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spanien: Sevilla - Regenschirme statt Madonnen-Baldachine
6. Ausgabe unserer nicht ganz ernst gemeinten
Chronik der Semana Santa (2011)
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


guatemala: Gesundheitspromotoren
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 2]
brasilien: Meer im Regen
THOMAS MILZ
[art. 3]
mexiko: Ein unendliches Meer leuchtender Punkte
und kein Ende in Sicht
Annäherungen an eine Megastadt: Mexiko-City
SEBASTIAN PROTHMANN
[art. 4]
grenzfall: Cipriani, ein Anti-Christ auf dem Thron Limas
JUAN CARMELO
[kol. 1]
macht laune: Ein bewegtes Leben und kein Ende
Im Interview mit Daniel Viglietti
TORSTEN EßER
[kol. 2]
amor: Cap Norfeu - der Kopf des Orfeus
DIRK KLAIBER
[kol. 3]
lauschrausch: Oláh, Sambeat, Szandai und Miralta
treffen Rafael Cortés
TORSTEN EßER
[kol. 4]




[art_1] Spanien: Sevilla - Regenschirme statt Madonnen-Baldachine
Sechste Ausgabe unserer nicht ganz ernst gemeinten Chronik der Semana Santa (2011)
 
Sevilla, Palmsonntag, 17. April 2011, ca. 10:00 Uhr
Die 18-jährige Cayetana, die gestern aus Cádiz angekommen ist, um mit uns die Sevillaner Semana Santa zu erleben, faltet geräuschvoll ihre Zeitungslektüre (Diario de Sevilla) zusammen und blickt Hilfe suchend in die Frühstücksrunde. "Das wird wohl nichts" und sie zeigt auf die Wetterkarte in der Zeitung, bevor sie beunruhigt an ihrem Honiggebäck knabbert.

"Sei nicht so pessimistisch", versucht die Hausherrin Angélica sie zu beruhigen, "sieh doch, was für ein strahlender Tag heute ist!" Dabei zieht sie die Gardine weg und grelles Morgenlicht fällt ins Zimmer.
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Auch ich bemühe mich, Zuversicht zu verbreiten: "Heute ist traumhaftes Semana Santa Wetter, es soll sogar 30 Grad heiß werden." "Ja heute", entgegnet Cayetana und schlägt die Wetterseite des Diario de Sevilla wieder auf: "Aber ab morgen abend sieht es düster aus und für Donnerstag und Freitag droht eine Regenwahrscheinlichkeit von 100% !" Gebeugt über die Isobaren-Karte, die in der Tat ein gewaltiges Tief bei den Azoren im Anmarsch zeigt, tauschen wir besorgte Blicke aus, entschließen uns aber, für den Moment den furchtbaren Gedanken an eine Semana Santa ohne Madrugá (Prozessionen der Karfreitagnacht) zu verdrängen. Angélica klatscht in die Hände und ruft: "Kommt Leute, es ist Zeit, uns aufzubrezeln, ihr wißt ja, wie lange das dauern kann..." (Vor allem bei ihr, denn als wir um 11.30 Uhr aufbrechen, ist sie als einzige nicht fertig und meint, wir sollten schon mal vorgehen zur Kirche San Andrés.)

Unsere Gruppe von Semana Santa Fans besteht schon seit Jahren aus meiner Freundin Carmen und ihrem Mann Manolo, die wir gleich besuchen werden, Theresa und Regina, meiner Freundin Angélica (der die Semana Santa nicht besonders gefällt, deshalb fährt sie am Mittwoch nach Portugal) – sie alle sind aus Sevilla; der jungen Cayetana aus Cádiz, zwei Pilgern aus Madrid (Manuel und Christina) und mir (diesmal hat die Redaktion wieder alle Namen geändert).

Pumarejo-Palast [zoom]
Santa Catalina [zoom]

Wie jedes Jahr haben uns Carmen und Manolo zum Auftakt der Karwoche zum Mittagessen eingeladen, das diesmal nicht in ihrer Wohnung, sondern im Patio des Pumarejo-Palasts stattfindet. Das Essen ist so köstlich wie immer: Kabeljau-Kichererbsen-Eintopf, Kabeljau mit Tomate oder Spinat, dazu Empanadas, Oliven, Schinken vom Feinsten.

Umgeben von der bröckelnden Pracht des Palasts aus dem frühen 18. Jahrhundert, der anscheinend von der Stadtverwaltung Sevillas ebenso wie die Kirche Santa Catalina dem Verfall preisgegeben wird, scheinen sich alle Gäste mit besonderer Hingabe einem so vergänglichen Genuss wie dem Essen zu widmen. Bis die Fanfaren erklingen und die Prozession der Bruderschaft La Hiniesta den Platz erobert.

La Hiniesta [zoom]
La Hiniesta [zoom]

Am besten könnte man sie von einem Balkon des Palastes sehen, aber das ist inzwischen zu gefährlich wie Manolo meint. Zu baufällig seien die Balkone geworden. Also steigen wir nach einem labyrinthischen Parcours durch das Dämmerdunkel unheimlicher, auch nicht gerade Vertrauen erweckender Treppen dem leer stehenden Palast aufs Dach. Dort werden wir vom grellen Sonnenlicht geblendet und gehen vorsichtig bis zum Rand, als wir endlich durch das am Gesims wuchernde Unkraut tief unter uns in der Gasse die blauen Nazarenos von La Hiniesta entdecken.

Eine Offenbarung ist der Blick aber nicht, also stürmen wir wieder herunter auf den Platz und begleiten die Prozession in die Gasse Relator, weil Theresa heraus gefunden hat, dass dort von einem Balkon der berühmte Saeta-Sänger El Sacri für die Madonna singen wird.
El Sacri [zoom]

Und während hoch oben El Sacri – wie immer herzzerreißend und mit viel Pathos gestikulierend – für die blau bemantelte Madonna singt, gibt es nahe der Erde profane Bedürfnisse zu befriedigen. Der "Aguador" verteilt Wasser in Becher, die ihm von den durstigen Trägern eilig entgegen gestreckt werden.

La Hiniesta [zoom]
La Hiniesta [zoom]

Dazu werden die Samtvorhänge des Paso weg geklappt und man sieht kurz die Arme und Füße der Costaleros – eine kleine "Modenschau mit schicken Sneakers", wie Carmen bemerkt. Regina äußert den Verdacht, dass es gar kein normales Wasser ist, was dort an die tapferen Träger verteilt wird, sondern eine neue, "unrote" Sorte Red Bull, vielleicht Limone.

Sie scheint recht zu haben, denn nach ihrer flüssigen Stärkung wuchten die Costaleros den Baldachin ihrer Jungfrau mit solchem Elan empor, dass die Samtborten beben und ihr fast die Krone vom Haupt fällt. "Ja, das war eine Red-Bull-Aktion", meint Manuel grinsend.
La Hiniesta [zoom]

Kurz vor Sonnenuntergang führt Angélica uns wieder auf eine luxuriöse Dachterrasse, die Freunden gehört. Im goldenen Abendlicht stehen hier über der Calle Conde de Torrejón alle Bewohner dieses Palastes mit auserwählten Gästen, um die grandiose Prozession von La Amargura aus privilegierter Perspektive zu betrachten.

La Amagura [zoom]
La Amagura [zoom]

Alle blicken fasziniert nach unten, wobei jeder auf andere Details achtet: Manuel meint, dass man die dramatische Komposition der Szene mit Christus vor Herodes erst von hier oben richtig erkennt, Christina bewundert die Disziplin und Ordnung in der endlosen Doppelreihe weißer Nazarenos, Regina und Theresa beobachten eher das Publikum und flüstern sich so manch bösen Kommentar über Verhalten oder modische Entgleisungen der Zuschauer zu, Angélica nippt an ihrem Sherry-Glas und blickt in die untergehende Sonne, die mit den letzten Strahlen die vergoldete Altarbühne von La Amargura illuminiert und Cayetana hat sich zum ersten Mal während dieser Semana Santa verliebt (es wurde auch Zeit!); in einen sehr dunklen Leuchterträger mit Engelsgesicht, der melancholisch in den Abendhimmel blickt.

La Amagura [zoom]
La Amagura [zoom]

La Amagura [zoom]
La Amagura [zoom]

La Amagura [zoom]
La Amagura [zoom]

Da wir den zweiten Paso mit der Madonna der Bitterkeit lieber ganz nah unten in der Straße sehen wollen, stürmen wir die Treppen hinunter, sobald sie in die Gasse hinein getragen wird. Doch unten ist der Weg versperrt – durch ein Gitter! Das Portal des Palastes ist zwar offen, das hohe Gitter davor aber dicht. Oft gibt es neben dem Portal einen Automatik-Knopf, um so ein Eingangsgitter zu öffnen und fieberhaft suchen wir danach, während die Madonna sich mit lauten Trompeten nähert. Kein Tür-auf-Knopf nirgends. Entnervt blicken wir uns um.

Kein Hausbewohner in Sicht und Angélica, die als einzige unserer Gruppe wissen müsste, wo man dieses Gitter öffnet, steht mit ihrem Sherry-Glas vier Stockwerke über uns. Zu spät! Da ist die Amargura schon angekommen und wir in unserem Luxusgefängnis sind zu weit weg, um das Gesicht der Madonna hinter ihrer Kerzenpyramide gut sehen zu können.
La Amagura [zoom]

Wir ziehen uns am Gitter hoch, um einen besseren Blick zu haben. In diesem Moment springt das Gitter auf, Angélica war herunter gekommen und hatte den Knopf betätigt. Nun war die Amargura schon wieder angehoben und weiter getragen worden. Aber für nächstes Jahr wissen wir jetzt, wo sich der magische Knopf befindet.

