ed 06/2010 : caiman.de

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spanien: Rosenblüten-Regen aus blauem Himmel (Teil 2)
Nicht ganz ernst gemeinte Chronik der Semana Santa 2010
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


bolivien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug VII)
In Boliviens Drogenhauptstadt
THOMAS BAUER
[art. 2]
brasilien: Brasiliens schönste Küste (Teil 3)
Zwischen Paraty und Ubatuba
THOMAS MILZ
[art. 3]
bolivien: Ein Platz der Sicherheit und Ruhe
Das Kolping-Frauenhaus in Cochabamba
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 4]
grenzfall: Anas letzte Hungerattacke
FRANK SIPPACH
[kol. 1]
200 jahre befreiung: Eine Kultur in Stücken (Teil 2)
Modernisierungshemmnisse der lateinamerikanischen Regionalkultur
KLAUS EßER
[kol. 2]
helden brasiliens: Paulista – Consolação und umgekehrt
In São Paulo stimmt rein gar nichts mehr
THOMAS MILZ
[kol. 3]
erlesen: Wo man singt...
Rezension: Tango, Bolero, Copla... von H. Nonnenmacher
TORSTEN EßER

[kol. 4]




[art_1] Spanien: Rosenblüten-Regen aus blauem Himmel (Teil 2) (Teil 1)
Fünfte Ausgabe unserer nicht ganz ernst gemeinten Chronik der  Semana Santa 2010
 
Gründonnerstag, 1. April 2010
Wir beginnen den Nachmittag mit einer magischen Medaille, einem von Theresa feierlich überreichten Geschenk. Sie stammt von ihrem Bruder, der als Nazareno an der Prozession von Los Negritos teilnimmt (der ehemaligen Bruderschaft  der Schwarzen, in der es aber heute fast nur noch Weiße gibt). Es ist eine Medaille der Jungfrau der Engel, deren Paso nun direkt vor uns schwebt, so dass wir die schönen Miniatur-Reliefs aus Silber und Elfenbein bewundern können (während Cayetana ihre Blicke mehr auf die verschwitzten Träger konzentriert).

Las Cigarreras [zoom]
Los Negritos [zoom]

Danach nähert sich der größte Paso von Sevilla: "La Exaltación", das ultrabarocke Familienprodukt der Roldán. Der Christus ist von Vater Pedro; Engel und Diebe, frisch restauriert, sind Werke seiner Tochter Luisa. Beim Vorbeiziehen dieser dramatischen Szene, in der Pferde das Kreuz empor ziehen, entfährt mir der Kommentar: "Sevilla ist die einzige Stadt, in der Diebe restauriert werden."

Vor der Madonna der Tränen hat noch eine andere Dame ihren Auftritt, soeben erst eingetroffen, um unsere Gruppe vor der Madrugá zu komplettieren: Luna. Im Minirock und mit einem todschicken Blazer des Labels Desigual tritt sie auf wie eine Königin der Laufstege und sieht Penelope Cruz durchaus ähnlich. Scherzend kann sich Manuel nicht die Bemerkung verkneifen, dass "die Eitelkeit, obwohl sie nicht zur klassischen Aufzählung der Sieben Todsünden gehört, in Andalusien wohl am häufigsten vorkommt." Luna wirft uns einen Zigeunerblick Marke Azúcar Moreno zu und öffnet ihre schwindelerregend sinnlichen Lippen, um mit rauchiger Stimme einen einzigen triumphalen Satz zu sprechen, der alle Kritiker zum Schweigen bringt: "Aber mein Kleiner, weißt Du denn nicht, dass es ohne Sünden überhaupt keine Semana Santa geben würde?" Regina, die wie alle lachen muss, entgegnet: "Luna, also manchmal hast Du echt philosophische Anwandlungen..."

Nachdem wir die Prozession von Las Cigarreras vor dem Rathaus bewundert haben (martialische Römer, goldglänzende Englein), muss ich mich für eine späte Siesta ein paar Stunden zurückziehen. Um halb 22:30 Uhr treffen wir uns wieder auf der Plaza de Molviedro.

Die aristokratische Bruderschaft La Quinta Angustia überzeugt wie immer sehr stilsicher und präsentiert den kunstvollsten Paso Sevillas, diesmal aber leider ohne Saeta.
Quinta Angustia [zoom]

Nach kurzer Meditation, die Prozession ist kaum hinter der Ecke verschwunden, quengelt Luna ungeduldig, dass sie jetzt aber "ein Weinchen" trinken wolle. "Dafür gibts jetzt keine Zeit!", bleibe ich hart. Denn ich will eilig zur Plaza del Salvador, um dort die genialste Christusskulptur Sevillas zu sehen, bevor sie in ihrer Kirche verschwindet: Pasión. Ich sehe mich mit einer "halben Rebellion" konfrontiert, schließlich werden Luna, Theresa und Regina den Tresen einer Bar aufsuchen, während Manuel, Christina, Cayetana und ich eine Lücke auf der bereits gut gefüllten Plaza del Salvador erobern. Vor unsern Augen gleiten der Jesús de la Pasión auf silbernem Paso und die Jungfrau von der Gnade die steile Rampe zur Erlöserkirche hinauf, während im Hintergrund schon mal die Wagen der Müllabfuhr den Motor anwerfen.

La Madruga (Karfreitagnacht), 2. April 2010
Nach einem enttäuschenden nächtlichen Abendmahl im Gourmet-Tempel Casa Robles (zu französisch, kaum was auf dem Teller, dafür aber fein teuer) platzieren wir unsere Klappstühlchen, die in der längsten Nacht des Jahres sehr beansprucht werden, neben dem Erzbischofspalast und gegenüber der Giralda. Es ist bereits 02:30 Uhr als die älteste Bruderschaft Sevillas (gegründet 1340) wie immer schwarz und schweigend aus der Kathedrale kommt: El Silencio. Im Publikum kann sich absolutes Schweigen leider nicht durchsetzen. Da wäre es in einer engen Gasse stiller gewesen als hier.

Um 03:30 Uhr begeben wir uns zur anderen Seite der Kathedrale, wo El Gran Poder, die strenge Schweige-Bruderschaft des Jesus der Großen Macht, vorbei defiliert. In diesem Jahr dürfen endlich auch Frauen in der Prozession dieser konservativen Vereinigung mitgehen. Lautlos nähert sich der violette Schatten des Christus mit dem finsteren Gesicht, der in Sevilla am meisten verehrt wird. Hier klappt es mit dem nächtlichen Schweigen (und Luftballons sind auch keine zu sehen). Sogar Cayetana ist ganz still und hält den Atem an, als der göttliche Schatten begleitet von goldenen Engeln vorbei zieht.

Gran Poder [zoom]
Gran Poder [zoom]

In der Morgendämmerung machen wir uns dann auf den Weg zur Calle Adriano, wo wir später die Esperanza de Triana erwarten werden. Dort angekommen, postieren wir uns direkt neben dem Portal der Baratillo-Kapelle, wo ich meine Macarena-Medaille vorübergehend verstecken muss, denn ich bin hier quasi im "Feindesland". Die Esperanza de Triana ist die große Rivalin der Macarena-Madonna in der Gunst des Sevillaner Publikums und hier, so nah am Flussufer, sind die Anhänger aus Triana fast unter sich. Wir machen es uns so bequem wie möglich auf unseren Klappstühlchen. Dabei müssen wir uns nun abwechseln, denn Manolo hat sich mit zuviel Schwung gesetzt, so dass wir jetzt einen Stuhl weniger haben. Die Kälte wird fast unerträglich. Christina geht, um Kaffee zu organisieren und ich verteile Lindt-Schokolade. Wenigstens wärmt die aufgehende Sonne uns die Gesichter, aber alle Zuschauer sind noch in dicke Jacken gehüllt, ein paar haben sogar Handschuhe an. Ich blicke mich um, und sehe in manchmal müde, aber junge und erwartungsvolle Gesichter (die Erkenntnis, dass wir hier bis auf Cayetana die Ältesten sind, erfüllt mich mit kurzer aber heftiger Melancholie).

Die Stimmung, die fast an ein Popkonzert erinnert, ist gut und sie wird immer besser, denn die um uns herum kauernden, madonnensüchtigen Jugendlichen aus Triana lassen eifrig Joints kreisen; der Geruch ist kaum zu ignorieren und wird erst später vom Weihrauch verdrängt.

Endlich erscheint der schöne "Christus der drei Stürze" und alle springen auf, klappen ihre Stühlchen zusammen und greifen zu den Kameras. Besonders Cayetana ist ganz aufgeregt, aber auch Manuel und Christina, die Mitglieder der Bruderschaft aus Triana sind, werden euphorisch.
Christus der drei Stürze [zoom]

Unter schmetternden Trompetenklängen nähert sich der riesige Paso fast in Tanzschritten dem offenen Portal der Kapelle. Ein halbes Dutzend Mal führen die übermütigen Träger den Christus mit maurischem Gesicht auf seiner tonnenschweren Altarbühne zum Portal und zurück. Die Musikkapelle steigert sich wie das Publikum in einen Rausch, Trompeten und Applaus der Zuschauer wetteifern in Bezug auf die Lautstärke. Und dasselbe Spektakel wiederholt sich mit der Madonna aus Triana.

Esperanza de Triana [zoom]
Esperanza de Triana [zoom]

Der Ausbruch der Emotionen kommt zu einem Höhepunkt, einzelne Fans rufen der Jungfrau gewagte Komplimente zu, ihr Paso wird von den Trägern im Kreis gedreht, so dass alle ihr Gesicht sehen können. Als sie sich abwendet und der Brücke entgegen strebt, hinterlässt sie eine verzückte Menge, in der fast alle feuchte Augen haben (auch ich, wie ich zugeben muss) oder sogar hemmungslos heulen (Christina und Cayetana).

"So, jetzt wird es aber Zeit für meine Madonna!", verkünde ich feierlich; doch dafür müssen alle die letzten Kraftreserven mobilisieren. Es ist nur noch der treue Kern der Gruppe übrig: Manuel, Christina und Cayetana - und alle drei sind bereit, mir bedingungslos zu folgen. Wir müssen die ganze Altstadt durchqueren, aber das ich noch das geringste Problem, obwohl wir nun schon 12 Stunden unterwegs sind. Die eigentliche Hürde wird sein, in die Triumphstraße der Macarena, die Calle Parras, einzudringen. Die ist sehr eng und hat nur Platz für zwei Zuschauerreihen rechts und links. Wir kommen gerade rechtzeitig und stellen uns (etwas frech) vor andere wartende Zuschauer, als der riesige Paso des Cristo de la Sentencia der Macarena-Bruderschaft aus dem Schatten der Calle Parras heraus kommt ins gleißende Morgenlicht. Die Christusstatue hat rote Rosenblätter in ihrer Dornenkrone, die von einem Balkon geworfen wurden. Die Costaleros bewegen den Paso im Rhythmus der Musik in spektakulären Manövern um die Ecke - und plötzlich mit übermütigen Tanzschritten zwei Meter zurück. Dafür werden sie mit einem hundertstimmigen Olé! belohnt, bevor sie ihren Weg fortsetzen.

