchmal auch mit Schinken und Käse. Und wenn die Männer mit ihren riesigen Bastkörben herumlaufen und die Tücher aufschlagen, dann duftet es so wunderbar, dass man eigentlich schon verloren hat und das warme Brot in eine Serviette gehüllt bereits zum Munde führt ehe man sich versieht. Und das ist wirklich ein Gedicht, zumal alles immer hausgemacht ist. Besser geht’s nicht. Leider sind die Pan-Relleno-Verkäufer nicht in der Stadt, sondern eher auf Märkten oder Freiluftveranstaltungen unterwegs. Sehr schade!

Abends hat man dann die Qual der Wahl. Aber: auch wenn die Argentinier noch zur Hälfte italienisches Blut in sich tragen, die Pizza ist maximal in Restaurants wirklich genießbar. Am Schlimmsten jedoch bei den Ketten, allen voran Zapi. Das einzig gute an dieser Pizza ist noch, dass sie wirklich warm aus dem Ofen kommt. Oder die Literflasche Bier, die man sich aus dem Kühlschrank holt. Egal, was euch irgendjemand raten sollte, weil ihr in der Stadt vielleicht gerade planlos umherirrt oder ihr vor Heißhunger zu krepieren droht: wenn ihr euch für eine Pizza entscheidet, dann nur für eine Margarita unter der üppigen Verwendung des Gewürzstreuers. Alles andere ist wirklich ungenießbar und hat eher schlechten Gummicharakter.

Also doch lieber zum Paty greifen. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als ein Hamburger. Den gibt’s ähnlich wie den Pancho (Februarausgabe 2006) an vielen Ecken in der Stadt. Vor allem natürlich zwischen zwei kleinen (teigigen) Weißbrothälften. Wenn er frisch gemacht ist, schmeckt der richtig gut.

Käse ist optional, ebenso wie die Soßen und Salat und Tomate. Aber wenn man schon mal dabei ist, kann man auch alles draufhauen, was der Laden zu bieten hat. Chimichurri, das feine Fleischgewürz, sollte man nicht vergessen. Wer’s dann noch scharf mag, der greift zum Löffel der salsa picante. Was genau da drin ist, erfährt man erfahrungsgemäß nie. Aber die Soße ist gerade zu vorgerückter Stunde immens wichtig, vertreibt sie doch die bösen Geister, die sich eventuell über den Alkohol in den Körper geschlichen haben könnten. Dann schmeckt sogar ein mittelmäßiger Paty noch annehmbar und man kann guten Gewissens und frisch gestärkt weiter um die Häuser ziehen.

Text + Fotos: Andreas Dauerer

[druckversion ed 10/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]






[art_3] Argentinien: El Centro de Participación Popular Mons. Enrique Angelelli
Interview mit der Präsidentin Karina Raimondo
 
Karina Raimondo ist für die sieben Jugendzentren des Centro de Participación Popular Mons. Enrique Angelelli in Florencio Varela im Süden von Buenos Aires zuständig. Sie ist 35 Jahre alt und seit 2003, als die Organisation anfing Jugendzentren zu betreiben, für diese verantwortlich.

Wie ist die Idee entstanden, Jugendzentren zu gründen?
Karina Raimondo: Wir sind als Organisation schon seit 20 Jahren in Florencio Varela tätig. Ursprünglich waren wir nur ein Gemeindezentrum, in das Eltern ihre Kinder mitbringen konnten. Irgendwann merkten wir, dass die Kinder, wenn sie zu Jugendlichen heranwachsen, keinen Ort haben, an dem sie sich aufhalten können, es hier im Viertel keinerlei Einrichtung für sie gibt.

Warum sind die Jugendzentren so wichtig?
Karina Raimondo: Wenn es die Zentren nicht gäbe, dann gäbe es für die Jugendlichen nur noch die Straße. Und den ganzen Tag auf der Straße zu sein, bringt fast zwangsläufig den Konsum von Drogen und zur Drogenbeschaffung auch das Abrutschen in die Kriminalität mit sich. Die Jugendzentren bieten den Jugendlichen einen geschützten Ort, an dem sie Menschen treffen, mit denen sie über ihre Probleme reden können, an dem sie ernst genommen werden und den sie mitgestalten können.

