ed 06/2011 : caiman.de

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[art_3] Brasilien: Meer im Regen
 
Graue Wolken, der Regen klatscht gegen die Windschutzscheibe. Blaue Streifen am Himmel hinter den Bergen? Manchmal. Kleine Hoffnung. 



Zählt nur Sonnenschein und Wärme? Was machen wir, wenn uns Kälte umgibt? 

Der Strand ist leer. Trotzdem es Samstag ist. Niemand scheint sich herauszutrauen aus den wenigen Häusern. Vielleicht knistern ja die Kamine in den Wohnstuben, vielleicht sind ein gutes Buch und ein Wein jetzt angebrachter? 

Die Wellen des Vortages haben tiefe Kerben in den Sand geschlagen. "Das wütende Meer nimmt den Strand und bringt ihn später wieder zurück", sagt unser einheimischer Freund. Er lächelt. Ins Meer geht er bei dieser Kälte nicht. Ausgeschlossen.

Das tiefe Grün des dichten Waldes scheint trüber und dichter als im Sonnenschein. Herbstliche Niedergeschlagenheit selbst bei den sonst so freundlich strahlenden Farben. Zeit des Ausruhens auch für die Natur. 



Gehen wir ins Wasser? Trauen wir uns, die dicken Jacken und unsere Schals abzulegen? Wie immer ist der erste Schritt der schwierigste. Aber haben wir uns erst einmal entschlossen, gibt es kein Zurück mehr. Die ersten Schritte durch die auslaufenden Wellen sind grausam, die Kälte verbeißt sich in den Waden. Einfach rein! Es kann nur besser werden.

Das Meer ist ein Traum. Wild und ausgelassen, es schaukelt uns umher. Ein paar Schwimmzüge, dann beginnt uns der eigene Körper zu wärmen. Kommt die Wellenwand auf uns zu, tauchen wir unter ihr hindurch. Zweimal, dreimal, dann sind wir durch die Unruhezone, sind so weit draußen, dass die Wellen uns nichts mehr anhaben können. 

Blätter und feine Holzstücke auf der Oberfläche. Auch wir strecken uns aus, lassen uns treiben und schauen in den trüben Herbsthimmel. Ruhe umgibt uns. Fast könnte man dösen. Wir merken nicht, wie uns die Strömung wieder auf den Strand zutreibt. Still wird es, immer stiller. Stille kommt vor dem Sturm, denke ich, dann, wenn sich die Welle aufbaut, kurz bevor sie tosend bricht. Wenn sie sich wie von magischer Hand immer höher aus dem Wasser gezogen wird und dabei alle Geräusche in sich aufsaugt. Ein schwarzes Loch, das jeden Laut verschlingt.

Noch bevor ich mich aufrichten kann, bricht die Wellenwand über mir zusammen, wirbelt mich über die Sandbank, schüttelt mich durch. Wir tauchen gleichzeitig auf und lachen. Wir sind wie Fische, das Meer unser Zuhause. Es kann uns nicht erschrecken. Man darf keine Angst haben, nicht vor der Kälte und nicht vor dem Ungestüm des Meeres. Nur Respekt. Lass Dich treiben, sei leicht.

Wir könnten für immer schweben.

Ein heißer Kaffee erwartet uns im Haus der Freunde. "Damit Ihr Euch aufwärmen könnt." Kaum sitzen wir auf der überdachten Terrasse, wird der Regen heftiger. Hinter den Bäumen toben sich die Wellen am Strand aus. Unter der warmen Jacke und dem flauschigen Schal versinken wir immer tiefer in unsere Sitze. 

Unsere Seele haben wir gereinigt, sagt man hier. Wie neu geboren sind wir dem Wasser entstiegen. Der Winter kann kommen, wir fürchten ihn nicht. 



Text + Fotos: Thomas Milz

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