Cristo de la Macarena [zoom]
Macarena [zoom]

Jetzt ist es an der Zeit, sich durch die Reihen der Nazarenos und Zuschauer in die Calle Parras hinein zu drängen. Hier präsentiere ich auch wieder stolz meine Macarena-Medaille - das hilft hoffentlich bei der Platzsuche. Christina entdeckt eine kleine Lücke, die Platz für eine Person bietet - wir quetschen uns, Entschuldigungen murmelnd, zu viert hinein, der Anblick meiner Medaille besänftigt die Gemüter. Neben uns hat eine resolute Matrone, die offenbar in diesem Haus wohnt, einfach ihren Wohnzimmersessel vor die Tür gestellt und thront dort, als ob ihr die ganze Straße gehören würde.

"Da kommt Sie!", ruft Cayetana. Die Macarena erscheint und die ganze Gasse verwandelt sich in einen gigantischen Balkon, eine Saeta nach der anderen wird Ihr dargeboten, an jedem Balkon muss sie anhalten. "Das kann ja dauern", meint Manuel entmutigt - die stechende Sonne macht ihm zu schaffen. Doch Sie nähert sich - als plötzlich ein gefürchtetes Piepsen verkündet, dass die Akkus meiner Kamera leer sind. Ausgerechnet jetzt! Also muss Manuel alle Fotos machen. Wahrscheinlich wäre ich sowieso zu aufgeregt. Die Begeisterung wogt wie eine Welle durch die enge Gasse, als die Frühlingsgöttin mit dem dunklen Gesicht heran getragen wird.

Macarena [zoom]
Macarena [zoom]

Dann beginnt eine Lawine von Rosenblüten auf sie herab zu regnen, aber nicht irgendwie, sondern mit einer kunstvollen Choreographie: zuerst weiße Blütenblätter, dann rosa, dann rote, Tonnen von Rosenblättern verdunkeln für Minuten den blauen Himmel, rieseln vor dem Gesicht der Macarena herab und als aus diesem bunt schillernden Regen heraus die Saeta von Pastora Soler, einer berühmten Flamenco-Sängerin ertönt, gibt es kein Halten mehr. Reihenweise liegen sich Zuschauer entzückt weinend in den Armen und blicken ihrer Göttin nach, wie sie hinter einem Vorhang aus Blütenregen verschwindet. Todmüde, aber euphorisch, einigen wir uns auf ein "Unentschieden" zwischen unseren beiden Madonnen und marschieren nach 16 Stunden Madrugá ins Bett (nach einem ausgedehnten Mittagsmahl mit Tintenfisch-Frikadellen und frittierten Algen).

Macarena [zoom]
Macarena [zoom]

Karfreitag, 2. April 2010
Als ich um 10 Uhr abends die Capilla del Baratillo erreiche (schon wieder!), empfängt mich Luna mit der üblichen Frage: "Wollen wir nicht gleich ein Gläschen Wein trinken?" Ich antworte ihr schläfrig: "Hör mal, ich hab grad noch gefrühstückt, Müsli mit halb entfetteter Milch zu mir genommen und würde das auch gern bei mir behalten."

Wieder ist es eine Bruderschaft aus Triana, diesmal El Cachorro, die vor der kleinen Kapelle zu ekstatischer Musik sehenswerte Manöver mit ihren Pasos vollführt.

Begeistert erzählen wir Luna, Theresa und Regina, was sie alles in der Madrugá verpasst haben. Aber auch die Costaleros von El Cachorro legen sich mächtig ins Zeug, um das Publikum zu Applausstürmen hinzureißen.

El Cachorro [zoom]
El Cachorro [zoom]

Danach schleppen wir uns mit letzter Kraft zur Gasse Doña María Coronel, wo wir die feierliche Prozession La Mortaja anschauen. Christina, gelehnt an einen Orangenbaum, schläft im Stehen ein und wacht erst auf, als sie - eingehüllt von einer Weihrauchwolke - husten muss.

El Sol [zoom]
El Cachorro [zoom]

Karsamstag, 3. April
Heute gibt es eine ganz neue Bruderschaft mit dem klangvollen Namen El Sol (Sonne) zu bestaunen und wir erwarten sie an der Kathedrale.

Inzwischen haben wir etwas Schlaf nachgeholt und blinzeln in die grelle Siesta-Sonne. El Sol hat einen weiten Weg und kommt aus dem Vorort Platinar. Die Christusfigur ist sehr interessant, präsentiert den Erlöser, wie er das Kreuz umarmt.

Als der Paso der Madonna sich nähert, meint Luna abschätzig: "Also der Baldachin sieht aus wie eine alte Tischdecke meiner Tante." Sie erntet böse Blicke von allen Seiten für diese Bemerkung (obwohl sie nicht ganz unrecht hat).
El Sol [zoom]

Am Abend des Karsamstag stehen wir wie immer am Brunnen der Plaza Santa Isabel, denn die Prozession von Los Servitas, die diesen Platz umkreist, gehört zu den stimmungsvollsten der gesamten Semana Santa. Wenn es nur nicht so kalt wäre! Heftiger Wind lässt das weiße Tuch am Paso der Servitas flattern, von einem Dachgarten werden Kissen und Handtücher herab geweht. Die Träger beschleunigen ihre Schritte, um die Madonna aus diesem Sturm sicher in die Kapelle zu bringen.

Los Servitas [zoom]
Los Servitas [zoom]

Um Mitternacht erwarten wir die letzte Prozession, die Jungfrau der Einsamkeit, auf der Plaza de San Lorenzo. Es ist eine aristokratische Schweige-Prozession, man muss sich also ruhig verhalten. Cayetana flüstert: "Das hat uns gerade noch gefehlt bei der Kälte..." Die Madonna ist nicht die Schönste, aber wohl die älteste der Semana Santa. Die Stimmung auf dem Platz, der ganz im Dunkel liegt, ist mystisch und es wird ein ganzes Saeta-Konzert für die einsam unterm Kreuz stehende Marienstatue geboten. Die Sänger konkurrieren um die Gunst des Publikums. Nach dem fünften dieser Klagelieder murmelt Luna deutlich zu laut "Jetzt reichts aber", denn sie sei dabei, vor Kälte zur Eissäule zu erstarren und muntert die Madonna auf, nun aber schnell in ihre Kirche einzutreten. Als ob die Madonna sie erhört hätte, ist die sechste Saeta die letzte und die Pforten schließen sich hinter Ihr. Wir lassen in der Osternacht die Bilder dieser bewegenden Woche noch einmal auferstehen, als um 1 Uhr nachts der Rotwein kreist und uns aufwärmt. Nach dem ersten Glas beginnen wir, diese Semana Santa 2010 mit vergangenen zu vergleichen, nach dem dritten kommt sie uns genauso wunderbar vor wie die letzte und nach dem vierten Glas Rioja sind wir uns alle einig, dass dies natürlich die grandioseste und unvergleichlichste aller Semanas Santas gewesen ist.

Wieder zu Hause, beende ich diese Chronik mit einem Blick auf ein altes Marmeladenglas des Klosters Santa Paula, das bei mir auf dem Regal steht - ich habe es gefüllt mit den getrockneten Rosenblättern aus der Calle Parras, die auf die Macarena herab regneten.

Text: Berthold Volberg
Fotos: Vicente Camarasa + Berthold Volberg

Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa
(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

Fotogalerie:
Carmen Doloroso [zoom]
Cristo de Burgos [zoom]

Exaltación [zoom]
Exaltación [zoom]

Bruderschaft [zoom]
La Hiniesta [zoom]

El Amor [zoom]
La Hiniesta [zoom]

San Benito [zoom]
Santa Cruz [zoom]


Links
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[druckversion ed 06/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_2] Bolivien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug VII)
In Boliviens Drogenhauptstadt
 
Das Leben scheint sich zum Äquator hin zu potenzieren. Verschwenderisch mutet die Vielzahl an Bäumen, Sträuchern, Gräsern an, die ineinander übergehen, aufeinander aufbauen, symbiotisch und parasitär koexistieren, als habe die Natur Angst, der Platz könne ihr ausgehen, und darum einen Großteil aller Pflanzen in dem schmalen Gürtel angesiedelt, den man die Tropen nennt. Einen halben Meter Flügelspannweite haben hier manche Schmetterlingsarten. Sie segeln durch die hitzegeschwängerte Luft wie kleine Greifvögel. Abends hört man Geräusche in den Böden, Bäumen, Lüften, die sich sammeln zu einem Lärm, als habe jemand den Lautstärkeregler aufgedreht. Überall raschelt und zischt, krächzt und knarzt, schreit und planscht es.

Besucher aus gemäßigten Breiten vermuten Gefahren hinter jedem Baum, jedem Strauch, jedem Grashalm. Für sie sind die Tropen der Inbegriff für Fremdes, Unbekanntes, ein Symbol für Leidenschaft, die zu Fieber wird. Sehnsüchtiges Ziel der einen, Horrorvision für die anderen, die sich in der überbordenden Vielfalt verlieren: Verschwenderische Pracht und bittere Not gehen in dieser Region Hand in Hand. Es ist ein Phänomen, dass die Menschen dort am ärmsten sind, wo die Natur am reichsten ist. Die Tropen ziehen einen Gürtel menschlicher Armut um unseren Planeten. Ob in Ecuador und Bolivien, in Gabun und dem Kongo, auf Sumatra und Borneo: Überall auf der Welt sinkt der Lebensstandard, je näher man dem Äquator kommt.