Durch die Straße der Liebe Gottes (Amor de Dios) lassen wir uns mitreißen von der Menschenmenge, die dem Baldachin der Amargura folgt. Unser Ziel ist, wie jeden Palmsonntag, von der Bitterkeit (Amargura) zur Liebe (El Amor) zu kommen. Und es gibt einen sehr konkreten Punkt, wo wir diese Prozession sehen wollen: wir postieren uns in der C. Javier Lasso de la Vega gegenüber dem Haus Nr. 7, wo El Sacri um 21.30 Uhr wieder singen soll.

El Amor [zoom]
El Amor [zoom]

Theresa hat den Plan dabei, der alle Auftritte dieses Saeta-Sängers ankündigt. Als der gekreuzigte Christus von El Amor an uns vorbei getragen wird, wird wie erwartet eine Saeta intoniert, aber die Stimme klingt nicht vertraut. Regina zeigt auf den Balkon und flüstert erstaunt: "Ist El Sacri jetzt zur Frau geworden oder was?" In der Tat singt dort eine junge Frau (und gar nicht schlecht), vielleicht hat der Meister seinen Platz aufgrund dringender Verpflichtungen an sie abgetreten. Nach einer großen Tortilla auf der Plaza de San Andrés verfolgen wir die Prozession von La Estrella, die sich schon auf dem Rückweg befindet. Gegen 1:00 Uhr nachts erreichen wir sie auf der Brücke nach Triana. Die Menschenmasse auf der Brücke ist weniger dicht als sonst, aber viele drängeln sich neben der langen Prozession rücksichtslos durch. Dabei fährt mir ein Kinderwagen voll über die Füße. Eine Entschuldigung gab es nicht, aber sie sei gewährt, denn alle haben es eilig, um ein letztes Mal das ergreifende Gesicht der Sternen-Madonna zu sehen, bevor sie für ein Jahr in ihrer Kapelle verschwindet.

Heiliger Montag, 18. April 2011
Wir fangen dort an, wo wir gestern aufgehört haben: auf der Brücke von Triana. Um 5:00 Uhr nachmittags erwarten wir hier die Bruderschaft San Gonzalo. Eigentlich wollten wir diese sehr populäre Prozession schon vor einer Stunde neben der Kapelle der Estrella sehen, aber dort türmten sich schon die Zuschauer in solchen Massen, dass wir mutlos wurden und den Rückzug zur Brücke antraten. Nur Cayetana quengelte, sie hätte sich gern mitten hinein gedrängt, aber ich erklärte ihr, dass wir alt geworden seien und den langen Tag nicht so stressig beginnen wollten. Auf der Brücke lässt der schöne Christus von San Gonzalo aber zu lange auf sich warten, wir verlieren die Geduld und setzen uns auf eine Terrasse am Ufer. Dort trinken wir dekadent Kaffee, bis der goldglänzende Paso auf der Brücke erscheint.

Las Aguas [zoom]
San Gonzalo [zoom]

Am Abend stehen wir neben der Oper und betrachten die Prozession von Las Aguas, die aus ihrer kleinen Kapelle gegenüber dem Hospital de la Caridad strömt. Pünktlich um 19:00 Uhr singt El Sacri (diesmal wieder ganz er selbst) für den "Christus der Wasser". Christina flüstert neben mir. "Er sollte nicht zu laut singen angesichts der Wetterprognosen, wir wollen keinen Regen!" Der Himmel ist schon sehr bewölkt und Cayetana behauptet, sie hätte ein paar Regentropfen gespürt.

Las Penas de S. Vicente [zoom]
Las Penas de S. Vicente [zoom]

Eine Stunde später stehen wir stolz auf einem Balkon gegenüber dem Portal der Kirche San Vicente – der beste Platz, um der Salida der Bruderschaft von Las Penas beizuwohnen. Die Einladung eines Freundes von Angelica verhalf uns zu diesem seltenen Glück. Vor allem Manuel ist aufgeregt, denn der Christus dieser Bruderschaft, ein Werk des großen Pedro Roldán, gehört zu seinen Lieblings-Kunstwerken. Welch ein Kontrast – während unter uns in strengem Schwarz gewandete Büßer aus der Kirche marschieren, spielen neben uns auf dem Balkon bunt angezogene Kinder, ab und zu zur Ruhe und zum Zuschauen ermahnt. Als die goldene Altarbühne mit dem Christus de Las Penas unter den Klängen eines Trauermarsches aus der Kirche getragen wird, tippt Christina mich an: "Sieh mal – Manuel weint."

Las Penas de S. Vicente [zoom]
Las Penas de S. Vicente [zoom]

Las Penas de S. Vicente [zoom]
Las Penas de S. Vicente [zoom]

Da ihr Mann durch diesen Gefühlsausbruch nicht weiter fotografieren kann, nimmt sie ihm sanft die Kamera aus der Hand und macht Fotos. Leider wurde der Paso gedreht, so dass die Christusskulptur nun zur anderen Seite blickt. Wir verabschieden uns und verlieren uns in der Calle San Vicente im Menschenstrom, der sich an den Mantel der Madonna hängt. Manuel und Christina sind plötzlich verschwunden, während wir zur Plaza de San Andres gehen.

Es ist schon halb elf abends, als dort die wunderbare Skulpturengruppe von Santa Marta in ihre Kirche zurück getragen wird. Viel zu schnell hastet die Szene an uns vorbei. Carmen spricht aus, was alle denken: "Diese Bruderschaft ist bekannt für ihre Schnelligkeit, aber es wäre schöner, wenn sie diesen Paso alle drei Meter anhalten müssten."
Santa Marta [zoom]

Um halb zwei nachts sind wir wieder vor der Kirche San Vicente, um die Rückkehr von Las Penas zu bewundern. Dort treffen wir auch Manuel und Christina wieder und gemeinsam verfolgen wir gebannt den riesigen Schatten, den der Baldachin der Madonna auf die Hauswände wirft und suchen vergeblich den Vollmond; düstere Wolken haben sich davor geschoben.

Heiliger Dienstag, 19. April 2011
Wir stehen vor dem Portal der Kirche Omnium Sanctorum und warten auf die Prozession der Bruderschaft Los Javieres. Es regnet. Im Innern der Kirche diskutiert die Bruderschaft, ob man die Prozession wagen solle oder nicht. Ein paar Minuten lang hört es auf zu regnen und das Portal öffnet sich. Das Publikum applaudiert, glaubt, dass die Prozession beginnt, doch im nächsten Moment reißen alle wieder die Schirme hoch, die Kirchenpforten schließen sich, denn ein neuer Wolkenbruch beendet alle Hoffnungen. Es ist erst Nachmittag und wir wollen den Tag noch nicht verloren geben. Wir beschließen, das neue Museum des Klosters Santa Clara zu besuchen – geschlossen! Unverdrossen stapfen wir weiter durch Pfützen und Regen, allerdings kaufe ich mir unterwegs beim Chinesen einen Regenschirm für drei Euro.

Heiliger Mittwoch, 20. April 2011
Zum Auftakt der gleiche Schauplatz wie gestern, nur eine Stunde früher. Die Wolkendecke bricht auf und es scheint sogar die Sonne. Vor dem Portal von Omnium Sanctorum erwarten wir die Bruderschaft Carmen Doloroso und einen Paso, der mit über sechs Meter Länge zu den größten in Sevilla gehört.

Carmen Doloroso [zoom]
Carmen Doloroso [zoom]

Carmen Doloroso [zoom]
Carmen Doloroso [zoom]

Die Träger müssen beide Pasos auf Knien durch das Portal wuchten; bei der Madonna, deren Baldachin noch etwas höher ist, müssen sogar links und rechts noch Träger mit anpacken und dirigieren, da es um Zentimeter geht. Viele von ihnen haben die Hosenbeine hoch gekrempelt, so dass man ihre Waden sehen kann. "Wie gern doch die eitlen Costaleros ihre Beine zeigen", kommentiert Theresa.

Carmen Doloroso [zoom]
Carmen Doloroso [zoom]

Darauf muss man Cayetana nicht hinweisen, sie fotografiert sowieso mehr die Wadenmuskeln der Träger als das Gesicht der Madonna del Carmen. Und auch die Reporterin des Fernseh-Senders Giralda Televisión schaut mehr nach unten als nach oben, während sie in ihr Mikro spricht.

Nach dem Auszug von Carmen Doloroso wollen wir noch eine zweite Salida sehen, daher postieren wir uns kurz nach 17:00 Uhr am Rand der schönen Plaza de San Martín links gegenüber dem Portal der Kirche.
La Sed [zoom]

Kurz vor 18:00 Uhr schreiten die ersten Nazarenos der Bruderschaft La Lanzada mit roten Kapuzen aus der Kirche und die Prozession bahnt sich einen Weg. Wir lassen den Blick schweifen. Rings um den Platz sind die Balkone zum Bersten voll. Im Palast hinter uns hören wir, wie eine energische weibliche Stimme Befehle gibt: mehr Iberico-Schinken solle an die Gäste verteilt werden und man solle die Cognac-Flasche ordentlich kreisen lassen.

La Lanzada [zoom]
La Lanzada [zoom]

Amüsiert blicken wir uns an. Jetzt erscheint die Dueña über uns auf dem Balkon – eine typische sevillanische Aristokratin, um die 60 Jahre und blondiert, elegant und ganz in Schwarz. Sie sieht ungefähr so aus wie die Duquesa de Alba vor 30 Jahren. Die ganze feine Balkongesellschaft präsentiert sich in Sonntagskleidung, die meisten wirken distinguiert und etwas gelangweilt. Ein Ehepaar verlässt den Balkon, obwohl in ein paar Minuten der Christus kommt, wie die Hausherrin betont. "Na ja, wir haben das schon so oft gesehen", ruft eine gleichgültige Stimme aus dem Innern des Palasts.