Was sind denn hier in den Vororten die größten Probleme?
Karina Raimondo: Die allermeisten Kinder und Jugendlichen hier sind in irgendeiner Form Gewalt ausgesetzt – oft zu Hause in ihren Familien, aber auch im Alltag auf der Straße. Viele  sind schon seit ihrer frühen Kindheit weitgehend sich selber überlassen. Entweder weil die Eltern den ganzen Tag arbeiten oder aber weil sich die Eltern kaum für sie interessieren. Es gibt auch sonst keine familiären Netzwerke, keine Tanten oder Großeltern, die sich um sie kümmern würden. Diese Vernachlässigung ist ein riesiges Problem. Dazu kommt, dass die Familien sehr wenig Geld haben.

Was sind für Sie persönlich die größten Herausforderungen?
Karina Raimondo: Viele der Jugendlichen, die zu uns kommen, haben bereits mit Drogen und Bandenkriminalität zu tun. Mit ihnen umzugehen erfordert sehr viel Geduld und Fingerspitzengefühl. Aber wir sind sicher, dass ihre Situation noch viel schwieriger wäre, wenn sie nicht zu uns kommen könnten. Außerdem sehen wir, dass sich Gewalt vererbt – viele erleben das zu Hause schon in der 2. Generation. Diese Jugendlichen glauben, dass es gar keine andere Möglichkeit der Konfliktlösung gibt und wenn wir diesen Kreis nicht durchbrechen, werden sie selber die Gewalt später auch an ihre Kinder weiter geben. Viele haben jede Hoffnung verloren, dass sich ihr Leben zum Positiven verändern könnte. Sie haben resigniert und glauben nicht daran, dass sich an der Richtung ihres Lebens oder der Situation in ihren Vierteln etwas ändern wird. Sie unternehmen nicht einmal mehr den Versuch aus ihrem Leben etwas zu machen.

Wie reagieren Sie darauf?
Karina Raimondo: Wir geben den Jugendlichen einen Ort, an dem sie in Ruhe über sich und ihre Situation und die Zusammenhänge nachdenken können. Wir organisieren Workshops und Diskussionsrunden, in denen sie reflektieren und den Ursachen der Probleme auf den Grund gehen. Und wir sehen, dass es viele Jugendliche gibt, die es schaffen, das Ruder herum zu reißen und wenn sie dann erwachsen sind, bewusst anders leben, bewusst anders mit ihren Partnern und Kindern umgehen, als sie es von ihren Eltern mitbekommen haben. Diese Entwicklung wird auch in den einzelnen Vierteln wahrgenommen – es ist ein Erfolg, dass unsere Jugendzentren inzwischen in den Vierteln akzeptiert und für wichtig  befunden werden.

Wie wichtig ist für Sie die Zusammenarbeit mit Brot für die Welt?
Karina Raimondo: Die Unterstützung von Brot für die Welt war von Anfang an sehr wichtig für unsere Arbeit. Brot für die Welt finanziert drei der sieben von uns betriebenen Jugendzentren direkt und damit rund 70 Kinder und Jugendliche. Aber das ist nicht alles. Die Tatsache, dass uns eine so wichtige deutsche Organisation von Anfang an unterstützt hat,  stärkt uns als Einrichtung. Diese Zusammenarbeit gibt uns eine gewisse Bedeutung, die uns auch hilft, aus unterschiedlichen Quellen Geld für die anderen Jugendzentren zu akquirieren. So erreichen wir heute rund 180 Kinder und Jugendliche.  Brot für die Welt ermöglicht uns Vieles, was sonst undenkbar wäre.

Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Text: Katharina Nickoleit

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

[druckversion ed 10/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]





[art_4] Spanien: Kathedrale von Sevilla (Bildergalerie)
 
Mitte des 12. Jahrhunderts (1147) ergriffen die Almohaden, ein gerade mal 30 Jahr zuvor missioniertes Berber-Volk des Hohen Atlas, die Macht über die Südhälfte des heutigen Spaniens, das Reich Al Andalus. Sie ernannten Sevilla zur Hauptstadt und errichteten eine Moschee mit dem Minarett La Giralda (Architekt: Ahmad Ibn Basso, ab 1184). Ein Jahrhundert dauerte die Herrschaft der Almohaden in Sevilla, dann eroberte der kastilische König Ferdinand III. die Stadt 1248 im Namen des Christentums.

Der Bau der Kathedrale begann im Jahr 1401 und sollte gut ein Jahrhundert später unter der Herrschaft der Katholischen Könige Isabella und Ferdinand vollendet werden. Als Glockenturm wurde die Giralda beibehalten und 1568 durch einen Renaissance-Glockenturm vom Architekten Hernán Ruiz II. ergänzt. Sie bietet einen wunderbaren Rundblick über die Stadt.