Die Gesichter Südamerikas
Eine Abenteuerreise durch Argentinien, Chile, Bolivien, Peru und Kolumbien

Thomas Bauer (Autor)

Verlag: Wiesenburg 2009)
ISBN-10: 3940756458
ISBN-13: 978-3940756459, 22,90 €

Erhältlich beim Autor über
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Warum gilt diese Regel so weltumspannend? Kapitulieren wir in den Tropen vor der Übermacht der Natur? Sind wir hilflos in einer Region, die nur intensives Erleben und andauernde Langeweile kennt, Flussdurchquerungen im Dschungel beispielsweise und anschließendes Warten auf besseres Wetter in einer Urwaldhütte? Oder haben wir allzu oft erfahren müssen, dass unsere mühsame Arbeit im Handumdrehen zerstört wurde, das Feld von prasselndem Regen ausgewaschen, das Haus weggeschwemmt, der mit der Machete geschlagene Weg über Nacht von der Natur zurückgeholt?

Es war eine Gegend voller Geheimnisse, in der mich das schwankende Propellerflugzeug absetzte. Ein schepperndes Etwas, vor Jahrzehnten vermutlich aus England importiert, das Lenkrad auf der linken Seite, während sich das Armaturenbrett rechts befand, brachte mich ins Zentrum von "Kokain-City". Der rasante Aufstieg von Santa Cruz de la Selva von einer Ansammlung heruntergekommener Hütten zu einer Stadt fand in den Siebzigern statt, als gleich mehrere Drogenbosse in die Stadtplanung investierten. Dass Santa Cruz nach wie vor ein gefährliches Pflaster war, insbesondere für hellhäutige Touristen, die ihren Blondschopf leuchtfeuergleich durch die Straßen tragen, sollte ich keine drei Stunden nach meiner Ankunft feststellen.

Ich hatte beschlossen, dem städtischen Zoo einen Besuch abzustatten. Die Auswahl an Sehenswürdigkeiten war eng begrenzt; die einzige sehenswerte Kirche befand sich auf dem Weg. Weit und breit war ich der einzige Nicht-Bolivianer. In den schmutzigen Straßen bliesen uralte Autos Abgaswolken aus, mitten ins Spiel der Kinder hinein, die, wenn sie jünger als zehn waren, vor mir davonliefen oder mit dem Finger auf mich zeigten. Waren sie älter als zehn, kamen sie auf mich zu gerannt und hielten die Hand auf. Und natürlich war el niño perdido, "das verlorene Kind", überall mit dabei. So nannte ich in Gedanken den in Fetzen gekleideten, braun gebrannten Straßenverkäufer, der in jedem Dorf auf mich wartete. Wohin ich im Verlauf meiner weiteren Reise durch Südamerika auch kommen sollte, immer würde el niño perdido bereits da sein. Er würde aus dem Busbahnhof stürzen, hinter einer Straßenecke sitzen, vor einem Supermarkt auf und ab gehen. Immer würde er mir die Schuhe putzen, mir einen Schokoriegel oder auch nur eine Wäscheklammer verkaufen wollen. Seine Haare würden schwarz und gelockt und vom Staub der Straßen bedeckt sein. Seine Haut würde alle Schattierungen von Braun aufweisen, braun wie Alpakawolle, braun wie die Ebenen der Pampas im argentinischen Herbst, braun wie das ausgedörrte Gras auf Boliviens Altiplano. Braun mit Schürfwunden darin, mit frischen Narben darauf, braun mit beige gemischt in den Handinnenflächen, die rau waren wie Schmirgelpapier, rau vom Tragen schwerer Waren, die niemand kaufte. Manchmal würde er zehn Jahre jung sein, manchmal auch vierzehn, doch immer würde er die Augen eines Dreißigjährigen haben. Hellwach würden diese Augen um sich blicken, mit einer seltenen Klarheit, die permanent nach Auswegen suchte. Mein Erscheinen, das wusste er, würde kein Ausweg sein, doch es könnte seine Lage kurzfristig verbessern. Gringo, würde er mir darum entgegen rufen, von weitem schon, gringo oder señor.

Von den Kindern abgesehen waren beinahe ausschließlich stämmige Männer unterwegs. Die wenigen Frauen schmiegten sich beim Gehen eng an die Hauswände oder saßen auf dem Boden, um Gebäck anzubieten, das von den vorbeifahrenden Autos mit Abgaswolken umhüllt wurde.

Eigentlich hatte ich vor dem Zoo von Santa Cruz eine Menschenschlange erwartet. Stattdessen war ich anscheinend der Einzige, der heute vorhatte, diesen Ort zu besichtigen. Am Kassenhaus waren die Rollos heruntergelassen. Ein untersetzter Mann trat aus dem Halbschatten des Häuschens auf mich zu. "Heute ist wenig los; da ist nur den Hintereingang des Zoos geöffnet. Kommen Sie, ich führe Sie hin!" Noch bevor ich antworten konnte, hatte er sich bereits in Bewegung gesetzt. Im selben Augenblick meldete sich eine Stimme in mir, die mich eindringlich warnte, ihm zu folgen. Es erschien mir seltsam, dass ein öffentlicher Zoo seine Gäste durch den Hintereingang hereinlassen wollte. Außerdem hatte mir mein stämmiges Gegenüber kaum in die Augen geblickt. Nur den Bruchteil einer Sekunde lang hatte er meinen Blick gestreift und sich dann rasch zum Gehen gewandt. Andererseits hatte ich wirklich Lust auf einen Zoobesuch und konnte nicht ausschließen, dass die Dinge in Santa Cruz anders geregelt wurden als in Europa. Könnte der Hintereingang nicht eine Erklärung für die fehlende Menschenschlange sein? Ich beschloss, meinem selbsternannten Reiseführer zu folgen. Seine schmutzbedeckten Turnschuhe passten zwar nicht zur edlen Stoffhose und dem durchgeschwitzten Hemd, doch insgesamt gab er eine passable Erscheinung ab. Allerdings beschloss ich, soviel wie möglich über ihn herauszufinden.

"Wie heißen Sie und woher kommen Sie?", eröffnete ich mein Fragengewitter. "Mein Name ist Juán. Ich komme aus Ecuador und bin geschäftlich in Bolivien." Das war reichlich vage. Juán war der wohl häufigste Name in Südamerika. Mal sehen, ob "Juán" damit gerechnet hatte, dass ich mich nach meinem sechswöchigen Aufenthalt in Ecuador ein wenig auskannte. "Das finde ich prima, dass Sie aus Ecuador kommen. In welcher Stadt sind Sie denn geboren? In Guayaquil vielleicht, in Cuenca oder in Machala?" Er konzentrierte sich auf die Straße, brummte etwas von "gebürtig aus Machala".

Außer uns war zu dieser Zeit kaum jemand unterwegs. Nur vom anderen Ende der Straße schlenderte uns ein Passant entgegen. "Wie schön, in Machala war ich auch schon!", gab ich mich hocherfreut. "Wie heißt diese nahe gelegene Insel doch gleich, die man von Machala aus mit dem Boot erreichen kann ...?" Mein Gegenüber kam um eine ihn entlarvende Antwort herum, weil uns der Passant erreicht hatte. Er war noch stämmiger als mein Begleiter und warf sich sofort vor uns in Pose. Langsam, wie in Zeitlupe, zog er einen Ausweis aus der Tasche, den er mir vors Gesicht hielt. Policia Nacional, stand auf dem Dokument.

Vor genau dieser Situation war ich gewarnt worden. Für viele Besucher Boliviens waren Polizisten Respektpersonen, deren Wünschen Folge zu leisten war. Ob es sich um einen echten Polizisten handelte oder um jemanden, der so tat, als sei er von der Polizei, war unerheblich: Immer zog diese Masche am besten. Jetzt ging es nur noch darum, einen triftigen Grund zu finden, um mich in ein Auto zu locken. Meine beiden Begleiter nahmen diese Aufgabe unverzüglich in Angriff. "Oh, ein Polizist!", sagte der vermeintliche Ecuadorianer mit schlecht gespielter Überraschung, während sein Komplize die ihm zugedachte Rolle ungleich besser ausfüllte. "Guten Tag, señores. Wir wollen, dass sich unsere Gäste in Bolivien sicher fühlen und führen darum eine Routinekontrolle durch. Dürfte ich um ihre Pässe bitten?" Sofort ging mein Begleiter mit gutem Beispiel voran und legte dem "Polizisten" seinen Pass in die Hände.

In diesem Moment, soviel wurde mir augenblicklich klar, hatte ein Spiel begonnen, das jederzeit in blutigen Ernst umschwenken konnte. Die beiden mussten versuchen, mich möglichst rasch in ihre Gewalt zu bekommen. Ich hingegen musste unser Gespräch so lang wie möglich hinauszögern - bestenfalls bis mehrere Passanten auftauchten. Unglücklicherweise war bislang weit und breit niemand zu sehen.

Die Not machte mich erfinderisch. Quälend langsam durchsuchte ich meine Taschen nach dem Pass. Gleichzeitig führte ich meine Taktik, die beiden durch konkrete Fragen aus dem Konzept zu bringen, weiter. "Dürfte ich bitte Ihren Polizeiausweis nochmals sehen?", beharrte ich. "Na, so was!", gab ich mich daraufhin verblüfft, "da steht Ihr Name ja gar nicht drauf! Wie lautet der denn?"

"Pablo Martínez", brummte mein Gegenüber sichtlich verstimmt über die Verzögerung. Das war ein Name wie bei uns Hans Meier oder Peter Müller. Statt meines Passes zog ich erstmal meinen Notizblock und einen Stift aus der Tasche. "P-a-b-l-o  M-a-r-t-í-n-e-z”, wiederholte ich in Zeitlupe. "Schreibt man "Martínez" mit oder ohne Akzent?" Meinem Gegenüber riss die Geduldschnur und mir wurde klar, dass ich aufpassen musste: Ich durfte den Bogen nicht überspannen. "Hören Sie", fauchte der "Polizist". "Ich muss Sie bitten, mir Ihr Dokument auszuhändigen, wie das von Gesetzes wegen in diesem Staat vorgeschrieben ist!" Er spielte seine Rolle wirklich nicht schlecht. Mir blieb vorerst nichts anderes übrig, als ihm meinen Pass zu überreichen. Noch immer war weit und breit kein Passant zu sehen. Dafür näherte sich unserem Trio ein Taxi, in dem der dritte der Bande saß. Der "Polizist" machte eine Handbewegung, als wolle er das Gefährt anhalten, das daraufhin vor uns zum Stehen kam. Die Aktion war zeitlich ein wenig aus dem Ruder gelaufen. Eigentlich hätte er mir bereits jetzt einen Grund nennen müssen, weswegen wir alle unbedingt in dieses Auto steigen mussten. Das versuchte er nun, ein wenig angestrengt, nachzuholen.