La Lanzada [zoom]
La Lanzada [zoom]

Wir konzentrieren uns auf den prunkvollen Paso, der sich Meter um Meter, zwei tapfere Engel voran, aus der Kirche schiebt. Trompeten setzen ein und La Lanzada beginnt den Triumphzug durch Sevilla. Nachdem der Paso samt Musikkapelle verschwunden ist, hört man wieder die gebieterische Stimme der Dueña : "Und jetzt nehmen wir zwischen Christus und der Madonna den Champagner ein!" Regina kichert und fragt in die Runde, ob denn heut Sylvester sei. Theresa prustet: "Jetzt fehlt nur noch, dass die gleich Böller auf ihrem Balkon zünden!" Und so müssen wir die Madonna unter rotgoldenem Baldachin mit unterdrücktem Lachen verabschieden, während man sich eine Etage über uns mit Feinperligem zuprostet.  

In der blauen Stunde lassen wir neben den Mauern des Alcázar die Prozession von San Bernardo vorbei ziehen. Als die Jungfrau der Zuflucht vor uns eine Pause macht, wird die Trägermannschaft ausgewechselt. Als letzter klettert ein braun gebrannter, sehr muskulöser Costalero mit großzügig tätowiertem Oberkörper unter dem Paso hervor. Cayetana reißt ihre Kamera hoch und blickt ihm wie hypnotisiert hinterher. Regina kommentiert mit maliziösem Lächeln: "Meine Liebe, ich weiß nicht, ob Du bei dem Erfolg haben würdest, ich könnte mir vorstellen, dass er sich mehr darüber freuen würde, Deinen Surfer-Bruder zu umarmen." Manuel verdreht etwas die Augen, legt ihr die Hand auf die Schulter und empfiehlt: "Cayetana, es ist wirklich langsam an der Zeit, dass Du Dir mal einen festen Freund zulegst."

San Bernado [zoom]
San Bernado [zoom]

Nach wohl verdienten Tapas in der Bar El Patanchón in der C. Mateos Gago brechen wir zum feierlichen Schlussakkord des Tages auf – die Rückkehr des Cristo de Burgos. Wir drängen uns in die Menschenmenge auf dem völlig dunklen Platz, alle Laternen sind für die Prozession ausgeschaltet worden. Da erhebt sich zu Ehren der Madonna eine klagende Stimme in den Nachthimmel. Eine Saeta. Aber nicht irgendeine, je länger die Stimme gegen die Nacht ansingt, desto klarer wird: dies ist die perfekte Saeta, die beste, die wir jemals gehört haben. Angespanntes Schweigen liegt über dem Platz, als das Werk beendet ist. Kein Applaus, aber überall schluchzende Menschen; Christina und Manuel liegen sich weinend in den Armen, sogar Cayetana hält sich ein Taschentuch vors Gesicht, der ganze Platz scheint mit den Tränen zu kämpfen – der größte Applaus, den ein Saeta-Sänger sich wünschen kann. Wie wir später erfahren, ist sein Name Manuel Cuevas. Sein Stern ist in dieser Nacht aufgegangen. 

Gründonnerstag, 21. April 2011
Es regnet. Es regnet drei Jahre, drei Tage und 48 Stunden.

La Madruga (Karfreitagnacht), 22. April 2011
Draußen regnet es geräuschvoll. Seit Mitternacht sitzen wir vor dem Fernseher und verfolgen live zwischen Hoffen und Bangen zwei Stunden lang, wie in einer Kirche nach der anderen die Entscheidungen über die wichtigsten Prozessionen der Semana Santa von den Großmeistern der Bruderschaften verkündet werden – und wie unter der Diktatur dieses Dauerregens zu befürchten war, sind alle negativ. La Macarena, El Silencio, Gran Poder, Esperanza de Triana. In dem Moment als auch diese Bruderschaft das Nein verkündet, zerreißen wie zur Untermalung gewaltige Donner und Blitze den Nachthimmel. Ein Wolkenbruch überschwemmt die ganze Straße und wir springen von Fenster zu Fenster, weil es überall herein regnet.

Karfreitag, 22. April 2011
Hatte ich schon erwähnt, dass es regnet?

Karsamstag, 23. April 2011
Heute hatte trotz des Regens aus symbolhaftem Trotz als einzige Bruderschaft El Sol (die Sonne) ihre Prozession zur Kathedrale durchgeführt. Die halbe Stadt hat sich auf den tapfer unter finsteren Wolken marschierenden Christus gestürzt, während diese ganz neue Bruderschaft in einer normalen Semana Santa nicht gerade zu den Publikumsmagneten gehört.

Trotz dieser traurigen Woche versammeln wir uns zum traditionellen Osternacht-Abendmahl, diesmal im "Bacalao" und sogar mit Angelica, die aus Portugal zurück gekehrt ist.

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Als nach üppigen Hauptgängen die Desserts gewählt werden sollen, wird auch nicht gespart. Mit Angst um ihre Strandfigur meint Cayetana: "Uff, wir haben echt voll viel gegessen die ganze Woche!" Wir nicken und Regina entschuldigt uns alle: "Es gab ja auch kaum was anderes zu tun, wo doch die meisten Pasos ausfielen..."

Ostersonntag, 24. April 2011
Morgendämmerung. Nach soviel hinfort geschwemmter Semana Santa wagen ein paar von uns, sich wieder profanen Vergnügungen hinzugeben und besuchen in der Osternacht – nach reichlich Kirchenbesuchen – einen Tanztempel.

Die Tanzfläche hatte sich gegen 7:00 Uhr morgens schon beträchtlich geleert, da erklingt plötzlich die Stimme des DJ aus den Lautsprecherboxen: "OK Jungs, wir machen jetzt hier dicht und ich schlage vor, wir gehen jetzt mal alle zusammen den Auferstandenen begrüßen!"

La Resurrección [zoom]
La Resurrección [zoom]

Und so geschieht es. Auf dem Campana-Platz werden wir von den ersten Sonnenstrahlen und Trompetenfanfaren begrüßt, als der auferstandene Christus mit triumphaler Geste an müden Tänzern und normalen Zuschauern vorbei zieht. Und als hätte er nicht nur den Tod, sondern auch den Dauerregen besiegt: wir sehen die ersten Sonnenstrahlen seit Mittwochmittag.

La Resurrección [zoom]
La Resurrección [zoom]

Als die Jungfrau der Morgenröte nun genau vor uns zum Stehen kommt, murmelt Cayetana leise neben mir: "Mir ist vorher noch nie aufgefallen, wie schön diese Madonna ist..."  Offenbar muss erst die halbe Semana Santa ausfallen, damit man auch ihre unbekannteren Schönheiten plötzlich zu würdigen weiß...

Text: Berthold Volberg
Fotos: Berthold Volberg + Vicente Camarasa



Folgende Pasos waren u.a. in der Semana Santa 2011 dem Regen geschuldet nicht auf Sevillas Straßen zu bestaunen:

Montesion [zoom]
Los Negritos [zoom]

La Mortaja [zoom]
La Mortaja [zoom]

La Macarena [zoom]
La Macarena [zoom]

Esperanza de Triana [zoom]
Esperanza de Triana [zoom]

Cigarreras [zoom]


Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

Von Berthold Volberg sind zur Semana Santa in Sevilla folgende Artikel erschienen:
[Es ist vollbracht: Der Karsamstag in Sevilla]
[Zwischen strahlendem Barock und düsterer Mystik: Der "Heilige Montag"]
[Die Passion in Sevilla: Der "Heilige Mittwoch"]
[Der Karfreitag in Sevilla: Ein Andalusisches Requiem]
[Der Tag der Himmelsköniginnen - Palmsonntag in Sevilla]
[Goldrausch in Sevilla: Gründonnerstag der Semana Santa]
[Semana Santa in Sevilla - Die Geheimnisse der Madrugá]
[Heilige Nacht mit Guaraná - Nicht ganz ernst gemeinte Chronik der Semana Santa (2007)]

[druckversion ed 06/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]






[art_2] Guatemala: Gesundheitspromotoren
 
Der Beruf des Landarztes ist in Deutschland unbeliebt. Zu viel Arbeit für zu wenig Geld. So gibt es in manchen Regionen nur wenige Ärzte und unter Umständen muss man lange warten, bis man dran kommt. Trotzdem ist die medizinische Versorgung bei uns gesichert. In Guatemala sieht das ganz anders aus. Dort gibt es ganze Landstriche, in denen nicht ein einziger Arzt zu finden ist. Um die Bevölkerung trotzdem medizinisch versorgen zu können, bildet eine Hilfsorganisation Laien zu Gesundheitspromotoren aus.

Es hat geregnet und das Feld gleicht einer Schlammwüste. Caralampio Peréz muss erst einmal den Lehm von den Schuhen streifen. Dann setzt er seinen ziemlich abgegriffenen Hut ab, zieht einen weißen Kittel über und hängt sich ein Stethoskop um den Hals. Nun erst bittet er eine junge Mutter mit ihrer zweijährigen Tochter in den kahlen Raum des "Hauses der Gesundheit" von Santa Ana Huista. Die Kleine hat Durchfall. Caralampio horcht und klopft sie ab und fragt die Mutter, wann es anfing, nach der Konsistenz, was die Tochter gegessen hat und ob das Kind Schmerzen hat.

"Eigentlich bin ich Bauer. Ich bin nur bis zur fünften Klasse in die Schule gegangen. Damals war es mein Traum Medizin zu studieren. Aber dann kam der Bürgerkrieg und wir mussten fliehen und ich die Schule abbrechen", sagt Caralampio. Trotzdem behandelt der 44jährige seit Jahren Patienten. Er kann nicht nur alle gängigen Krankheiten diagnostizieren, sondern den Patienten auch tatsächlich helfen. "Am häufigsten haben wir es mit Durchfallerkrankungen zu tun, mit Erkältungen und oft mit Gastritis. All diese Krankheiten können wir behandeln. Es kommt sehr selten vor, dass wir jemanden in die Stadt zu einem ausgebildeten Arzt schicken müssen."

