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[kol_2] Macht Laune: Ein bewegtes Leben und kein Ende
Im Interview mit Daniel Viglietti
 
Anlässlich einer Konzertreise durch Europa machte der uruguayische Sänger und Komponist auch in Köln Station. Mit dem jung gebliebenen 71jährigen sprach Torsten Eßer über Musikdownloads, linke Präsidenten und ein alterndes Publikum.

Sie haben 11 Jahre im Exil gelebt, sind aber noch während der Diktatur zurückgekehrt, warum?
Zwar herrschte noch immer die Diktatur, aber sie war bereits dekadent und die Generäle planten ihren Ruhestand. Ich hatte Heimweh und bin 1984 zurückgegangen, um mit einem großen Konzert vor 20.000 Besuchern wieder anzukommen. Während des französischen Exils habe ich übrigens viel in Deutschland gespielt, auch in Köln. Hier habe ich Heinrich Böll kennengelernt, der mir dabei geholfen hat, einen Pass zu erhalten. Ich lebte zwar in Frankreich, aber die Uruguayer wollten meinen Pass nicht erneuern. Böll hat dafür gesorgt, dass ich einen deutschen "Fremdenpass" bekommen habe, mit dem ich eine Zeit lang reisen konnte. Eine schöne Erinnerung… Manche Länder Lateinamerikas bereiste ich übrigens erst während dieser Zeit. So war ich zum ersten Mal in Mexiko, Venezuela und Puerto Rico.

Es klingt schon komisch, dass - vor dem Internetzeitalter - lateinamerikanische Künstler die Nachbarländer, und/oder die Künstler von dort, besser von Europa aus kennenlernen konnten.
Das war Teil der imperialistischen Politik, die Strategie, die Völker voneinander fern zu halten. Uruguay und Argentinien hatten zwar immer engen Kontakt, aber schon die Anden bildeten eine Barriere. Ich war einer der ersten Künstler, der nach Chile gereist ist. Aber Kontakte nach Ecuador oder Bolivien gab es nicht. Und selbst nach Brasilien kaum, was allerdings auch an der unterschiedlichen Musikkultur liegen kann, denn dort zu spielen hat nie so richtig funktioniert.

Wir Liedermacher haben immer für die Einheit der Völker gesungen, aber vom Lied zur Tat war es ein weiter Weg, der selten zum Ziel geführt hat. Heute aber sind wir zum ersten Mal in einer Situation, in der die lateinamerikanischen Länder stärker zusammenarbeiten, aufgrund des Globalisierungsdrucks, der enormen Forderungen der Ersten Welt oder der Institutionen wie dem IWF etc.

Hat Musik mit politischen Inhalten die Kraft etwas in der Gesellschaft zu verändern? Und war das früher anders als heute?
Was ich mache, ist mit verschiedenen "Labeln" bezeichnet worden: Protestlied, engagiertes Lied, politisches Lied usw. Das ist mir auf meine Musik bezogen aber zu limitiert, denn man kennt mich zwar für Lieder wie "A desalambrar" oder "Canción para mi América", aber ich habe sehr viele Lieder über die Liebe geschrieben, über Landschaften, über die Freude und das Leid der Menschen, über die Selbstreflektion... Diese Lieder entspringen zwar auch der Realität, denn ich habe mich nie in einen künstlerischen Elfenbeinturm zurückgezogen, aber sie sind nicht politisch, auch wenn man natürlich alle Vorgänge in einer Gesellschaft als politisch bezeichnen kann, wenn man will. Ich habe im Laufe der Zeit eine Bezeichnung für mein Werk gefunden, die wahrscheinlich auch der Titel meiner nächsten CD sein wird: canciones humanas. Das ist an die poemas humanos des von mir sehr bewunderten Schriftstellers César Vallejo aus Peru angelehnt.

Ich war immer sehr überzeugt von der Macht der Lieder. Wenn sich auch nur bei einem oder zwei Konzertbesuchern neue, andere Gedanken festsetzen, bin ich schon zufrieden. Ich habe als Kind die Lieder von Atahualpa Yupanqui gehört oder von Bola de Nieve und die Gedichte von Vallejo gelesen und bemerkt, wie Kultur mich verändert hat, wie sie mich emotional erfasste. Und diese Emotion ist sehr wichtig. Na klar, weinen auch Diktatoren, wenn ihre Mutter stirbt und sie können sich auch verlieben, aber ich rede hier von tiefen, nicht egoistischen Gefühlen, die der Einzelne für die Menschheit empfindet.