"Wo befindet sich Ihr Impfpass, señor? Wie Sie wissen, ist es in Bolivien Pflicht, ihn mit sich zu führen. Wenn Sie ihn nicht dabei haben, müssen wir zu Ihrem Hotel fahren, damit Sie ihn holen können. Wo sind Sie untergebracht?" Eine Sekunde lang drehte der vermeintliche Ecuadorianer seinen Kopf neugierig in meine Richtung. Deutlich konnte ich sehen, wie seine Augen gierig aufleuchteten. Pech für ihn - ich residierte in einer der günstigsten Absteigen der Stadt. Zum Leidwesen des "Polizisten" trug ich zudem auch meinen Impfpass bei mir.

Ganz am Ende der Straße tauchte die Figur eines Passanten auf, die sich langsam näherte. Zwei Minuten musste ich noch überbrücken. Inzwischen spielte der "Polizist" seinen letzten Trumpf aus. Er warf dem vermeintlichen Ecuadorianer neben mir einen scharfen Blick zu. "Jetzt erst erkenne ich Sie!", rief er aus. "Sie suchen wir doch schon lange!" Zu mir gewandt fuhr er in barschem Tonfall fort: "Señor, Sie reisen mit einem bekannten Kriminellen aus Ecuador. Ich muss Sie beide auffordern, sofort mit mir aufs Polizeirevier zu kommen." Er öffnete die Hintertür des Taxis, in das der "Kriminelle aus Ecuador" erstaunlich bereitwillig einstieg. Ich blickte mich um. Was ich für die Figur eines Passanten gehalten hatte, entpuppte sich als zwei Männer, die auf unser Trio zuschlenderten. Noch waren sie außer Hörweite. Ich musste irgendetwas tun, um zu verhindern, dass ich in dieses Taxi gelangte. "In Ordnung", vermeldete ich bereitwillig, um die Bande zu besänftigen. "Darf ich fragen, zu welchem Polizeirevier wir fahren? Ich würde gern vorher dort anrufen. Nur zur Sicherheit, natürlich. Immerhin sitze ich während der Fahrt neben einem Kriminellen aus Ecuador. Da kann ja wer-weiß-was passieren!"

Endlich waren die beiden Männer in Rufweite gelangt. Der "Polizist" wurde nervös. Unruhig wechselte er von einem Fuß auf den anderen. "Schluss jetzt!", rief er plötzlich und versuchte, mich am Arm zu packen. "Wir fahren jetzt sofort zum Polizeirevier, steigen Sie in das Taxi!" Einer der beiden Passanten hob neugierig den Kopf. Das war meine Chance. Ich riss dem "Polizisten" meine Papiere aus den Händen. "Ich glaube nicht, dass Sie Polizist sind! Keineswegs werde ich in dieses Taxi steigen!", sagte ich betont laut, halb in die Richtung der beiden Passanten.

Die Hand des "Polizisten" fuhr in seine Manteltasche. Ich wartete nicht ab, was er hervorziehen würde, sondern trat mit drei schnellen Schritten von dem Taxi zurück, um mich sofort an die beiden Passanten zu wenden. "Buenos tardes, señores. Können Sie mir sagen, wie ich zum Eingang des Zoos gelange?", rief ich ihnen zu. Ich hörte noch, wie hinter mir eine Autotür zugeschlagen wurde. Dann fuhr das Taxi mit den drei erfolglosen Entführern an mir vorbei. Ohne anzuhalten ging ich zum Haupteingang des Zoologischen Gartens zurück, bezahlte an der mittlerweile geöffneten Kasse und setzte mich auf die erste Bank im Innern des Geländes. Erst hier begann mein Herz wie wild zu schlagen. Schweiß rann mir links und rechts die Wangen herab. Ich wunderte mich, wie gefasst ich während der vergangenen Viertelstunde gewesen war, und dass ich instinktiv das Richtige getan hatte. Viel, das wusste ich, hatte nicht gefehlt: Um ein Haar wäre ich keine vier Stunden nach meiner Ankunft in Santa Cruz entführt worden. Dabei hatte ich Glück gehabt, dass die Bande mit einem ausgeklügelten Plan versucht hatte, mich zu ködern. Sie hätten mir auch einfach ein Messer an die Kehle setzen können. Was wäre passiert, wenn ich die beiden nicht bis zum Eintreffen der Passanten hätte hinhalten können?

Bei jedem kriminellen Akt existiert ein "point of no return" - ein Zeitpunkt, von dem an es kein Zurück mehr gibt und jede Gegenwehr zwecklos ist. Hätten die drei mir ein Messer an die Kehle gesetzt, wäre dieser Moment schnell erreicht gewesen. In meinem Fall war der "point of no return" der Augenblick, in dem ich in das Taxi gestiegen wäre. Umgeben von drei stämmigen Männern, unterwegs in einer fremden Stadt, mit äußerst eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten, wäre ich ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen. Im günstigen Fall hätten sie mich mit Chloroform betäubt. Einen Tag später wäre ich in einem verlassenen Park aufgewacht, ausgeraubt bis auf die Unterhose. Andere, die auf ähnliche Tricks hereingefallen waren, hatten weniger Glück gehabt. Die Kreditkarte eines österreichischen Pärchens wurde eine Woche lang täglich mit dem Maximalbetrag belastet, ehe man die beiden Entführten mit aufgeschlitzter Kehle auffand.

Trotzdem wurde mir, als ich auf der Bank des Zoos saß, klar, dass sich das Verhältnis zwischen der Dreierbande und mir bereits in dem Moment umgekehrt hatte, als die beiden Passanten in Rufweite getreten waren. Als ich diese dann auch noch angesprochen hatte, war die Situation für die verhinderten Entführer definitiv verloren gewesen. Ab diesem Moment mussten sie auf der Hut vor mir sein. Ich kannte ihre Gesichter. Jede Polizeidienststelle würde meinen Ausführungen Glauben schenken. Auf versuchten Raub oder gar Entführung antwortete Boliviens Regierung mit drakonischen Strafen. Sollte ich den "Polizisten" oder den vermeintlichen Ecuadorianer auf einer späteren Runde im Polizeiauto wiedererkennen, drohte ihnen der Knast für den Rest ihres Lebens.

Als ich aufstand gaben meine Knie noch immer nach. Mein Körper zitterte leicht. Ich überwand den Schock erst, als ich von einem phlegmatischen Puma zu einem hektischen Nandu wechselte. Als mich danach eine junge Angestellte des Zoos zum Lamagehege begleitete und mir dabei zugurrte, ich sei "der erste Tourist seit vier Monaten", hatte ich meine Selbstsicherheit wiedererlangt. Trotzdem blieb mein erster Eindruck von Santa Cruz, dass mich die einheimischen Männer überfallen und die Frauen heiraten wollten - wobei ich zeitweilig nicht einmal wusste, vor was ich eigentlich mehr Angst haben sollte.

Am nächsten Tag sollte die Heiratswilligkeit der einheimischen Damen einen gewaltigen Dämpfer erfahren. Spätnachmittags fuhr mich eine Blechbüchse hinaus zum Flughafen. Bis Lima wollten Hannah und ich gemeinsam durch Bolivien und Peru reisen. Drei Wochen hatten wir dafür veranschlagt, was eine lange Zeit war, wenn man vorhatte, sie Tag und Nacht mit jemandem zu verbringen, den man kaum kannte. Entsprechend neugierig musterte ich die Menschentraube, die sich ins Flughafengebäude ergoss, um anschließend in Zweiergruppen auszufransen. Das Ganze erinnerte mich an ein Memory-Spiel. Hatten sich zwei passende Teile gefunden, wurde diese Tatsache per Umarmung bestätigt, bevor man händchenhaltend die Halle verließ. Zusammen mit fünf Bolivianern lehnte ich lässig an einer Wand nahe des Ausgangs, weil das hier so üblich war. Natürlich hatte ich mich zuvor ausgiebiger als gewohnt geduscht und die bessere meiner beiden Hosen angezogen. Zudem war ich frisch rasiert und hatte eine Extraportion Deo auf meinem Körper verteilt. Als eine der letzten löste sich eine Figur aus der Menge, die größer und schlanker war als die meisten um sie herum. Dann stand das gesuchte Memoryteil vor mir, blond und zu meiner großen Freude deutlich hellhäutiger, als ich es nach zwei Monaten in Südamerika war. In den kommenden drei Wochen würde der Großteil des ungläubigen Staunens und der Neugier der Einheimischen auf meine Reisegefährtin übergehen.

Text + Fotos: Thomas Bauer
Website: literaturnest.de



Teil I: Bruna Montserrat erklärt mir ihr Buenos Aires
Teil II: Vom Fluss verschluckt
Teil III: "Gipfelsturm" auf sechstausend Meter Höhe
Teil IV: Am skurrilsten Wallfahrtsort der Welt
Teil V: Bolivianische Dimensionen und fehlende Toiletten
Teil VI: Besuch im "Café Aussichtspunkt"

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[art_3] Brasilien: Brasiliens schönste Küste (Teil 3) (Teil 2/Teil 1)
Zwischen Paraty und Ubatuba
 
Intro: Der Küstenabschnitt zwischen dem historischen Städtchen Paraty, im Süden des Bundesstaates Rio de Janeiro gelegen, und Ubatuba, einem Konglomerat aus etwa 100 Stränden an der Nordküste São Paulos, ist für mich ganz klar der schönste ganz Brasiliens. Zwar trifft man stets Ignoranten, die verneinen, dass São Paulo überhaupt über tolle Strände und atemberaubende Landschaften verfüge, doch die sind wohl noch nie die beeindruckende Küstenstraße entlang gefahren. Was soll’s, ihr Pech halt.

In den beiden ersten Teilen waren wir zunächst in Paraty eingekehrt, danach ging es ein Stückchen weiter Richtung Süden nach Trindade, einem traumhaft schönen Stranddorf mit sensationellen Badegelegenheiten. Als wir uns hier in den warmen Wassern treiben ließen, trugen uns die Wellen über die Grenze des Bundeslandes Rio de Janeiro hinein nach São Paulo.



Im dritten und letzten Teil nun dringen wir weiter nach Süden vor: São Paulos sensationelle Nordküste hinab bis nach Ubatuba: Höhepunkt und Abschluss der Reise. - Soll man sich das Schönste doch stets bis zum Schluss aufbewahren.