Auch Knochenbrüche zu richten, Schnittwunden zu nähen oder verstauchte Knöchel zu bandagieren ist für Caralampio kein Problem. Denn: Er ist zwar kein Arzt, aber Gesundheitspromotor. In der ländlichen Region Guatemalas ist die Infrastruktur schlecht. Es gibt keine richtigen Straßen, nur wenige Schulen und keine Ärzte. Die Landbevölkerung ist normalerweise von der medizinischen Versorgung abgeschnitten.

"Der Guatemaltekische Staat vernachlässigt die medizinische Grundversorgung. In den letzten Jahren ist die Gesundheitsversorgung immer mehr privatisiert worden.  Das hat dazu geführt, dass es in den abgelegenen Gebieten kaum noch Ärzte gibt. Deshalb ist die Mehrheit der Guatemalteken von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen", berichtet Elisabeth Ibarra.

Sie leitet die guatemaltekische Organisation ACCSS, ist 62 Jahre alt und eine kleine, sehr lebendig wirkende Frau mit dunklen, kurzen Locken. Als Logo hat die Organisation eine Zeichnung der Göttin Ixel, die bei den Maya für Geburt und Gesundheit stand. ACCSS hat es sich zum Ziel gesetzt, auch in den abgelegenen Dörfern eine medizinische Grundversorgung zu schaffen. Ärzte, die lange studiert haben, sind dafür nicht zu gewinnen. Deshalb bildet ACCSS ansässige Dorfbewohner zu Gesundheitspromotoren aus. "Die Ausbildung ist sowohl theoretisch als auch praktisch. Es werden zum Beispiel Videos gezeigt. Besonders großen Wert legen wir auf den praktischen Unterricht. Da machen wir Rollenspiele, bei denen die Schüler abwechselnd Patient und Behandelnder sind. Und es stellen sich auch Menschen, die krank sind, zur Verfügung. Die werden dann unter der Aufsicht des ausbildenden Arztes von den Schülern untersucht."

Diese Ausbildung dauert alles in allem drei Jahre. Alle zwei Monate kommen die zukünftigen Gesundheitspromotoren für 10 Tage zu Workshops zusammen. Dort lernen sie alles über die gängigen Krankheiten und typischen Verletzungen, die auf dem Land üblicherweise vorkommen. In der unterrichtsfreien Zeit assistieren sie daheim im örtlichen "Haus der Gesundheit". Am Ende ihrer Ausbildung sind sie in der Lage, über 90 Prozent der Erkrankungen zu behandeln.

Und ist schon die allgemeinmedizinische Versorgung auf dem Land schlecht, so ist die zahnmedizinische außerhalb der Städte überhaupt nicht vorhanden. Deshalb bildet ACCSS auch Zahnpromotoren aus. Die Nachfrage nach jemandem, der bei Zahnschmerzen helfen kann, ist groß.

"Der Zahn tut mir schon seit zwei Monaten weh. Jetzt sind die Schmerzen unerträglich geworden, deshalb bin ich hergekommen", erzählt Antonio Jimenez Monté. Er hat sich im Haus der Gesundheit von Santa Ana Huista auf dem Zahnarztstuhl nieder gelassen, lehnt sich zurück, öffnet den Mund und selbst für den absoluten Laien ist auf den ersten Blick zu erkennen, dass es um das Gebiss des 63jährigen nicht allzu gut bestellt ist. Uri Esperanza Peréz macht erst einmal eine Bestandsaufnahme: Die Vorderzähne oben fehlen. Der Eckzahn rechts oben ist vorhanden. Die Backenzähne auf der rechten Seite fehlen alle. Uri Esperanza Peréz ist weder Zahnärztin noch Zahnarzthelferin, auch keine Studentin der Zahnmedizin. Die 23jährige hat lediglich die Grundschule besucht und hilft normalerweise ihrem Vater auf dem Feld. Ganz nebenbei ist sie Zahnpromotorin. "Ich habe zwei Jahre lang Workshops besucht. Dabei habe ich gelernt, wie Zahnreinigung und  Füllungen gemacht werden. Wir sind immer für 20 Tage zu dem Workshop gefahren und waren dann wieder einen Monat zu Hause." Seither arbeitet Uri am Wochenende vormittags im Gesundheitszentrum von Santa Ana Huista. "Manchmal werde ich auch unter der Woche angerufen. Wenn ich Zeit habe, komme ich und behandle zwischendurch", sagt sie.

Uri greift zum Bohrer und schleift die von Karies befallenen Stellen an einem der sechs verbliebenen Zähne von Antonio Jimenez Monté ab. Einen normalen Zahnarzt zu besuchen, das wäre für ihren Patient ein riesiger Aufwand und sehr teuer. "Hier in der Nähe gibt es sonst nichts. Wir müssten bis in den nächsten Ort laufen. Das dauert zu Fuß vier Stunden. Und hier müssen wir nur etwa die Hälfte von dem bezahlen, was die Behandlung normalerweise kosten würde", erklärt Antonio Jimenez.

Die Behandlungen der Promotoren finden in der Casa de Salut, dem Haus der Gesundheit statt. Es ist denkbar schlicht eingerichtet. Ein paar Plastikstühle für die Wartenden, eine Liege. In einem Schrank lagern die rund 30 Medikamente, die den Promotoren zur Behandlung von Krankheiten zur Verfügung stehen. Neben dem Zahnarztstuhl befindet sich ein Kompressor, über den der Bohrer betrieben wird. Das ist schon echter Luxus: Vor ein paar Jahren musste noch jemand auf einem Fahrrad strampeln um über einen Dynamo die Energie für den Bohrer zu erzeugen. Finanziert wurde das Haus der Gesundheit mit Mitteln aus Deutschland. "Deutschland setzt sich ganz besonders für die Gesundheitsversorgung ein. Unser wichtigster Partner ist Medico International. Deren spezielles Anliegen ist die medizinische Versorgung verarmter Dörfer. Sie haben das gesamte Ausbildungsprogramm der Zahnpromotoren finanziert", erzählt Elisabeth Ibarra.

Dank der Unterstützung aus dem Ausland gibt es in Guatemala heute 14 Häuser der Gesundheit, in denen über 80 Gesundheits- und Zahnpromotoren arbeiten. Alle Häuser befinden sich in abgelegenen Ecken des Landes, in denen es keine Ärzte gibt. Jedes einzelne Haus bietet rund 4.000 Menschen Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung. Ist die Casa de Salut einmal gebaut und eingerichtet, muss sie sich finanziell selber tragen. "Deshalb berechnen die Promotoren geringe Gebühren. Damit werden Verbrauchsmaterialien wie Verbände und Medikamente angeschafft, das Haus der Gesundheit in Schuss gehalten und die Stromrechnung und die Infrastruktur wie zum Beispiel Telefonrechnungen bezahlt", so Elisabeth Ibarra.

Trotzdem zahlen die Patienten nur rund die Hälfte dessen, was ein Arztbesuch normalerweise kosten würde. Außerdem sparen sie das Geld für die oft weiten Reisen in die nächste Stadt.

Um die Kosten für die Medikamente so gering wie möglich zu halten, setzt man in den Casas de Salut auf Heilpflanzen. "Jeder Casa de Salud ist ein Heilpflanzengarten angeschlossen. Gegen Schmerzen kann man entweder Acetylsalicylsäure kaufen oder aus Arnikablättern Umschläge machen. Das ist viel billiger. Und die Leute, die daran interessiert sind, können sich die Pflanzen mitnehmen und bei sich zu Hause anpflanzen", erklärt Elisabeth.

Caralampio Perez hat seine Untersuchung inzwischen abgeschlossen. Seine Patientin Jaqueline hat nichts Schlimmes, nur einen einfachen Durchfall. Er empfiehlt ihr Pfefferminztee. Die Minzeblätter kann ihre Mutter Gladis Montejo gleich im Kräutergarten pflücken. Und einen Rat bekommt Sie auch noch: "Pass auf, dass Deine Tochter immer saubere Hände hat, wenn sie etwas isst. Und wasche die Früchte, bevor Du sie ihr zu Essen gibst." Gladis ist dankbar, denn sie hat einen weiten Weg und viel Geld gespart: "Es ist viel einfacher und günstiger, hier her zu kommen. Sonst müsste ich bis nach Santa Ana fahren, die Fahrtkosten bezahlen, dort etwas zu essen kaufen und außerdem die Medikamente."

Caralampio Perez bekommt nichts für die Behandlung. Denn: Wie alle Promotoren arbeitet er ehrenamtlich. Allenfalls dann, wenn sie zur Erntezeit auf dem Feld ausfallen und deshalb Hilfskräfte anheuern müssen, erhalten sie deren Lohnkosten ersetzt. Aber Caralampio Perez wurde ja auch nicht Gesundheitspromotor, um damit reich zu werden. "Ich sehe doch, dass die Leute im Dorf Hilfe brauchen. Viele haben große Familien und nicht mal das nötige Geld für Kleidung und schon gar nicht für Medikamente. Wenn jemand krank ist, dann muss man ihm doch helfen, oder nicht? Ich helfe mit dem, was ich habe und das ist meine Zeit."

Mit Zeit, Hilfsbereitschaft und Erfahrung machen Gesundheitspromotoren also genau das, was ihr Name dem lateinischen Ursprung nach verspricht: Sie bewegen Dinge und bringen ihr Land voran, damit es den Menschen besser geht.

Text: Katharina Nickoleit

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

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[art_3] Brasilien: Meer im Regen
 
Graue Wolken, der Regen klatscht gegen die Windschutzscheibe. Blaue Streifen am Himmel hinter den Bergen? Manchmal. Kleine Hoffnung. 



Zählt nur Sonnenschein und Wärme? Was machen wir, wenn uns Kälte umgibt? 

Der Strand ist leer. Trotzdem es Samstag ist. Niemand scheint sich herauszutrauen aus den wenigen Häusern. Vielleicht knistern ja die Kamine in den Wohnstuben, vielleicht sind ein gutes Buch und ein Wein jetzt angebrachter? 