In die Zeit der Fertigstellung dieser damals größten Kathedrale der Welt fallen die Entdeckungsfahrten des Christoph Kolumbus’. Zum Dank fand er in der Kathedrale einen prominenten Platz für seinen Seelenfrieden – allerdings "schwebend". Sein in der Verärgerung über durch das spanische Königshaus verweigerte Privilegien im Testament geäußerter Wunsch "nie in spanischer Erde" bestattet zu werden, wurde berücksichtigt – indem man seinen Sarkophag, getragen durch vier monumentale Statuen, in der Luft schweben ließ. (s. Ausgabe 10_05/art_1).

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Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 10/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]




[kol_1] Amor: Tausend Meilen tief aus der Unendlichkeit
 


Tausend Meilen tief aus der Unendlichkeit
Verschwommen und schattengleich
Verloren im Wüstenreich
Im blauen Licht der still verwehenden Zeit

Leuchtturm der Karawanen, glänzst Du von weit
Die blauen Kuppeln von der Sonne bleich
Fassaden wie gewebte Stoffe, seidenweich
Blüten aus Stein gemalt für die Ewigkeit

Doch Deine Mauern erbebten beim Mongolensturm
Der nur verschonte Ismails Grabesbau
Und Deinen edlen, himmelshohen Turm

Doch erneut glänzt der Halbmond auf Deinen Zinnen
Wie viele Stufen zum Sternentor im Endlos- Blau?
Und zum Licht das wartet tief dort innen?

















Sonett + Fotos: Berthold Volberg

[druckversion ed 10/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: amor]





[kol_2] Grenzfall: Fußballtempel 2.0 - Maracanã reloaded
 
Das erste Mal Maracanã, Endspiel der "Taça Guanabara" zwischen Flamengo und Fluminense, 21. Februar 2004. Flamengo siegt mit 3:2, tolle Stimmung im Stadion. Die Eintrittskarte ist zwar angegilbt, aber ich habe sie noch: Einfacher Sitzplatz, "Cadeira Comum", Sektor A, Reihe 13, Sitzplatz 004.

Die ganze Zeit hatte ich angstvoll auf die über mir liegenden Ränge geschaut. Mein Papa hatte mir erzählt, dass die Sportfans dort lieber in eine Plastiktüte pinkeln statt den eroberten Platz für einen Toilettengang aufzugeben. Danach, so mein Dad, würden sie die prallen Tüten auf die unteren Ränge hinab schleudern.



Ich erinnere mich an die riesigen Fahnen der beiden Fanblöcke, an das Waschküchenklima. Zweimal liegt Flamengo vorne, zweimal gleicht Fluminense aus. Dann schlägt Flamengo noch einmal zu und der Hexenkessel tanzt und tobt. Ich frage mich derweil, wieso schräg hinter den Toren Telefonzellen stehen. Einmal, wenn ich mich richtig erinnere, hat Romário ein Tor geschossen und dann zum Jubel den Hörer abgenommen. Ob wohl jemand dran gewesen ist?

Danach wird der Fußballtempel Maracanã umgebaut, für die Panamerikanischen Spiele 2007. Viel Geld kostet die Modernisierung, viel Geld versickert in dunklen Kanälen. Achtmal so teuer wie geplant werden die PanSpiele. Kein gutes Omen für die Zukunft, meinen viele. In 2008 jährt sich dann zum 50. Mal der erste WM-Titel der Brasilianer. Ich treffe Mário "Lobo" Zagallo, Weltmeister als Linksaußen 1958 und 62, als Trainer Weltmeister 1970 und WM-Zweiter 1998, Weltmeister als Assistent 1994. Da kommt selbst Beckenbauer nicht mit.



Zagallo erzählt von der WM 1950 in Brasilien, zu der das Maracanã gebaut wurde. Das entscheidende Spiel Brasilien gegen Uruguay, kein Finale, wie manche glauben - der Weltmeister wurde damals unter den letzten vier Mannschaften in einer Gruppenphase ausgespielt. Brasilien hätte ein Unentschieden gereicht, um die Gruppe und damit den Titel zu gewinnen. Uruguay musste gewinnen.

200.000 Menschen drängen sich damals in dem Tempel. Zagallo ist als junger Soldat im Stadion, er soll für Sicherheit sorgen. Als Uruguay das 2:1 schießt, steht er mit dem Rücken zum Spielfeld. Er sieht das Entsetzen in den Augen der Menschen, hört die absolute Stille, die sich über das Stadion senkt. Hinter ihm muss etwas Grausames vor sich gehen. Es ist eine nationale Tragödie, bis heute. Brasiliens Nationalstolz hängt seitdem stets am seidenen Faden, nur Siege sind erlaubt.