Fast unbewohnt ist die Küste auf den ersten Kilometern unseres Weges. Oder zumindest sieht man die kleinen Häuschen nicht, die in den versteckten Buchten liegen. Wir wollen es wagen und eine dieser Buchten ansteuern, fantastische Shrimps soll es da geben. So verlassen wir die Küstenstraße und erklimmen einen dichtbewachsenen Hügel, über eine mit Schlaglöchern übersäte Asphaltstraße immer weiter einer ins Meer hineinreichenden Landzunge folgend.



Oben angekommen erwartet uns ein unglaublicher Blick tief hinab über Strände, in die die aus dem Küstengebirge kommenden Flüsse ihre Wasser ergießen. Kilometerweit reichen die tiefgrünen Berge der Serra do Mar über den Horizont der Bucht von Ubatumirim. Auf der anderen Seite kommen wir an den Strand von Almada. Hier gibt es feine Shrimpsgerichte zu knabbern, gepaart mit weltmeisterhaften Caipirinhas. Der Rückweg wird mühsam werden.



Ubatuba heißt soviel wie "Überfluss an Kanus". Angeblich haben sich die verschiedenen Tupinambá-Stämme zu ihren Beratungen hier getroffen, was die ungewöhnliche Kanu-Ansammlung erklären würde. Hans Staden, der in der Mitte des 16. Jahrhunderts ein Stück weiter südlich den Eingeborenen zuerst in die Finger und dann in den Kochtopf fiel, spricht in seinen Erinnerungen von einem Ort namens Uwatibi, durch den er auf seiner Reise Richtung Norden kam. Gibt es wohl einen schöneren Ort um gefressen zu werden?



Wohl nicht, meinte Staden, dem im letzten Moment doch noch der Tod durch Verspeisung erspart blieb.

Zum Fressen schön ist dafür unser nächstes und letztes Ziel, die Praia do Félix. Wer einmal den idealen Ort für seinen Honeymoon sucht, der sollte einfach hierher kommen und ein Apartment in der Pousada "Praia do Félix" beziehen, durch deren Garten man direkt zum Strand gelangt. Links und rechts fließen kleine Bächlein eisigen Wassers in die Bucht, dazwischen nichts als weißer Sand und von den Wellen rund geschliffenes Gestein.

Wir entspannen uns hier drei Tage und kehren dann zurück in die lärmende Stadt, Ende der Reise, leider!

Text + Fotos: Thomas Milz

Links:
www.praiadofelix.com.br

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[art_4] Bolivien: Ein Platz der Sicherheit und Ruhe
 
Das Kolping-Frauenhaus in Cochabamba ist eine der ganz wenigen Einrichtungen Boliviens, in denen misshandelte Frauen Zuflucht suchen können.

Liebevoll zieht Jenny der kleinen Nicole die Mütze auf dem Köpfchen zurecht und streicht ihr noch einmal über die Wange. 10 Tage ist die Kleine alt – und wäre vermutlich nie geboren worden, wenn es das Kolping-Frauenhaus in Cochabamba nicht gäbe. Vor zwei Jahren trennte sich die heute 34-jährige von ihrem sie prügelnden Mann und zog mit ihren drei Töchtern zurück zu ihren Eltern. Als sie während einer kurzen Affäre wieder schwanger wurde, stellte ihr Vater sie vor die Wahl: Entweder Du treibst ab oder wir schmeißen Dich und Deine Kinder aus dem Haus. Jenny war verzweifelt, sie wusste nicht, was tun. "Ich konnte mein Kind einfach nicht töten, es war doch schon von Anfang an ein Teil von mir!" Eine Träne rinnt ihre Wange hinunter, als sie sich daran erinnert, wie sie mit sich rang. "Aber ich hatte doch auch Verantwortung für meine drei anderen Töchter. Ich hätte doch nicht mit ihnen auf der Straße leben können!" In ihrer Verzweiflung wendete sich Jenny an das Netzwerk für misshandelte Frauen und bekam dort den Tipp, zu Kolping zu gehen.

Maria Teresa Navarro ist die Leiterin dieses Netzwerkes. "Gewalt gegen Frauen ist in Bolivien ein riesiges Problem. Eine Studie hat ergeben, dass von zehn Frauen sieben Gewalterfahrungen gemacht haben." Immer wieder kommt es vor, dass Frauen von ihren tobenden Ehemännern schwer verletzt oder sogar getötet werden. "Aber es gibt kein Gesetz, das die Frauen wirksam schützt. Selbst wenn eine Frau so schlimm misshandelt wird, dass sie ein Auge verliert, kommt ihr Mann mit einem Tag gemeinnütziger Arbeit davon." Es gibt in Bolivien keine staatlichen Mechanismen, die Frauen vor Gewalt schützen würden. Die Polizei schreitet nicht ein, wenn ein Mann seine Frau schlägt oder der Großvater seine Enkelin missbraucht. So etwas gilt als Privatangelegenheit, und Frauen, die sich aus dieser Situation befreien wollen, bleibt in aller Regel nur, bei Freunden oder Verwandten Unterschlupf zu suchen oder auf der Straße zu leben. Denn in ganz Bolivien gibt es nur sechs Frauenhäuser.

Man kann sich also vorstellen, wie viele Frauen jeden Tag beim Maria Teresa vorsprechen und um Hilfe bitten. Vielen kann sie nur zuhören und Ratschläge geben, wie sie sich am Besten verhalten sollen. Aber in besonders extremen Fällen reicht sie eine Telefonnummer weiter: Die von Beatriz Iglesias. Beatriz sitzt in ihrem winzigen Büro im Kolping-Frauenhaus. Auf ihrem Schreibtisch türmen sich Akten und Papiere, ständig klingelt das Telefon. Von hier aus koordiniert sie Anwälte, Ärzte und Psychologen, organisiert den Kolping-Kindergarten und einen Verkaufsstand auf einem Markt, kümmert sich um die Rechnungen und hat bei all dem immer ein offenes Ohr für die Frauen, die hier Zuflucht gefunden haben. "Wir haben hier 14 Appartements, in denen die Frauen mit ihren Kindern wohnen", erklärt sie. "Wir sind immer voll belegt, manchmal müssen sich auch zwei Frauen ein Apartment teilen." Normalerweise können die Frauen maximal vier Monate in dem Frauenhaus wohnen. Nur Schwangere dürfen bis zwei Monate nach der Entbindung bleiben. "Länger geht nicht, der Andrang ist einfach viel zu groß und ich muss auch anderen Frauen, die unsere Hilfe brauchen, einen Platz anbieten können."

Vier Monate in Sicherheit, ohne die ständige Sorge, dass jede Minute etwas Schlimmes passieren könnte, mit Menschen, die einem zuhören, die Kraft und Halt geben – das kann ein ganzes Leben verändern. Wenn Giovanna an ihre Zeit bei Kolping zurück denkt, dann fühlt sie vor Allem eines: Dankbarkeit. Sie verließ ihren Lebensgefährten, nachdem ihre 11-jährige Tochter ihr anvertraut hatte, dass sie von ihm missbraucht wurde. Ihre Familie gab dem Kind die Schuld daran und wollte sie nicht aufnehmen. "Ich war völlig geschockt", erinnert sie sich. "Ich fühlte mich schuldig und wusste einfach nicht, was ich machen sollte. Doch mir war klar: Du musst hier raus und Deine Tochter in Sicherheit bringen." Ihr Geld reichte gerade mal für eine Nacht in einem billigen Hotel, dann stand sie auf der Straße. "Kolping hat uns gerettet. Ich konnte zur Ruhe kommen und Kraft schöpfen. Und ich habe hier gelernt, Bonbons herzustellen, die ich verkaufen kann. So wurde ich finanziell unabhängig und musste nicht aus Geldnot zu meinem Ex zurück." Heute lebt Giovanna mit ihrer Tochter in einer eigenen Wohnung. "Es tut immer noch weh, wenn ich an das denke, was passiert ist. Aber wir haben jetzt einen Weg gefunden, damit zu leben und können wieder in die Zukunft blicken." Obwohl Giovanna schon eine ganze Weile nicht mehr im Kolping-Frauenhaus lebt, steht sie weiter in engem Kontakt. Heute trifft sie sich noch einmal mit der Psychologin Rivé Zulema Callegas zu einem Abschlussgespräch. "Ich arbeite jede Woche zwei Nachmittage für das Kolping-Frauenhaus", berichtet die ehrenamtliche Helferin. "Ich bin von dem Konzept, das dahinter steckt, absolut überzeugt, sonst würde ich das nicht machen."

Beatriz hat eine ganze Gruppe von Helfern gefunden, die die Frauen ehrenamtlich unterstützen. Einen Anwalt, der hilft Scheidungen durchzufechten. Eine Kinderärztin, die sich um die Kleinen kümmert. Eine Psychologin für die Frauen und eine Psychologin, die auf Kinder spezialisiert ist. Und natürlich Kaiser, der Schäferhund, der ständig am Tor steht, wütende Ehemänner in Schacht hält und ein Gefühl der Sicherheit gibt. Sie alle helfen mit, das Konzept des Kolping-Frauenhauses umzusetzen. "Wir sind hier kein kostenloses Hotel, sondern vielmehr ein sicherer Ort, an dem die Frauen das bekommen, was sie brauchen, um wieder auf die Füße zu kommen", fasst Beatriz den Ansatz zusammen. Wer hierher kommt, erhält ein einfaches, aber voll ausgerüstetes kleines Apartment mit eingerichteter Küche, Bad, Schlaf- und Wohnzimmer. Die Frauen müssen die Lebensmittel für sich und ihre Kinder selber kaufen und auch einen Beitrag zur Strom- und Wasserrechnung bezahlen. "Wir helfen ihnen dabei, eine Möglichkeit zu finden, Geld zu verdienen zu. Wir haben hier Arbeitsräume, in denen Bonbons, Tischdecken und Dekorartikel hergestellt werden, die wir auf Messen und Märkten verkaufen. So können die Frauen ihren Kostenanteil finanzieren und lernen zugleich etwas, womit sie später ihren Lebensunterhalt bestreiten können." Die Arbeit hat noch einen weiteren positiven Effekt: Weil die Frauen etwas zu tun haben, drehen sich ihre Gedanken nicht ständig um das, was sie erlebt haben.

Finanziert wird die Arbeit des Frauenhauses zum größten Teil mit Spendengeldern aus Deutschland. Doch ein Viertel des benötigten Geldes bringen Beatriz und ihr Team selber auf. Sie verkaufen nicht nur Selbstgemachtes, sondern betreiben einen Kindergarten, den sowohl die Kleinen der misshandelten Frauen kostenfrei, aber auch Kinder aus der Nachbarschaft gegen Entgelt besuchen. Und sie bieten Fortbildungskurse mit anerkannten Zertifikaten an.