Die Wellen des Vortages haben tiefe Kerben in den Sand geschlagen. "Das wütende Meer nimmt den Strand und bringt ihn später wieder zurück", sagt unser einheimischer Freund. Er lächelt. Ins Meer geht er bei dieser Kälte nicht. Ausgeschlossen.

Das tiefe Grün des dichten Waldes scheint trüber und dichter als im Sonnenschein. Herbstliche Niedergeschlagenheit selbst bei den sonst so freundlich strahlenden Farben. Zeit des Ausruhens auch für die Natur. 



Gehen wir ins Wasser? Trauen wir uns, die dicken Jacken und unsere Schals abzulegen? Wie immer ist der erste Schritt der schwierigste. Aber haben wir uns erst einmal entschlossen, gibt es kein Zurück mehr. Die ersten Schritte durch die auslaufenden Wellen sind grausam, die Kälte verbeißt sich in den Waden. Einfach rein! Es kann nur besser werden.

Das Meer ist ein Traum. Wild und ausgelassen, es schaukelt uns umher. Ein paar Schwimmzüge, dann beginnt uns der eigene Körper zu wärmen. Kommt die Wellenwand auf uns zu, tauchen wir unter ihr hindurch. Zweimal, dreimal, dann sind wir durch die Unruhezone, sind so weit draußen, dass die Wellen uns nichts mehr anhaben können. 

Blätter und feine Holzstücke auf der Oberfläche. Auch wir strecken uns aus, lassen uns treiben und schauen in den trüben Herbsthimmel. Ruhe umgibt uns. Fast könnte man dösen. Wir merken nicht, wie uns die Strömung wieder auf den Strand zutreibt. Still wird es, immer stiller. Stille kommt vor dem Sturm, denke ich, dann, wenn sich die Welle aufbaut, kurz bevor sie tosend bricht. Wenn sie sich wie von magischer Hand immer höher aus dem Wasser gezogen wird und dabei alle Geräusche in sich aufsaugt. Ein schwarzes Loch, das jeden Laut verschlingt.

Noch bevor ich mich aufrichten kann, bricht die Wellenwand über mir zusammen, wirbelt mich über die Sandbank, schüttelt mich durch. Wir tauchen gleichzeitig auf und lachen. Wir sind wie Fische, das Meer unser Zuhause. Es kann uns nicht erschrecken. Man darf keine Angst haben, nicht vor der Kälte und nicht vor dem Ungestüm des Meeres. Nur Respekt. Lass Dich treiben, sei leicht.

Wir könnten für immer schweben.

Ein heißer Kaffee erwartet uns im Haus der Freunde. "Damit Ihr Euch aufwärmen könnt." Kaum sitzen wir auf der überdachten Terrasse, wird der Regen heftiger. Hinter den Bäumen toben sich die Wellen am Strand aus. Unter der warmen Jacke und dem flauschigen Schal versinken wir immer tiefer in unsere Sitze. 

Unsere Seele haben wir gereinigt, sagt man hier. Wie neu geboren sind wir dem Wasser entstiegen. Der Winter kann kommen, wir fürchten ihn nicht. 



Text + Fotos: Thomas Milz

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[art_4] Mexiko: Ein unendliches Meer leuchtender Punkte und keine Ende in Sicht
Annäherungen an eine Megastadt: Mexiko-City
 
"Noch jede Annäherung changiert zwischen Faszination und Schaudern, zwischen dem ehrfürchtigen Staunen ob der oft surreal anmutenden Lebendigkeit und dem Schrecken über das Labyrinthische, Überbordende und Monströse, das die Stadt zusammenhalten scheint." (Huffschmied 2008: 247)

Noch sitze ich im Flugzeug, meine Augen sind schwer, der Atem trocken, die Glieder träge. Ein langer Weg liegt hinter mir, Frankfurt, Toronto und nun Mexiko-Stadt, die Hauptstadt Mexikos.

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Mein Blick wandert zur rechten Seite, versucht durch die kleinen Fenster der Maschine Blicke nach draußen zu erhaschen. Millionen von Lichtern, ein unendliches Meer gelb leuchtender Punkte und kein Ende in Sicht. Mein Gemüt erwacht, der Blick nach draußen entfesselt, fasziniert mich. Ich kann es noch gar nicht glauben, über dieser Stadt, die einige als hoffnungslosen, aus allen Nähten platzenden, Moloch abstempeln, über der Stadt, über die ich schon so viel gehört und gelesen habe, zu schweben. Wie viele Einwohner leben in ihr? 20 Millionen, 25 Millionen oder gar 30 Millionen? Keiner weiß das so genau. Ist dass denn auch wichtig? Das Telefonbuch allein zählt 5140 Seiten. Ich wünsche jedem viel Spaß bei der Suche eines geläufigen Namens! In einigen Minuten werde ich einer unter ihnen sein, einer von Millionen Menschen, ein ganz kleiner Punkt, ein minimaler Teil eines erdrückenden Ganzen, zumindest einige Tage lang.

Mexiko-City, der Traum vieler Menschen. Hier gibt es Mexikaner aus allen Teilen des Landes und Lateinamerikas, US-Amerikaner, Europäer, Chinesen, Japaner, Libanesen usw. Sie alle sind hier aus den unterschiedlichsten Gründen. Für die einen ist es die wirtschaftliche Misere, für andere ist es der Lebenspartner, die internationale Firma oder die Idee, Mexiko von hier aus zu erkunden. Nur der Sog der Stadt auf die ländlichen Massen ist längst geschwunden. Die USA hat ihr den Rang abgelaufen, an der 2.600 km langen Grenze stehen sie schlangenweise. Täglich spielen sich hier Tragödien ab. Schmugglerbanden, deren Mitglieder selber oft aus den ärmsten Verhältnissen kommen, verdienen gutes Geld damit, andere Menschen in die vermeintlichen Wohlstandsregionen zu schleusen. Nur allzu gut kennen wir diese Bilder aus Europa, wo sich ähnliche Schicksale in Spanien und Italien abspielen. Die mediale Kommentierung dieser Bilder vermengt nur allzu oft Elemente der Realität mit bedrohlichen Szenarien, so dass diese Migrantenströme mehr und mehr als Bedrohung wahrgenommen werden.

Mexiko-Stadt, die Stadt, die aus allen Nähten platzt und der eurozentrische Meinungen ein hoffnungsloses Wachstum vorhersagen. Doch nur die wenigsten wissen: Es wandern mehr Leute ab, als in die Stadt kommen.

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Das Heer von Zuwanderern wird zunehmend kleiner, neben den USA sind für diese Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind, heute eher vormals sekundäre Städte wie Monterrey, Guadalajara, Puebla, León, Tijuana usw. von Bedeutung. Nur noch die hohe Geburtenrate lässt Mexiko-Stadt weiterhin wachsen.

In der Nähe vom Zócalo komme ich unter. Der "Sockel", was Zócalo in deutscher Sprache bedeutet, ist der Hauptplatz in Mexikos größter Stadt. Umrahmt wird dieser Platz von einer monumentalen Kathedrale im Barockstil und dem Nationalpalast. Nördlich vom Platz trifft man auf Reste des Tempelbezirkes der legendären Stadt Tenochtitlán, die am Vorabend der spanischen Revolution 1521 bereits 300.000 Menschen ein Zuhause gegeben haben soll. Damals eine Stadt, die auf felsigem Eiland erbaut und umgeben von künstlichen Inseln im Texcoco-See lag.

Doch Hernán Cortés machte auf seinem Eroberungsfeldzug alles nieder. Nach und nach kam es unter dem Siedlungsdruck zur Trockenlegung des Sees, doch erst 1960 wichen seine letzten Teile der informellen Siedlung Netzahualcóyotl.

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Unvorstellbare Menschenmassen ziehen sich am Zócalo entlang, eine träge Masse, die sich Meter um Meter vorwärts schiebt: Tausende Touristen, an Flip Flops und kurzen Hosen des Öfteren eindeutig identifizierbar, neben "Indigenas", die mit viel Federschmuck vermeintlich traditionelle Tanze vorführen, Straßenhändler, die darauf hoffen, ihre Waren an den Mann zu bringen und daneben Bettler, die um Almosen bitten.

Gleich hinter dem Zócalo befindet sich das Hotel, in dem ich die nächsten drei Nächte verbringen werde. Auf dessen Dachterrasse finden sich allabendlich die eingefleischten Backpacker-Touristen ein, hauptsächlich bestehend aus Europäern und US-Amerikanern. Bis auf das Personal begegnen mir hier nur zwei Mexikaner, und genau diese sind, wie der Zufall will, meine Zimmerkollegen.

Nach einer feuchtfröhlichen Nacht, in der nach einigen mexikanischen Bieren das Spanisch nur so aus mir heraussprudelt, gehe ich auf Erkundungstour durch Mexiko-City. Eine vom Hotel organisierte Führung gibt mir innerhalb von zweieinhalb Stunden erste Einblicke in diese Metropole. Danach geht es auf persönliche Erkundungstour. Ich entferne mich aus der historischen Altstadt, nehme die Metro und im Anschluss den Bus, um in einer völlig anderen Welt zu landen, in der Welt der Reichen. Auf einem riesigen Parkplatz, links und rechts schicke Karossen amerikanischer Hersteller und um mich herum die neuesten Wolkenkratzerbauten, gehe ich auf die größte Shopping Mall Mexikos zu. Ich befinde mich in Santa Fe, wo vor einigen Jahren das modernste Einkaufszentrum Mexikos erbaut wurde, ganz nach dem Vorbild der USA.

Wer es sich in Mexiko leisten kann, und das sind in der mexikanischen Kapitale doch Einige, verkehrt hier. Mit dem entsprechenden Kleingeld hat man in diesem Einkaufspalast alle Möglichkeiten sich auszutoben. Lange halte ich mich hier nicht auf.