"Estádio Jornalista Mário Filho" steht auf meiner Eintrittskarte. Offiziell ist das Maracanã nach dem Sportreporter aus den 40er und 50er Jahren benannt, damals eine Legende, Bruder des Schriftstellers Nelson Rodrigues, ebenso fußballverrückt. Rodrigues hat ihn als erster benannt, den "complexo de vira-lata", jenes Gefühl der Brasilianer, im Grunde allen anderen unterlegen zu sein. Zu diesem Schluss hatte ihn ausgerechnet die Niederlage gegen Uruguay geleitet.

Jetzt stehe ich inmitten einem halbfertigen Maracanã, unter Baukränen, neben Betonblöcken, grau in grau, die vielen Arbeiter laufen wie Ameisen in ihren blauen Arbeitsklamotten umher. Die riesige Schüssel liegt ohne Bedachung da, die soll in den nächsten Wochen aufgespannt werden, um die 79.000 Zuschauer vor dem unvermeidlichen Regen zu beschützen. Auch heute ist es grau und nieselt vor sich hin. In den Katakomben werden die VIP-Logen ausgebaut, am 28. Februar 2013 soll alles fertig sein.

Es werde eines der modernsten Stadien der Welt werden, sagen alle. Es ist wie ein Mantra. Hier soll am 13. Juli 2014 die größte Schlappe der Nation wettgemacht werden. Dann erwartet man Brasiliens Nationalteam im Endspiel. Genau hier, auf dem heiligen Rasen des Maracanã. Zuversicht rundum, klar werde man Weltmeister. Was die Uruguayer darüber wohl denken? Oder die Argentinier - ist das Land darauf vorbereitet, Messi mit dem WM-Pokal zu sehen?



Vorsorglich hat die FIFA wohl auf Drängen der Brasilianer den WM-Spielplan geändert. Ursprünglich sollte Brasilien erst in einem eventuellen Endspiel im Maracanã auflaufen. Das war wohl zu unsicher - jetzt spielt man bereits im Achtel- oder Viertelfinale in Rio. Sicher ist sicher. Nahe des Stadions vegetiert ein kleiner Kanal vor sich hin, eher ein Abwasserbecken. "Maracanã" heißt das Flüsschen, daher wohl der Name. Auf meiner Eintrittskarte von 2004 steht noch der Preis: 5 Reais, weniger als 2 Euros. Auch das wird es in Zukunft wohl nicht mehr geben.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 10/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_3] Erlesen: Der Blinde von Sevilla
 
Drei alte Männer. Zwei finden den grausamen Tod, einer ist schon gegangen und hinterlässt Tagebücher. Zwei leben von der Kunst. Alle haben eine afrikanische Vergangenheit. Ihr ungezügeltes sexuelles Begehren mündete in Tragödien. Alle reich, verwickelt in Geldschiebereien und zum Sehen gezwungen.

Der Blinde von Sevilla

Autor: Robert Wilson
Taschenbuch: 640 Seiten
Verlag: Goldmann Verlag (1. März 2004)
ISBN-10: 3442456371 / ISBN-13: 978-3442456376



Fünf Ehefrauen. Vier sterben. Zwei im Wasser. Zwei im Bett. Eine ist verdächtig, geschäftig, verführerisch und doppelt betrogen.

Vier Liebhaber. Intelligent bis genial. Einer stirbt. Einer hätte ein Freund werden können.
Mitten drin Inspector Jefe. Als Onkel geliebt. Zur Kunst verdammt. Vom Vater geliebt geglaubt. Verlassen. Allergisch gegen Milch. Von der Madonnenerscheinung verwirrt.

Der Roman ist so spannend, dass ich das Buch nachts zur Seite legen muss. Die Geschichte seelisch, sie legt bestialische Abgründe der menschlichen Psyche offen. Die Konfrontation mit visuellen Inszenierungen bringt den makabren Tod. Und sie ist künstlerisch, sie reicht von gehemmter Malerei bis zur hohen Strategie. Kaum ausgeprägte Liebe, aber todbringender Hass. Erfrierende Kaltherzigkeit überschattet Homoerotisches. Wirtschaftlicher Erfolg und Ruhmessucht verlangen nach skrupelloser Gewalt.