Jenny hat so einen Kurs besucht. Stolz zeigt sie die Urkunde, die ihr bescheinigt, dass sie auch gelernt hat, behinderte Kinder zu betreuen. "Mit diesem Zertifikat wird es kein Problem sein, einen Job zu finden, mit dem ich meine Töchter ernähren kann", sagt sie und lächelt. In der Zwischenzeit will sie Seifen verkaufen. Bei Kolping hat sie gelernt, diese hübsch zu verzieren und sie hat bereits einen Laden gefunden, der diese kleinen Kunstwerke in Kommission nehmen wird. Sieben Monate war sie in der Obhut des Frauenhauses. Eigentlich sollte sie noch eine Weile im Wochenbett liegen, doch stattdessen packt sie ihre Sachen. In drei Tagen wird sie mit ihren vier Töchtern in ihre eigene kleine Wohnung ziehen. "Ich bin Kolping unendlich dankbar dafür, dass ich hier in dem Frauenhaus Zuflucht finden konnte", sagt Jenny und sucht eine zweite Socke. Bei dem Gedanken, es nun zu verlassen, wird sie etwas wehmütig. "Wir haben uns hier behütet und zu Hause gefühlt. Aber jetzt kann ich mein Leben wieder selber in die Hand nehmen und deshalb ist es Zeit für uns zu gehen und den Platz für andere Frauen frei zu machen, die dringender Hilfe benötigen."

Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den Ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

Titel: Bolivien Kompakt
Autoren: Katharina Nickoleit
252 Seiten
ISBN 978-3-89662-364-5
Verlag: Reise Know-How
2. Auflage 2009

Text + Fotos: Katharina Nickoleit

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[kol_1] Grenzfall: Anas letzte Hungerattacke
 
Stopp den Wagen! Da ist was im Busch. Die Rinderherde dort ist aufgebracht und die meisten Rinder ergreifen die Flucht. Das passiert nur, wenn sie sich bedroht fühlen...















...dann sahen wir den Grund: Eine große Wasserschlange hatte sich einer trächtigen Kuh genähert. Sofort stellte sich der Leitbulle der Herde zwischen die neun Meter lange Anakonda und ihr vermeintliches Opfer. Auf diesen Augenblick wiederum schien die Schlange nur gewartet zu haben, denn von Beginn an hatte sie den Kopf der Rinderherde als ihren Kampfgefährten auserkorenen.

Ansatzlos sprang sie mit einem Satz von sechs Metern dem Bullen an die Lefze, biss sich fest und nahm ihren tonnenschweren Gegner in den Würgegriff. Der Stier vollführte daraufhin einen Veitstanz und die Schlange wurde hin und her geschleudert. Er erwischte mit seinen Hufen mehrmals den Schwanz der Schlange und fügte ihr so große Schmerzen zu. Sie war gezwungen, ihren Würgegriff zu lockern. Von nun an wirbelten die beiden zu unserem Leid soviel Staub auf, dass uns die Sicht verwehrt blieb.

Minuten später verstummte das fürchterliche Fauchen der gewaltigen Anakonda und lediglich das heftige Schnaufen des Bullen drang über die Steppe.

Als sich der Staub legte, stand nur noch der Bulle. Er war mit Bisswunden übersät, aber stolz und mächtig mit weit aufgerissenen Augen und Nasenlöchern. Nun, als wolle er aller Welt seinen Erfolg verkünden, stolzierte er erhobenen Hauptes vorbei an seiner Herde, den vom Rumpf getrennten Kopf der Anankonda an seiner Lefze baumelnd.

Fotos: Frank Sippach
Text: Dirk Klaiber

Tipp:
Detaillierte Informationen zu Reisen in Venezuela:
Posada Casa Vieja Mérida



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[kol_2] 200 Jahre Befreiung: Eine Kultur in Stücken (Teil 2) (Teil 1)
Modernisierungshemmnisse der lateinamerikanischen Regionalkultur

Der erste Teil des Artikels befaßte sich mit dem iberischen Erbe, den hemmenden Machtstrukturen, der lateinamerikanischen Heterogenität und anderen Faktoren, die für das ‚Hinterherhinken‘ der lateinamerikanischen Regionalkultur im interregionalen Vergleich verantwortlich sind. Im zweiten Teil geht es nun um die institutionellen Strukturen, die technische Kultur und den Kulturtransfer, die auch Hemmschuh für eine Modernisierung sein können. Schließlich wird nach den Charakteristika der Modernisierung angesichts dieser Hemmnisse gefragt und es werden mögliche Wege der Modernisierung aufgezeigt.

Dr. Eßer, Klaus
Modernisierungshemmnisse der lateinamerikanischen Regionalkultur
Berichte und Gutachten Nr. 4/1998, 114 S.
Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Berlin 1998

Unfertiger Nationalstaat
Als sechster Hemmfaktor bei der Modernisierung der lateinamerikanischen Staaten erweist sich der unfertige Nationalstaat. In Lateinamerika entstand kein Nationalstaat, der eine verbindende und verbindliche Kulturerfahrung darstellt. Zum einen fehlte eine politische und wirtschaftliche Führungsgruppe mit homogenisierendem und modernisierungsorientiertem Gestaltungsinteresse. Zum andern blieben die Entwürfe einer bürgerlichen Gegenwelt durch die reformistischen Gruppen schwach. Teile der Intelligenz setzten auf revolutionäre Entwürfe; revolutionäre Kräfte gewannen jedoch außer auf Kuba nur vorübergehend an Bedeutung. Während der Nationalstaat in den heutigen Industrieländern als Triebkraft gesellschaftlicher Mobilisierung und technisch-industrieller Dynamik wirkte, blieb er in Lateinamerika schwach und ineffektiv. Er vermochte, da entschiedene modernisierungsorientierte Führungsgruppen fehlten, der Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt keine eindeutige Richtung zu geben. Eine Folge ist ein Mangel an Synchronisation, der in vielen gesellschaftlichen Sphären und zwischen diesen zu beobachten ist. In Lateinamerika ist die kollektive Identität, die der Nationalstaat stiftet, wenig ausgeprägt. Sie ist jedoch eine zentrale Bedingung der institutionellen, wirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Dynamik sowie der Sicherung der liberalen Option und der demokratischen Grundrechte. Mangels gemeinsamer Interessen und Ziele erwies sich bisher ein gemeinsames Handeln im Nationalstaat als nicht möglich. Da keine Gruppierung ein 'nationales Projekt' durchsetzte, blieben die nationalstaatlichen Handlungsspielräume nach innen und außen unerschlossen. Vor allem deswegen standen die Länder der Region in der Regel für interne und externe Einflussnahmen offen.

Ist aber unter den Bedingungen der Markt- und Weltmarktorientierung der Weg zu Bürgertum und Bürgergesellschaften, zu einer Gesellschaft als integrierter, relativ autonomer und demokratischer Wissensgemeinschaft mit kollektiver Identität, nachholbar? Kann ein Nationalstaat als Träger der Souveränität und Wegbereiter zu einem ausdifferenzierten Wirtschaftssystem und einer modernen Gesellschaft aufgebaut werden? Oder setzt sich infolge der Globalisierung weltweit eine Dekomposition der nationalen Gesellschaften durch? Eine solche würde, zumal sich eine globale Vergesellschaftung nicht einmal abzeichnet, in den fragmentierten Gesellschaften Lateinamerikas bald zu einer chaotischen sozialen und politischen Zuspitzung führen.

Der gegenwärtig beliebten Auflösung des Nationalstaates im globalen und lokalen Dunst wird hier das Konzept der Mobilisierung der räumlichen und funktionalen Interventionsebenen, auf die der Nationalstaat Einfluss zu nehmen vermag, entgegengesetzt. Freilich wird der Weg vom zentralistischen, überbürokratisierten, wegen Beschäftigungs- und Verstaatlichungspolitiken quantitativ aufgeblähten, zugleich fragmentierten, partikularistischen Interessen offen stehenden Staat hin zu einem starken und effektiven Nationalstaat in den Ländern Lateinamerikas nicht kurz sein. Der relativ effektive Staat Chiles vermag allerdings die Preisentwicklung, den Wechselkurs, Zinsen, Beschäftigung und die Lage der armen Bevölkerung durchaus zu beeinflussen. Er modernisiert die Institutionen, z.B. das Rechtswesen, und baut moderne mesoökonomische Institutionen, z.B. CORFO und ProChile, die der Wirtschaftsförderung dienen, auf. Er treibt die Systemintegration voran; für eine 'systemische Wettbewerbsfähigkeit' allerdings sind Institutionen und Unternehmen zu schwach.

Unterforderte Unternehmen, unentfaltete technische Kultur
Die IIS räumte den vermögenden Schichten und den Einwanderergruppen anfangs erhebliche Chancen wirtschaftlicher Differenzierung ein. Mangels marktorientierter Anreize wuchsen jedoch sogar in den relativ fortgeschrittenen großen Ländern der Region nur wenige produktivitätsorientierte Unternehmen heran; noch geringer war die Zahl innovativer und wettbewerbsfähiger lokaler Unternehmen. Der Kapitalismus in Lateinamerika war nicht systematisch angelegt und blieb ohne die ihn anderswo auszeichnenden Antriebskräfte, damit ohne Expansions- und Zukunftsorientierung. Entschiedene Anstrengungen zur Entfaltung des nationalen Wettbewerbsvorteils und der regionalen Standortvorteile blieben aus. Beispiele sind die Vernachlässigung der nationalökonomischen Erziehung und der traditionell ebenfalls schwachen technischen Kultur. Auch aus diesen Gründen kam es zu einer lediglich quantitativen, bald an Dynamik verlierenden industriellen Expansion, die sich zunehmend ungünstig auf die ohnehin schwache Tendenz gesellschaftlicher Integration auswirkte.

Mit der Marktorientierung tritt ein grundsätzlicher Wandel der Rolle der Unternehmen ein. Bisher durchlaufen allerdings kaum mehr als 15 % der Unternehmen, immerhin die größeren, entscheidende Modernisierungsprozesse. Nur langsam verstärkt sich die Tendenz zu einer intensiveren Nutzung des enormen Rationalisierungspotentials der Unternehmen, zu Kundennähe, Marktkenntnis und Export sowie zu einem funktionalen und lokalen Unternehmensverbund. Der Druck der Unternehmen auf den Staat, sich zu rationalisieren, den nationalen Wettbewerbsvorteil auszubauen und die regionale Standortqualität zu erhöhen, ist bisher gering. Der Aufbau eines dichten Netzes technologie-, produktions- und exportbezogener kommerzieller Dienstleistungsunternehmen sowie öffentlicher Wirtschaftsförderung steht erst am Anfang.