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Zu Fuß gehe ich ins nächste Viertel. Auf dem Weg fallen mir die modernen Hochhäuser mit ihren akribisch geputzten Glasfassaden auf. Es ist wohl der Wunsch Mexikos, mit diesen protzigen Bauten in die Hierarchie der "Global Cities" aufzusteigen, dabei ist Mexiko nur eine sekundäre Weltstadt in der Semi-Peripherie.

Neben modernsten Bürobauten stehen leere Baracken. Ein bezeichnendes Kennzeichen von Schwellenländern, dass eine schier unglaubliche Armut auf immensen Reichtum stößt. Die Menschen, so musste ich erfahren, wurden aus diesen Baracken vertrieben. Ein Polizist wies mich darauf hin, als ich das Gelände betreten wollte. Ich durfte es nicht.

Am nächsten Tag gehe ich die "Paseo de la Reforma", die achtspurige Prachtstraße Mexiko-Citys, entlang. Wieder einmal habe ich das Gefühl, mich in einer verkehrten Welt zu befinden, modernste Glasfassaden riesiger Bürogebäude soweit das Auge reicht. Der Wunsch, mit den Weltstädten Schritt zu halten, zeigt sich auch hier überdeutlich. Doch wiederum ist die Armut nicht weit entfernt. Meine zehn Finger reichen nicht aus, um die Menschen zu zählen, die ich entlang der "Prachtstraße" und in dem davor liegenden Park schlafend auf Pappkartons als Matratzenersatz gesehen habe. Reichtum – Armut, soziale Disparitäten einer Weltstadt in einem Schwellenland, die bei solchen Anblicken nur schwer zu schlucken sind.

Am Nachmittag zieht es mich nach Netzahualcóyotl, einem Vorort, der vor zwanzig Jahren nichts hatte: keine Anbindung ans städtische Transportsystem, keinen Strom, keine funktionierende Wasserversorgung, nur erdrückende Armut. Doch die Stadt, die heute zur Metropolregion Mexico-Citys gehört, hat sich in den letzten zwanzig Jahren stark entwickelt. Hier leben heute über eine Millionen Menschen. Es besteht eine große Migration aus dem Bundesstaat Oaxaca. Die infrastrukturellen Bedingungen haben sich verbessert, man kann sogar mit der Metro Netzahualcóyotl erreichen und es gibt ein Shopping Center. Doch auf der anderen Seite ist das Bild nach wie vor von grauen Bauruinen, alten verstaubten und verkratzten Pkws, überall herumliegendem Müll, Dreck und Armut geprägt.

Dies sind meine individuellen Impressionen einer spannenden, vielfältigen Stadt. Sie hat mich begeistert, auch wenn die sozialen Disparitäten schwer zu verdauen sind.

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Aber überzeugt euch selber von der Vielfalt und Magie Mexiko-Citys.

Text + Fotos: Sebastian Prothmann

Buchtipp:
HUFFSCHMIED, ANNE 2008 Paradoxien des Weiblichen im öffentlichen Raum: Überbelichtung, Unsichtbarkeit, Transgression, in: Becker, Anne / Burkert, Olga / Doose, Anne / Jachnow, Alexander / Poppitz, Marianna: Verhandlungssache Mexiko Stadt: Umkämpfte Räume, Stadtaneignungen, imaginarios urbanos, metroZones 8/b_books, Berlin, 2008, S. 247

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[kol_1] Grenzfall: Cipriani, ein Anti-Christ auf dem Thron Limas
 
„Menschenrechte sind Schwachsinn!“ Von wem stammt dieses Zitat aus Lateinamerika? Von Pinochet? Von Fidel Castro? Von Fujimori? Oder von Somoza? Nein, weit gefehlt. Diese gewagte Wortschöpfung stammt von einem, der sie sich eigentlich nicht leisten kann: Kardinal Juan Luis Cipriani, dem Erzbischof von Lima. Dieser Erzbischof erregte Aufsehen, als er  am 30.01.1999 – begleitet von heftigen Protesten seiner Gemeinde – in sein Amt eingeführt wurde, war er doch der erste Kardinal, der als Mitglied der Sekte Opus Dei zu diesen Würden kam. Als ob diese Auszeichnung für einen Sektenpriester nicht schon genug wäre, bekam er nur zwei Jahre später auch den Purpurmantel eines Kardinals hinterher geworfen.

Das Opus Dei ist ein Schattengewächs: es wurde aufgepäppelt im Schoß der spanischen Franco-Diktatur und es blüht auf im Schatten anderer Diktaturen: in Chile unter Folterknecht Pinochet, in Argentiniens Militärdiktatur unter General Videla und in Fujimoris Peru, wo jetzt die Tochter des korruptesten Staatschefs, den Peru je hatte, an die Macht drängt – mit lauter Wahlkampf-Unterstützung Ciprianis.

Eine feine Lobby-Liaison bahnt sich da an: der machtbesessene Oberhirte und die Fujimori-Tochter Keiko – in Anlehnung an Pinochet auch „Chinocheta“ genannt. Beide wollen Peru zurück verwandeln in eine mafiöse Diktatur, in der eine Hand die andere wäscht. Und natürlich haben beide mehr Geld für den Wahlkampf zur Verfügung als die Gegenpartei unter Ollanta Humala.

Sollte sie den Wahlkampf gewinnen, wird La Chinocheta die Kirchenfürsten zu begünstigen wissen und Cipriani wird sich freuen dürfen, dass gekaufte Todesschwadronen wieder „Kommunisten“ und linke Priester verfolgen und verschwinden lassen. Sollte es dabei wieder „Kollateralschäden“ geben wie bei der Erstürmung der japanischen Botschaft, wird der zynische Kardinal seine Hände in Unschuld waschen. Cipriani ist in seinem Werdegang noch nie durch christliches Verhalten aufgefallen. So forderte er lauthals die Todesstrafe für Abimael Guzmán, den Führer des „Sendero Luminoso“ und bezeichnete einen Jesuiten öffentlich als „Terroristen“.

Während seiner Amtszeit als Erzbischof der Andenstadt Ayacucho ließ dieser brutale Zyniker auf dem Bischofsthron doch tatsächlich ein Schild an seinem Erzbischofspalast anbringen mit dem Hinweis: „Hier werden keine Meldungen über Menschenrechtsverletzungen angenommen.“ Herr Cipriani setzt sich wie alle Opus Dei Mitglieder ausschließlich vehement für die Menschenrechte des nicht geborenen Lebens ein, doch sobald ein Mensch geboren das Licht der Welt erblickt hat, sollte er besser keine Rechte mehr reklamieren. Und natürlich gibt es für Cipriani Menschen erster und zweiter oder dritter Klasse. Als während der Fujimori-Diktatur 300.000 (!) Frauen (meist ohne ihr Wissen) in Peru zwangssterilisiert wurden, wo ertönte da die eifrige Stimme des Erzbischofs, für den doch Verhütung eigentlich Teufelswerk ist? Er bevorzugte vornehmes Schweigen, denn schließlich handelte es sich bei den Sterilisierten fast ausschließlich um in ärmlichen Verhältnissen lebende Indiofrauen aus ländlichen Bergregionen – für den weißen Kirchenfürsten in der Stadt der Könige war dies zweitklassiges Menschenmaterial, das sich nicht zu sehr vermehren sollte.

Welche Moral kann man von einem Kirchenführer erwarten, der so spricht und handelt? Es ist mehr als verständlich, dass angesichts der Worte und Taten dieses Kardinals viele wahrhaft Gläubige in Peru sich die Frage stellen, was an diesem rassistischen Lautsprecher, der den Diktator Fujimori nicht exkommunizierte, sondern hofierte, überhaupt christlich ist? Es war jedenfalls keine Überraschung, als während seiner ersten Messe als Erzbischof von Lima  einige Kirchenbesucher Plakata hoch hielten mit der Zahl 666 (sie symbolisiert in der Offenbarung des Johannes den Antichristen) und riefen: „Gott befreie uns von Cipriani!“

Cirprianis Ziele waren nie religiös, sondern vielmehr die weltlichen eines Politikers. Das Opus Dei ist keine religiöse, sondern eine politische Bewegung, ultra-konservativ bis faschistoid, mit dem Ziel, mafiöse Besitzstrukturen zu zementieren, vor allem in Lateinamerika.

Besonders Kinder und Jugendliche will man indoktrinieren und hat deshalb keine Kosten gescheut, üppig ausgestattete Bildungszentren als Kaderschmieden einzurichten, um die Opus-Ideologie (jawohl: Ideologie, nicht Religion!) zu verbreiten. Mit Blick auf Methoden und Ziele dieser Sekte kann man das Opus Dei durchaus mit der Clique reicher, fanatischer Saudis, die überall wahabitische Koranschulen eröffnen, um Länder, in denen der Islam immer gemäßigt und tolerant war, mit dem Bazillus des Fanatismus zu infizieren. Das Opus Dei  ist wie die „christliche“ (dabei natürlich zutiefst unchristliche!) Version der wahabitischen Fanatiker, mit denen sie noch etwas gemeinsam haben: die führenden Opus Dei-Mitglieder sind reich, sehr reich, und ihr Reich ist sehr wohl von dieser Welt. Sie haben scheinbar unerschöpfliche Finanzreservoirs zur Verfügung, mit denen sie ein unseliges Netzwerk von ideologisch gefärbten Bildungseinrichtungen aufbauen. Sie haben sich an allen Schaltstellen der Macht im Vatikan und anderswo festgesetzt wie ein Krebsgeschwür, um Machtstrukturen und Finanzströme zu kontrollieren.

Am Ende scheint die Saat aufzugehen: heraus kommen Heuchler-„Christen“ wie Cipriani, die den Namen Christi beschmutzen und ihre wahren Ziele offenbaren, wenn sie Botschaften verkünden wie „Menschenrechte sind Schwachsinn.“

Das peruanische Volk hat in diesem Monat Juni die Wahl: falls diese auf La Chinocheta fällt, könnte es für die große Mehrheit der Peruaner, die keine finanzkräftige Lobby hinter sich wissen, ein böses Erwachen geben.