Morde in Sevillas wichtigster Zeit des Jahres. Morde in der Semana Santa, der Osterwoche, inszeniert und schockierend. Inspector Jefe verliert den Überblick über Fall und Mannschaft und die Kontrolle über sich selbst. Gezwungener Maßen und wie von unsichtbarer Hand geleitet, führt ihn der Weg nach Tanger, der Wiege seiner Kindheit. Teile fügen sich zusammen, das dunkle Wirrwarr lichtet sich, doch ist der Stierkampf das große Finale? Es ist vielleicht die schönste Rolle, die einer Haushälterin in diesem Moloch zuteil werden kann. Sie tanzt Sevillana auf der Feria de April. Ihre 65 Jahre verfrischen sich zur Jugend. Sie allein hat die Kraft zur Heilung.

Robert Wilsons Stil scheint gewollt unspektakulär, so dass alle Aufmerksamkeit dem Geschehen gilt. Das ändert sich als der 500-Kilo-Stier die Arena einnimmt und der Kampf zum Leben erwacht.

Fazit: Der Blinde von Sevilla ist ein detailliert ausgefeilter Kriminalroman. Von der ersten bis zur 640sten Seite sind alle Handlungen, Gedanken, Rückblenden, Erinnerungen und Psychoanalysen ineinander verwoben. Unbedingt lesenswert.

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 10/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





[kol_4] Lauschrausch: Retrosounds aus Lateinamerika
Ondatrópica und Curumin
 
Retro ist nicht nur in Europa angesagt, auch Lateinamerika wird schon länger von einer Retrowelle erfasst. Entweder werden alte Aufnahmen zusammengetragen, technisch bearbeitet und veröffentlicht – siehe z.B. "The roots of Chicha" – oder sie bilden die Grundlage für Neubearbeitungen, am besten gemeinsam mit Musikern von damals. Letzteres haben der kolumbianische Musiker Mario Galeano und der in Medellín lebende Brite Will "Quantic" Holland getan, der schon mehrere Musik-Projekte in seiner Wahlheimat gestartet hat. Im ehemaligen Studio des legendären kolumbianischen Labels "Discos Fuentes" versammelten sich Musiker, die die Musik des Landes in den vergangenen Jahrzehnten geprägt haben. Hinzu kamen junge Talente, so dass am Ende 42 Musiker mitwirkten.

Ondatrópica
Ondatrópica
Soundway / beats international

Das kreative Potential war so groß, dass der Output am Ende für drei Alben gereicht hätte. Aber bereits diese beiden CDs reichen aus, um lahme Partys anzufeuern und / oder sich mit der Musik Kolumbiens anzufreunden. Schon der Einstieg "Tiene Sabor, tiene sazón" ist ein Knaller im 70er Jahre-Salsa-Sound. Weiter geht es mit gerappten oder mit dezenter Elektronik unterlegten Akkordeontiteln ("Suena" / "3 reyes"). Den weit gefassten Einfluss auf die Cumbia-Salsa-Musik zeigen Titel wie "Punkero Sonidero", "Ska Fuentes" oder "Libya", die aber fast immer tanzbar sind, spannend ohnehin. Indigene gaita-Flöten kommen ebenso zum Einsatz wie E-Pianos, alles analog aufgenommen. Da funktioniert sogar ein Black-Sabbath-Cover ("I ron man").

Mit "Passarinho" befindet sich auf dem neuen Album von Curumin (alias Luciano Nakata Albuquerque) ein absoluter Hit, der nicht nur für einen Sommer gut ist. Eine tanzbare Brasil-Popballade mit 70er-Orgelklängen. Auch sonst ist vieles – nicht nur das unvermeidbare LP-Knistern – Retro auf diesem Album; allerdings gelungen gemischt mit modernen Elementen der (brasilianischen) Musik: so treffen psychedelische Klänge, Tropicalismo ("Pra nunca mais") oder Soul auf bailefunk ("Sapo cururu") und dubstep ("Treme terra"), Elektronik auf Samba oder Reggae ("Vestido de prata"), alles unterbrochen bzw. ergänzt von kurzen elektronischen Klangcollagen, die zwischen die Titel "gequetscht" (arrocha) werden.

Curumin
Arrocha
Six Degrees / Exil

Schöne Melodien, knarzige Sounds, schräge Rhythmen und alles zusammen ergibt die Soundvielfalt des neuen Brasilien, den Curumin noch mit seinen persönlichen Anlagen – von spanisch-japanischen Eltern – würzt.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 10/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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