Während der Schumpetersche Wettbewerb als Innovationswettlauf in den Industrieländern sogar bei neoliberaler Makropolitik ein Denken und Handeln in industriepolitischen Zusammenhängen zur Folge hat, bestehen in Lateinamerika eine Reihe von Charakteristika weiter, die schon bisher die Wirtschaft prägten: Die weltmarktbezogene Spezialisierung im Bereich von Gütern mit niedriger Wertschöpfung verstärkt sich. Es bleibt bei der nachhinkenden lokalen Reproduktion von Industriemustern, obwohl der Nachvollzug, insbesondere im Falle einiger Branchen mit starker Präsenz multinationaler Konzerne, schneller als früher stattfindet. Auch die Konsummuster werden zügiger übernommen. Die Spar- und die Investitionsquote bleiben, von Ausnahmen abgesehen, gering. Die Humankapitalausstattung und die technologische Dimension werden weiterhin vernachlässigt. Auch fehlen Anreizsysteme, um die Übertragung, Diffusion und Nutzung neuer Technologien zu intensivieren. Die industrielle Dynamik nimmt vor allem in den beiden neueren regionalen Integrationsgruppen (NAFTA, MERCOSUR) zu.

Gewöhnung an Kulturtransfer
Gemeinsam ist den Gesellschaften der Region, dass sie von Anfang an, in den einzelnen Entfaltungsphasen unterschiedlich intensiv, neuerdings jedoch umfassend, einem Kulturtransfer ausgesetzt sind, der sich auf Artefakte sowie Denk- und Handlungsmuster erstreckt. Diese Feststellung verlangt eine Erläuterung:
  1. Die Vorstellung einer selbstproduktiven, homogenen Kultur ist widerlegt. Kulturen durchdringen sich gegenseitig: Kultur ist eine Geschichte von Aneignungen. Gesellschaften verbinden materielle Artefakte und symbolische Gebilde unterschiedlicher Herkunft miteinander und integrieren sie in ihre Lebenskonzepte. Alle National- und Regionalkulturen weisen gegenseitige und auch einseitige Einflüsse von außen her auf.
  2. Es kommt darauf an, wie Außeneinflüsse in das eigene kulturelle Profil einbezogen werden. Gibt es ein eigenständiges Kulturprofil, das durch eine starke wirtschaftliche Basis und Dynamik sowie von einer integrierten, zumindest in zentralen Bereichen aktiven Gesellschaft getragen wird, stellen die Verarbeitung und Einordnung des transferierten Kulturgutes kaum ein Problem dar, wie sich in Japan und heute auch in anderen Gesellschaften Asiens zeigt. Dort besitzen Fiktionen (Werte, Geschichtsbilder, Nation, soziale Ideen) eine hohe Verbindlichkeit; sie ermöglichen eine Abgrenzung der eigenen Kultur von fremden Kulturen und Einflüssen. Staaten dieses Typs gelingt, sofern sich ein entsprechender politischer Wille durchsetzt, ein gerichteter Kulturtransfer zwecks industriell-technologischen Aufholens und des Aufbaus moderner Gesellschaften. Ihr spezifisches Kulturprofil drückt einen jeweils neuen Verbund zwischen Lokalem und Fremdem aus. Die kulturelle Synthesefähigkeit erlaubt eine Verarbeitung des Know-how-Transfers im nationalen Interesse.
  3. Der lateinamerikanische Kulturkreis weist seit fünf Jahrhunderten mannigfaltige Außeneinflüsse auf; er überlappt sich vielfältig mit dem europäischen und dem angloamerikanischen Kulturkreis. Von ihm gehen seit den zwanziger Jahren Einflüsse, vor allem der Literatur und Malerei, auf die intellektuelle Kultur anderer Regionen aus. Weil in Lateinamerika angenommen wurde, der Kulturtransfer sei dauerhaft einseitig und übermächtig, setzte seit Ende des letzten Jahrhunderts ein Selbstfindungsprozess (z.B. chilenidad, América Latina) ein. Dieser richtete sich einseitig auf die Abwehr von Außeneinflüssen, nicht jedoch auf eine neue Synthese, zum einen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zum andern zwischen der technischen und der intellektuellen Kultur. Wegen der Erfahrungen mit Kolonialismus und Imperialismus schienen die innovativen Kulturen des Nordens nicht nachahmenswert zu sein; daher wurde auch die eigene Fähigkeit zu Kulturtransfer vernachlässigt.
Die Gewöhnung an Kulturtransfer führte, so paradox dies klingt, zu Lernimmunität, und zwar vor allem im Hinblick auf die institutionelle und technische Kultur der Industrieländer. Bei Einreihung in die Gegenexpansion zum Kapitalismus der Industrieländer schien ein eigenständiger Zweiter oder sogar ein Dritter Weg offen zu stehen, ein Weg an den Industrieländern vorbei, kein Einholen, sondern ein Überholen, keine neue Synthese, sondern eine Alternative. Die Art, wie diese Ziele in Lateinamerika angegangen wurden, ist charakteristisch. Zum einen ermöglichten immer neue politische Kompromisse zwischen traditionellen und proindustriellen Gruppierungen nur den Verbleib im Kapitalismus, allerdings mit dem Staat als Motor, während der Markt an Bedeutung verlor. Zum andern starrte die Intelligenz auf externe Faktoren als vermeintliche Ursachen nationaler und regionaler Unterentwicklung, statt sich auf eine eigenständige Entfaltung der institutionellen und technischen Kultur als Basis gesellschaftlicher Modernisierung zu konzentrieren. Endogene Faktoren, spezifische Charakteristika der lateinamerikanischen Regionalkultur, bewirkten, dass der enge Rahmen der jeweiligen Modernisierungsmöglichkeiten nicht genau ermessen, sondern übersehen wurde. Selbstfindung ohne gerichteten Know-how-Transfer, ohne neue Synthese, ohne einen starken und effektiven Nationalstaat und eine systematische kapitalistische Produktion führt, wie sich auch in Afrika und im Nahen Osten zeigt, in die Irre. Die eigenen Probleme bleiben ungelöst, während sich der industriell-technologische Rückstand zu den modernen Gesellschaften unaufhörlich vergrößert.

Modernisierungsschübe statt anhaltender Modernisierungsdynamik
Die acht Komplexe von Modernisierungshemmnissen sind für die starke Tendenz der Gesellschaften Lateinamerikas verantwortlich, sich in der Richtung, die in ihren überkommenen Wirtschafts- und Machtstrukturen sowie eingeübten Denk- und Handlungsmustern vorgegeben ist, zu entfalten und zu wandeln. Kontinuitätsbrüche, qualitative Sprünge, blieben aus; es kam zu einer ruck- und stückweisen Modernisierung.

Die Modernisierungsschübe beleben Wirtschaft und Gesellschaft eine Zeitlang von innen und/oder außen her, erweisen sich jedoch als unzureichend, um das Wirtschaftswachstum dauerhaft zu dynamisieren und die Erwerbsbevölkerung wesentlich auszuweiten. Sie erlauben es nicht, einem weiteren Rückfall gegenüber Europa, Nordamerika und Ostasien zu begegnen. Der Kulturtransfer vermag wenig, solange die traditionellen Wirtschafts- und Machtstrukturen sowie Denk- und Handlungsmuster übertüncht, nicht aber beseitigt werden. Wird einseitig auf eigenständige Ansätze (z.B. Industrialisierung) abgestellt, wie während der industriellen Importsubstitution (IIS), ist bald deutlich, dass die lokale Fähigkeit, geeignete Organisations- und Steuerungsmuster zu entwerfen, nicht ausreicht. Ergebnis eines solchen Ausweichens vor dem Kapitalismus der Industrieländer, wie begründet dieses auch sein mag, ist ein industrielles Nachhinken, das die traditionellen politischen Kräfte stärkt, und so dauerhafte Machtverschiebungen zugunsten der proindustriellen Gruppierungen verhindert.

Der neue Modernisierungsschub in Lateinamerika macht deutlich, dass sich dort im Zeitraum 1930 - 1990 ein enormer Rationalisierungsrückstand im Vergleich zu den Industrieländern aufbaute. Dies gilt für Politiken, Institutionen und Instrumente, den Staat und die intermediären Organisationen, die Unternehmensstruktur oder die technologische Kompetenz. Zugleich aber zeigt die einseitige Marktorientierung, dass Kulturtransfer, zunächst der neoliberalen Makropolitik, zunehmend auch anderer Elemente, einen Rationalisierungsschub, nicht aber einen dynamischen Modernisierungsprozess ermöglicht. Mit dem Wegfall der Einbindung von Bevölkerungssegmenten in reformistische und revolutionäre Gruppen, der Schwächung der politischen Parteien und Gewerkschaften sowie der radikalen Deregulierung, nehmen in Lateinamerika die Kriminalität sowie die Staatsausgaben, um diese zu bekämpfen, stark zu. Die Ausgaben für Verbrechensbekämpfung - die neue Korruption wird noch kaum bekämpft - steigen in immer mehr Ländern schneller als jene für die sozialen Dienste. Soziale Unruhen werden auch von den neoliberalen Kräften erwartet.

Die starke Tendenz zu modernisierungshemmender Kontinuität in Lateinamerika resultierte aus intern verursachten Hemmnissen, welche ursprünglich extern verursachte Hemmnisse verstärkten. Die Insuffizienzen und Deformationen sind keineswegs nur aufgezwungene Folgen des Kolonialisierungsprozesses. Sie ergeben sich, dies wird in diesem Jahrhundert besonders deutlich, aus eigenständigen Konzeptionen (z.B. der dirigistischen IIS), die den wachsenden Rückstand zu den Industrieländern vernachlässigten sowie aus schwer nachvollziehbaren wirtschafts- und sozialpolitischen Fehlleistungen.