Text: Juan Carmelo

[druckversion ed 06/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]






[kol_2] Macht Laune: Ein bewegtes Leben und kein Ende
Im Interview mit Daniel Viglietti
 
Anlässlich einer Konzertreise durch Europa machte der uruguayische Sänger und Komponist auch in Köln Station. Mit dem jung gebliebenen 71jährigen sprach Torsten Eßer über Musikdownloads, linke Präsidenten und ein alterndes Publikum.

Sie haben 11 Jahre im Exil gelebt, sind aber noch während der Diktatur zurückgekehrt, warum?
Zwar herrschte noch immer die Diktatur, aber sie war bereits dekadent und die Generäle planten ihren Ruhestand. Ich hatte Heimweh und bin 1984 zurückgegangen, um mit einem großen Konzert vor 20.000 Besuchern wieder anzukommen. Während des französischen Exils habe ich übrigens viel in Deutschland gespielt, auch in Köln. Hier habe ich Heinrich Böll kennengelernt, der mir dabei geholfen hat, einen Pass zu erhalten. Ich lebte zwar in Frankreich, aber die Uruguayer wollten meinen Pass nicht erneuern. Böll hat dafür gesorgt, dass ich einen deutschen "Fremdenpass" bekommen habe, mit dem ich eine Zeit lang reisen konnte. Eine schöne Erinnerung… Manche Länder Lateinamerikas bereiste ich übrigens erst während dieser Zeit. So war ich zum ersten Mal in Mexiko, Venezuela und Puerto Rico.

Es klingt schon komisch, dass - vor dem Internetzeitalter - lateinamerikanische Künstler die Nachbarländer, und/oder die Künstler von dort, besser von Europa aus kennenlernen konnten.
Das war Teil der imperialistischen Politik, die Strategie, die Völker voneinander fern zu halten. Uruguay und Argentinien hatten zwar immer engen Kontakt, aber schon die Anden bildeten eine Barriere. Ich war einer der ersten Künstler, der nach Chile gereist ist. Aber Kontakte nach Ecuador oder Bolivien gab es nicht. Und selbst nach Brasilien kaum, was allerdings auch an der unterschiedlichen Musikkultur liegen kann, denn dort zu spielen hat nie so richtig funktioniert.

Wir Liedermacher haben immer für die Einheit der Völker gesungen, aber vom Lied zur Tat war es ein weiter Weg, der selten zum Ziel geführt hat. Heute aber sind wir zum ersten Mal in einer Situation, in der die lateinamerikanischen Länder stärker zusammenarbeiten, aufgrund des Globalisierungsdrucks, der enormen Forderungen der Ersten Welt oder der Institutionen wie dem IWF etc.

Hat Musik mit politischen Inhalten die Kraft etwas in der Gesellschaft zu verändern? Und war das früher anders als heute?
Was ich mache, ist mit verschiedenen "Labeln" bezeichnet worden: Protestlied, engagiertes Lied, politisches Lied usw. Das ist mir auf meine Musik bezogen aber zu limitiert, denn man kennt mich zwar für Lieder wie "A desalambrar" oder "Canción para mi América", aber ich habe sehr viele Lieder über die Liebe geschrieben, über Landschaften, über die Freude und das Leid der Menschen, über die Selbstreflektion... Diese Lieder entspringen zwar auch der Realität, denn ich habe mich nie in einen künstlerischen Elfenbeinturm zurückgezogen, aber sie sind nicht politisch, auch wenn man natürlich alle Vorgänge in einer Gesellschaft als politisch bezeichnen kann, wenn man will. Ich habe im Laufe der Zeit eine Bezeichnung für mein Werk gefunden, die wahrscheinlich auch der Titel meiner nächsten CD sein wird: canciones humanas. Das ist an die poemas humanos des von mir sehr bewunderten Schriftstellers César Vallejo aus Peru angelehnt.

Ich war immer sehr überzeugt von der Macht der Lieder. Wenn sich auch nur bei einem oder zwei Konzertbesuchern neue, andere Gedanken festsetzen, bin ich schon zufrieden. Ich habe als Kind die Lieder von Atahualpa Yupanqui gehört oder von Bola de Nieve und die Gedichte von Vallejo gelesen und bemerkt, wie Kultur mich verändert hat, wie sie mich emotional erfasste. Und diese Emotion ist sehr wichtig. Na klar, weinen auch Diktatoren, wenn ihre Mutter stirbt und sie können sich auch verlieben, aber ich rede hier von tiefen, nicht egoistischen Gefühlen, die der Einzelne für die Menschheit empfindet.

Bei Konzertbesuchen habe ich leider den Eindruck, dass die Botschaften der Liedermacher fast nur noch von einem mitgewachsenen Publikum gehört werden, nicht mehr von der Jugend.
Dieser Eindruck ist nicht ganz falsch, aber auch keine absolute Wahrheit. Jede neue Generation hat ihre eigenen kulturellen Ausprägungen, die wiederum von bestimmten Personen repräsentiert werden. Ich konnte auch nicht die Sänger hören, die mein Vater gut fand. Alles entwickelt sich weiter, die Stile, die Technik, etc. Aber ich denke, dass die alten Sänger als Referenzpunkt der jungen Sänger dienen. Im Alltag hört die Jugend natürlich ihre Interpreten, aber wenn dann ab und zu von den Alten einzelne Botschaften, Gedanken oder Informationen über diese Kanäle durchdringen, die z.B. der Staat oder die Medien nicht vermitteln, dann ist das Ziel doch schon erreicht. Das ist natürlich keine Massenbewegung mehr wie in den 60er/70er Jahren, aber sie existiert weiter. In meinen Konzerten sind immer auch jüngere Zuhörer.

Benutzen Sie folkloristische Elemente in ihrer Musik?
Ich bin in einem musikalischen "Gemischtwarenladen" groß geworden. Meine Mutter, Lyda Indart, war eine klassische Pianistin, mein Vater ein Gitarrist, der eher Folklore spielte und Bücher über Folklore veröffentlicht hat. Das alles vermischt sich in mir, ich bin ein Musikmestize. Und sehr spät in meinem Leben habe ich auch die murga verwendet, den uruguayischen Karnevalsrhythmus.

Sie mussten sich die Rechte an ihren alten Alben vor Gericht erstreiten. Freut Sie nun der Niedergang der Musikindustrie durch das Internet?
Wir Musiker spüren natürlich die Krise der Musikindustrie sehr stark. Die Urheberrechte werden nicht mehr geachtet, die Verkaufszahlen gehen zurück, das macht das Leben schwer. Auf der anderen Seite sehen wir eine Demokratisierung der kulturellen Schöpfung. Lieder, Texte, Gedichte etc. werden massenhaft ins Internet gestellt und jeder kann sie nutzen. Das ist ein Paradox: einerseits bedroht es unsere Lebensgrundlage, andererseits erreichen wir viel mehr Leute. Und ich kann einem 14jährigen nicht das Recht verweigern, seine bevorzugte Musik herunterzuladen. Es ist etwas Neues, das bei mir keine repressiven Gedanken auslöst. Man muss auch neue, gerechte Lösungen dafür finden.

In Uruguay regiert mit José Mujica ein Präsident, der früher ein Guerrillero war. Hat das etwas geändert? Und haben die anderen "linken" Präsidenten in Lateinamerika positive Veränderungen in Gang gesetzt?
Das ist eine sehr wichtige historische Zäsur. In Uruguay gab es über Jahrzehnte mehr oder weniger konservative Regierungen, mehr oder weniger repressiv und natürlich die Militärdiktatur. Da war es vorbei mit der Demokratie, aber das hat nicht erst 1973 begonnen, sondern schon vorher, mit Zensur, Ausnahmezuständen, Verhaftungen von Oppositionellen, Folter etc. Das hat die Zeit der Diktatur mit ihren Verschwundenen und vielen tausend Gefangenen vorbereitet. Als das Land dann zur Demokratie zurückkehrte, geschah auch das nur sehr begrenzt, denn immer noch schwebte die Gefahr eines Putsches über allem. Und so gewann denn auch die Rechte die ersten freien Wahlen.

Daher wurde der erste Sieg der linken Opposition auf Hauptstadtebene dann auch groß gefeiert und zu einer Feuerprobe, denn reden ist etwas anderes als real zu regieren. Nach den gewonnenen Präsidentschaftswahlen war es dann genauso. Leider – aus meiner Sicht - war es  keine Revolution, die die Veränderung gebracht hat und so gehen die Reformen langsamer voran, als ich es mir wünsche. Trotzdem werden grundlegende Dinge angegangen, z.B. das Thema des ungerecht verteilten Grundbesitzes, das Erziehungswesen, die Beziehungen zum IWF und anderen internationalen Organisationen etc. Eher eine Evolution als eine Revolution.

Für mich ist das ein wichtiger Zwischenschritt, der Vertrauen schafft und Diskussionsmöglichkeiten bietet. Natürlich sind manche sozialen Reformen nur kleine Schritte, aber sie stoßen auch auf große Widerstände.

Evo Morales in Bolivien hat in einer schwierigeren Situation heftigere Neuerungen durchgesetzt, das war sicher mutiger. Aber wie auch immer, alle diese Regierungen haben ihre Berechtigung und dürfen sich auf keinen Fall in Richtung Mitte bewegen, eine Herausforderung, die nicht alle gleich gut bewältigt haben.

Text: Torsten Eßer

CD Tipps:



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[kol_3] Amor: Cap Norfeu - der Kopf des Orfeus

Vor nicht allzu langer Zeit war Orfeus nach Spanien aufgebrochen, um das nach ihm benannte Kap, das Cap Norfeu auf der Halbinsel Cap de Creus, zu begutachten, ob es seiner würdig sei. Eigentlich frohgemut hatte er kurz vor seinem Aufbruch erfahren, dass er sich die für Gottheiten reservierte Residenz in Katalonien zwei lange Nächte mit Dionysos, einem Zeitgenossen, der zwar um Orfeus Gunst buhlte, diesem aber zuwider war, würde teilen müssen.