Bei Konzertbesuchen habe ich leider den Eindruck, dass die Botschaften der Liedermacher fast nur noch von einem mitgewachsenen Publikum gehört werden, nicht mehr von der Jugend.
Dieser Eindruck ist nicht ganz falsch, aber auch keine absolute Wahrheit. Jede neue Generation hat ihre eigenen kulturellen Ausprägungen, die wiederum von bestimmten Personen repräsentiert werden. Ich konnte auch nicht die Sänger hören, die mein Vater gut fand. Alles entwickelt sich weiter, die Stile, die Technik, etc. Aber ich denke, dass die alten Sänger als Referenzpunkt der jungen Sänger dienen. Im Alltag hört die Jugend natürlich ihre Interpreten, aber wenn dann ab und zu von den Alten einzelne Botschaften, Gedanken oder Informationen über diese Kanäle durchdringen, die z.B. der Staat oder die Medien nicht vermitteln, dann ist das Ziel doch schon erreicht. Das ist natürlich keine Massenbewegung mehr wie in den 60er/70er Jahren, aber sie existiert weiter. In meinen Konzerten sind immer auch jüngere Zuhörer.

Benutzen Sie folkloristische Elemente in ihrer Musik?
Ich bin in einem musikalischen "Gemischtwarenladen" groß geworden. Meine Mutter, Lyda Indart, war eine klassische Pianistin, mein Vater ein Gitarrist, der eher Folklore spielte und Bücher über Folklore veröffentlicht hat. Das alles vermischt sich in mir, ich bin ein Musikmestize. Und sehr spät in meinem Leben habe ich auch die murga verwendet, den uruguayischen Karnevalsrhythmus.

Sie mussten sich die Rechte an ihren alten Alben vor Gericht erstreiten. Freut Sie nun der Niedergang der Musikindustrie durch das Internet?
Wir Musiker spüren natürlich die Krise der Musikindustrie sehr stark. Die Urheberrechte werden nicht mehr geachtet, die Verkaufszahlen gehen zurück, das macht das Leben schwer. Auf der anderen Seite sehen wir eine Demokratisierung der kulturellen Schöpfung. Lieder, Texte, Gedichte etc. werden massenhaft ins Internet gestellt und jeder kann sie nutzen. Das ist ein Paradox: einerseits bedroht es unsere Lebensgrundlage, andererseits erreichen wir viel mehr Leute. Und ich kann einem 14jährigen nicht das Recht verweigern, seine bevorzugte Musik herunterzuladen. Es ist etwas Neues, das bei mir keine repressiven Gedanken auslöst. Man muss auch neue, gerechte Lösungen dafür finden.

In Uruguay regiert mit José Mujica ein Präsident, der früher ein Guerrillero war. Hat das etwas geändert? Und haben die anderen "linken" Präsidenten in Lateinamerika positive Veränderungen in Gang gesetzt?
Das ist eine sehr wichtige historische Zäsur. In Uruguay gab es über Jahrzehnte mehr oder weniger konservative Regierungen, mehr oder weniger repressiv und natürlich die Militärdiktatur. Da war es vorbei mit der Demokratie, aber das hat nicht erst 1973 begonnen, sondern schon vorher, mit Zensur, Ausnahmezuständen, Verhaftungen von Oppositionellen, Folter etc. Das hat die Zeit der Diktatur mit ihren Verschwundenen und vielen tausend Gefangenen vorbereitet. Als das Land dann zur Demokratie zurückkehrte, geschah auch das nur sehr begrenzt, denn immer noch schwebte die Gefahr eines Putsches über allem. Und so gewann denn auch die Rechte die ersten freien Wahlen.

Daher wurde der erste Sieg der linken Opposition auf Hauptstadtebene dann auch groß gefeiert und zu einer Feuerprobe, denn reden ist etwas anderes als real zu regieren. Nach den gewonnenen Präsidentschaftswahlen war es dann genauso. Leider – aus meiner Sicht - war es  keine Revolution, die die Veränderung gebracht hat und so gehen die Reformen langsamer voran, als ich es mir wünsche. Trotzdem werden grundlegende Dinge angegangen, z.B. das Thema des ungerecht verteilten Grundbesitzes, das Erziehungswesen, die Beziehungen zum IWF und anderen internationalen Organisationen etc. Eher eine Evolution als eine Revolution.

Für mich ist das ein wichtiger Zwischenschritt, der Vertrauen schafft und Diskussionsmöglichkeiten bietet. Natürlich sind manche sozialen Reformen nur kleine Schritte, aber sie stoßen auch auf große Widerstände.

Evo Morales in Bolivien hat in einer schwierigeren Situation heftigere Neuerungen durchgesetzt, das war sicher mutiger. Aber wie auch immer, alle diese Regierungen haben ihre Berechtigung und dürfen sich auf keinen Fall in Richtung Mitte bewegen, eine Herausforderung, die nicht alle gleich gut bewältigt haben.

Text: Torsten Eßer

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