So trafen an diesem Abend Dionysos, Gott des Rausches und der zügellosen Gelage, und Orfeus, Gott der Musik und des Tanzes, aufeinander. Und wie nicht anders zu erwarten, labten sich die beiden über alle Maßen an Trank und Speis. Der eine aus Hochgefühl, der andere aus Unbehagen. An der Seite des Dionysos feierten ausgelassen die Mänaden, seine dem Weine zugeneigten Anhängerinnen. Zurückhaltend präsentierten sich die um das Wohl Orfeus bemühten Nymphen. Denn nur der liebliche Gesang und das verzaubernde Spiel der Leier eines gut gestimmten Orfeus vermochte ihrer unbändigen und ständig präsenten Lust Erleichterung verschaffen.

In Anbetracht der langen Nacht schliefen die beiden Gottheiten und ihr Gefolge bis tief in den Nachmittag des nächsten Tages hinein. Und obwohl es Dionysos in der vom Kater beseelten Aufbruchsstunde keinen Deut besser ging als Orfeus, bestand er darauf, den Musikus auf seinem Ausflug zu begleiten. Auf der Cap Norfeu angekommen, wusste Orfeus nicht, wie seinen Mitstreiter noch länger zu ertragen und griff erneut zum Wein. Dieser aber glich in Nichts dem edlen Tropfen des Vorabends, sondern bestach durch eine fiese, schwere Süße.



Da konnte Orfeus nicht mehr länger an sich halten, abrupt verstummte sein Gesang und die widerwärtigsten Beschimpfungen gegen den verlogenen Gott des Weines brachen aus ihm heraus. Doch noch ehe sein wütender Erguss versiegte, hatten sich die von der Liebe zu Dionysos berauschten Mänaden auf ihn gestürzt, um ihn in Stücke zu zerreißen.

In diesem Moment, dem Moment des Todes, erkannte Orfeus, dass er der Frauen - und zwar aller Frauen - überdrüssig war und fortan nur noch für Knaben schwärmen würde. Und so kam Orfeus umgehend mit sich und auch der Welt ins Reine und er begann zu singen mit Engelszungen. Augenscheinlich tat es dem Volumen seiner Stimme keinen Abbruch, dass der Kopf dem Körper entrissen worden war und nun ohne Rumpf über die hohen, hart im Wind stehenden Klippen hinabkullerte und ins Meer stürzte.



Die geschockten Nymphen folgten ihrem Geliebten auf seinem Ritt über die Wellen bis dieser auf der Ägäisinsel Lesbos anstrandete. Und wäre nicht eines Tages Apollon, der leibliche Vater Orfeus erschienen und hätte seinem Sohn geboten zu schweigen, so würde der alles betörende Gesang, mit dem Orfeus schon auf der Odyssee die Sirenen übertönt hatte, noch heute von Lesbos zum Cap Norfeu herüber wehen.

Text + Fotos: Dirk Klaiber

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[kol_4] Lauschrausch: Oláh, Sambeat, Szandai und Miralta treffen Rafael Cortés
 
Geologische Kenntnisse sind von Vorteil, wenn man die auf dem ungarischen Label BMC erschienene Platte von Oláh, Sambeat, Szandai und Miralta zum ersten Mal in der Hand hält. Denn wer Alfred Wegners Theorie der Kontinentalverschiebung kennt, verbindet mit "Pangea" sofort den Superkontinent, der vor rund 300 Millionen Jahren im weltumspannenden Urozean Panthalassa lag.

Kálmán Oláh, Perico Sambeat, Mátyás Szandai, Marc Miralta
Sketches of Pangea
BMC 180

"Der Begriff symbolisiert ein wenig die Entstehung unserer Musik. Die heutigen Kontinente waren eins, drifteten dann auseinander und setzten sich neu zusammen. Wir haben musikalische Einflüsse aus verschiedenen Kontinenten zusammengeführt. Hier findest Du ungarische Melodien, Flamenco und Latin-Einflüsse. Alles fängt an einem Ort an, driftet auseinander und findet wieder zusammen. Denn schließlich ist - egal woher wir kommen und welche Einflüsse wir beisteuern - unsere Musik aus einem Guss", erklärt Drummer Marc Miralta aus Barcelona, der aufgrund seiner Teilnahme an vielen Jazz-Flamenco-Projekten in Spanien und den USA Erfahrung mit der Fusion verschiedener Stile hat. Hier aber ist er durch "Addaia" und "Pedra D’Aigua" mit zwei eher jazzlastige Kompositionen vertreten.

Die meisten Stücke stammen aus der Feder seines Landmanns Perico Sambeat. Der mit vielen Formaten und Stilen vertraute Saxophonist aus Valencia steuert neben lebhaften und abwechslungsreichen Jazztiteln ("Ciudad del Paraiso"/ "Atlantis") vor allem drei Interludes bei, die das Thema des Albums fortführen: Pangea zerbrach vor rund 150 Millionen Jahren in zwei Großkontinente, von denen der nördliche später "Laurasia" getauft wurde. Ihm ist das erste Interlude gewidmet, in dem Sambeat mit seiner Flöte indigene Klänge nachahmt, begleitet von rasselnden Muscheln und einigen, markant gesetzten Tastenklängen. Diesem Prinzip folgt auch das Interlude über "Gondwana", dem Großkontinent, der während des größten Teils der bekannten Erdgeschichte auf der Südhalbkugel existierte. Allerdings ersetzt Sambeat hier die Flöte durch ein schleifendes Saxophon; in der Percussion dominiert der cajon. In "Phantalassa" schließlich erzeugen wieder die Flöte und die Muscheln den "urzeitlichen" Charakter der Musik.

Die ungarischen Musiker Kálmán Oláh am Klavier und Mátyás Szandai am Bass steuern zwei Balladen mit langen Soli, eine Hommage an Theolonius Monk zur CD und vor allem die beiden "Hungarian Sketches" von Kálmán Oláh bei. "Sketch No.2" bildet den Höhepunkt des Albums, vereint es doch eine ungarische Melodie, die Oláh arrangiert hat, mit dem Rhythmus einer Bulería. Saxophon, palmas und cajon treiben das Stück voran. "Das Zusammenführen der beiden Musikkulturen gelang ausgezeichnet, fast schon spontan. Das erscheint seltsam, aber der Takt der Bulería passte sofort zu den Melodien", erklärt Perico Sambeat.

"Sketch No.4" kommt nicht ganz so rasant daher, wird aber ebenfalls von einer schönen Melodie getragen. Dass in einem Projekt mit spanischen Musikern der Begriff "Sketches" sofort Assoziationen auslöst, war übrigens nicht beabsichtigt: "Kálmán kam mit seinen beiden "Sketches" an, bevor der Titel der CD feststand. Aber natürlich erinnert er viele sofort an die Platte von Miles Davis", so Sambeat.

Diese ungewöhnliche Platte des spanisch-ungarischen Quartetts verdanken wir übrigens einem US-Amerikaner, wie Marc Miralta berichtet: "Ein Freund, der Saxophonist Tim Ries, erzählte mir in New York von einem ungarischen Pianisten und später diesem wiederum von mir. So kam Kálmán eines Tages nach Barcelona und wir stellten fest, dass wir musikalisch harmonierten. Ich bin dann nach Budapest gereist und habe dort mit ihm und Mátyás einige Konzerte gegeben. Dann beschlossen wir, einen Saxophonisten hinzu zu nehmen und ich dachte sofort an Perico. Und so entstand mit Hilfe der Agentur Contrabaix dieses Projekt." Vielen Dank Tim Ries!


Neuer Flamenco aus Essen: Der dort lebende und aufgewachsene Spanier Rafael Cortés unterstreicht auf seinem fünften Album nicht nur seine Fähigkeiten als Gitarrist, sondern auch als Komponist: Acht der neun Titel stammen aus seiner Feder (inkl. dreier Texte), ergänzt durch einen wunderbaren polnischen Walzer mit einem Streichertrio (El último domingo).

Cortés entwickelt seine Improvisationen mit einer beeindruckenden Leichtigkeit, ob es sich dabei um eine schnelle und fröhliche Bulería handelt (El caballito) oder um eine eher nachdenkliche Rondeña (Parando el tiempo).

Rafael Cortés
Parando el tiempo
CM Records / galileo mc

In "Esperanza" drückt die Melodie sehr treffend eben jenes Gefühl aus, verstärkt durch den Klang der Mandola, die Cortés hier spielt. In "Tango de la luna" singt José Ramirez eine Liebeserklärung an den Mond (oder an eine Geliebte!) und "Mirame" ist ein Tanguillo im Stile von Ketama. Hier hört man, dass Cortés auch für Pop und andere Musikstile offen ist: "Natürlich höre ich auch andere Musik, nicht nur Flamenco. Nur so kann ich etwas Neues einbringen. Als Jugendlicher hatte ich sogar mit meinem heutigen Schwager, der Leader bei der Heavy-Metal-Band Creator ist, eine Coverband. Da haben wir Stücke von Ozzy Osborne, Iron Maiden usw. gespielt", erzählt er im Interview.

Insgesamt orientiert sich Cortés bei seinen Stücken aber eher in Richtung des klassischen Flamenco: "Fusionen funktionieren gut, wenn man es schafft, die Seele jedes Musikstils in sie einzubringen. Aber das gelingt nur wenigen. Die meisten produzieren diese Fusionen nur aus kommerziellen Gründen. Das ist legitim, aber auf Dauer setzt sich "künstliche" Musik nicht durch", sagt er. Als Gimmick beginnt der letzte Titel mit Klängen aus einer Kneipe und geht in eine "spontane" Flamenco-Session über, ausschließlich mit Gesang und palmas, um abschließend in Geflüster zu enden.

Text: Torsten Eßer
Cover "Sketches of Pangea": pericosambeat
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[druckversion ed 06/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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