In Lateinamerika zeigt sich erneut, dass es keinen Weg an der Moderne vorbei gibt. Allerdings geht es nicht um Nachahmung und Nachholen, sondern um eine eigenständige Modernisierungsdynamik. Letztere verlangt einen politischen Willen, sie durchzusetzen, die Überwindung der akkumulierten Modernisierungshemmnisse, die Mobilisierung der Gesellschaft über den Nationalstaat sowie eine ausgeprägte Kraft zur Synthese zwischen den eigenen und den transferierten Kulturgütern. Erst diese Synthese ermöglicht die Mobilisierung des endogenen Potentials, indem die Erfahrungen der heutigen Industrieländer genutzt werden und der eigene Modernisierungsprozess durch ein Einklinken in deren Modernisierungsdiskussion befruchtet wird. Ein großer Aufbruch zeichnet sich in der Region nicht ab.

Gesellschaften sind nicht dauerhaft nur von außen oder innen her geprägt. Sie sind weder Marionetten ihrer Geschichte und Kultur, noch lediglich Exekutivausschüsse des Großkapitals oder Vollstrecker externer Interessen oder gar der Weltmarktbedingungen, wie Vereinfacher meinen. Die Gesellschaften Lateinamerikas müssen - wie andere Gesellschaften auch - hauptsächlich aus eigener Kraft mit internen und externen Anforderungen zurechtkommen. Nach dem Konzept der endogenen Entwicklung stehen Gemeinden, Regionen, Nationalstaaten und regionale Integrationsgruppen vor der Aufgabe, die jeweils eigenen Reserven zu erkennen und die latent vorhandenen Potentiale auszuschöpfen. Alle Gesellschaften stehen im Laufe ihres Modernisierungsprozesses vor ähnlichen Aufgaben. Sie müssen sich mangels Alternative am jeweiligen Grobmuster orientieren, ihren Modernisierungspfad jedoch selbst suchen, Hemmnisse abbauen und ein spezielles, an den eigenen Gegebenheiten und externen Anforderungen orientiertes Profil ausprägen. Ungleichgewichte in und zwischen den Gesellschaften sind, weil der Modernisierungsprozess komplex und schwierig ist, kaum zu vermeiden. Die Tendenz zu weltweiter Uniformierung erstreckt sich auf wenige, überwiegend oberflächliche Merkmale. Weitaus stärker ist die Tendenz zu weltweiter Einheit in Vielfalt.

Die Modernisierungshemmnisse und -schübe verdeutlichen, dass die Gemeinsamkeiten der Länder Lateinamerikas so stark sind, dass von einem regionalen Kulturmuster gesprochen werden kann. Dies schließt nicht aus, dass ihre Geschichte und ihr Profil recht unterschiedlich ausfallen. Wie schon während der IIS wird sich die Differenzierung zwischen den Modernisierungsniveaus, der einzelnen Länder fortsetzen.

Es gibt sogar Anzeichen dafür, dass deren Dynamik noch unterschiedlicher als schon bisher ausfallen wird. Eine Ursache unterschiedlicher Modernisierungsdynamik liegt in der Anpassung der Wirtschaftspolitik an nationale Gegebenheiten. Eine weitere Ursache ergibt sich aus der Intensität der Orientierung am Grobmuster der Industrieländer. Hinzu kommt die unterschiedliche Kraft zur Synthese.

Die Unentschiedenheit nach innen zieht eine Unentschlossenheit nach außen nach sich: Die militärisch ausgetragenen Konflikte in der Region pflegen sich aus innenpolitischen Problemen sowie Ansprüchen auf den Grenzverlauf zu ergeben. Letztere werden nicht selten durch ausländische Gesellschaften mit Rohstoffinteressen forciert. Die Konflikte resultieren also nicht aus einer fortschreitenden nationalstaatlichen Affirmation. Mexiko verlor bald nach Erringung seiner politischen Unabhängigkeit einen großen Teil seines Territoriums an die USA, nahm jedoch Guatemala Land ab. Bolivien verzichtete unter Druck Brasiliens auf das Acre-Gebiet, unter dem Druck Chiles auf seinen Zugang zum Meer. Paraguay verlor nach dem Krieg mit der Dreier-Allianz (Argentinien, Brasilien, Uruguay) bedeutende Teile seines Gebietes, setzte jedoch im Chaco-Krieg gegen Bolivien seine Ansprüche durch. Für zahlreiche militärische und noch mehr politische Interventionen, insbesondere in zentralamerikanischen und karibischen Ländern (Panama, Dominikanische Republik, Haiti, Grenada usw.), sind die USA verantwortlich. Diese Interventionen dienten der Stabilisierung; die Bedingungen für Modernisierung verbesserten sie nicht.

Von einem pragmatischen Wirtschaftsnationalismus, wie er in Industrie- und Industrialisierungsländern üblich ist, sind die Staaten Lateinamerikas weit entfernt. Zumindest solange sie auf hohe Kapitalimporte angewiesen sind, um Stabilität und Wachstum zu sichern, bleiben sie Preis- und Konditionennehmer. Vielleicht wachsen im Rahmen der Marktorientierung wettbewerbsstarke Unternehmen und politische Akteure heran, die nationale wirtschaftliche und politische Interessen nach außen artikulieren. Gegen die These vom "Aufeinanderprall der Kulturen" sprechen nicht nur die Schwäche und Ineffektivität der Nationalstaaten, sondern auch andere Faktoren: die Eingliederung Mexikos in die US-dominierte NAFTA, die handelspolitische Anbindung des zentralamerikanisch-karibischen Raums durch die ‚Caribbean Basin Initiative‘ (CBI) sowie die internen Probleme des im Aufbau befindlichen MERCOSUR. Der strategischen Handelspolitik der USA in den neunziger Jahren haben die Länder Lateinamerikas wenig entgegenzusetzen. Die Zuwachsraten des jeweils bilateralen Handels liegen auf Seiten der USA deutlich höher.

Kontinuitätsbruch durch Reformprozess oder Krise?
Die Industriegesellschaft beruht auf der Industrieökonomie sowie modernen Denk- und Handlungssystemen (Naturwissenschaften, Technik, Recht, Ideologie, Philosophie usw.). Der ökonomische Rationalisierungsprozess Industrieökonomie prägt diese Systeme und wird von ihnen geprägt. Die Wechselwirkung ist fruchtbar, weil die einzelnen Teilsysteme der Industriegesellschaft integriert, relativ autonom, jedoch aufeinander abgestimmt sind. Die Einordnung der Teilsysteme in den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang, ihre Separierung voneinander sowie ihre Kommunikation miteinander ergeben sich aus einem langen experimentellen Prozess. Im Verlaufe dieses Prozesses prägt eine jede Industriegesellschaft ihr spezielles nationalstaatliches Profil aus. Die Industriegesellschaften umfassen eigene und fremde Kulturelemente, z.B. transferierte Denkansätze, die häufig kaum noch als ursprünglich fremde Ansätze erkennbar sind. Diese Gesellschaften befruchten einander. Gerade ihr spezifisches Profil ermöglicht es, Art und Qualität des Kulturtransfers zu beeinflussen. Die transferierten Kulturgüter werden in den eigenen Lernprozess eingepasst; hierbei wird, soweit dies erforderlich zu sein scheint, das eigene Profil an neue soziale, technisch-organisatorische und weltwirtschaftliche Anforderungen angepasst. Die Veränderung des Arrangements vor Ort erweist sich manchmal als schwierig und langwierig. In der Regel werden jedoch starr gewordene Strukturen in einigen Jahren überwunden. Solange es nationalstaatlichen Akteuren gelingt, das kulturelle Profil in seinem Kern zu integrieren, können auch hohe Anforderungen, etwa die der Informationsökonomie und Globalisierung, bewältigt werden. Nur im Ausnahmefall kommt es zu einem Abstieg von Industriegesellschaften.

Heute expandieren die Kräfte, welche die Moderne tragen, weltweit. Die Fähigkeit rückständiger Gesellschaften, ihnen auszuweichen, hat sich drastisch verringert. Dies gilt für Industrie und Technologie oder Organisations- und Steuerungsformen. Der Wille und die Fähigkeit, alternative Modernisierungsmuster zu entwerfen und durchzusetzen, haben abgenommen. Insbesondere im industriell-technologischen Bereich ist ein eigenständiger Entwurf kaum mehr möglich. Die rückständigen Gesellschaften werden in der Regel auch nicht vor den Industriegesellschaften gesellschaftlich breitenwirksame und ökoeffiziente Wirtschafts- und Lebensweisen besitzen. Die Zahl eigenständiger Modernisierungsprofile jedoch nimmt weltweit zu.

Die Gesellschaften Lateinamerikas vermochten sich lange Zeit dem Wechselspiel ‚Grobmuster - spezielles Profil‘ zu entziehen, unternahmen aber wenig, um ihm zu entkommen. Die neoliberale Makropolitik hat das verfestigte Muster einseitiger Binnenorientierung aufgebrochen. Das Profil der Unternehmen, des Staates, der intermediären Organisationen, wachsender Segmente der Volkswirtschaft und der Gesellschaft insgesamt beginnt sich zu verändern. Heute betonen auch die neoliberalen Kräfte, dass der bisherige technokratisch-wirtschaftspolitische Ansatz keineswegs ausreicht. Sie fordern einen effektiven Staat sowie Rechts-, Erziehungs- und Finanzsektorreformen. Der Reformprozess kommt jedoch nur langsam voran. Das Wirtschaftswachstum fällt niedrig aus; das Starren auf die Zuwachsraten pro Jahr verstellt den Blick für niedrige Spar- und Investitionsquoten, Abhängigkeit von hohem Kapitalzufluss und wachsende Außenschulden, die traditionelle Exportstruktur und die geringe Zahl sich modernisierender Unternehmen. Neue und zusätzliche Arbeitsplätze werden kaum geschaffen. Die Einkommenskonzentration nimmt weiter zu.

Die wirtschaftlichen und politischen Führungskräfte sind überwiegend schwach. Ihnen fehlen Visionen und Konzepte industriell-technologischer und gesellschaftlicher Modernisierung. Die Fähigkeit, moderne Organisations- und Steuerungsmuster zu etablieren, ist in der Regel gering. Die traditionellen Modernisierungshemmnisse, z.B. der Agrarstrukturen, treten wieder deutlicher hervor. Die Modernisierung wird nicht, wie in manchen Ländern Asiens, als eine außerordentliche gesellschaftliche Herausforderung empfunden, sondern weitgehend dem Markt überlassen.

Die Gesellschaften Lateinamerikas sind jedoch weitaus mehr als die Industrieländer gezwungen, von anderen zu lernen. Ihr Modernisierungsprozess ist auf die Übertragung von Organisations- und Steuerungskonzepten sowie institutionellem und technischem Know-how angewiesen. Allein der Transfer garantiert freilich keinen Erfolg. Es kommt auf die Fähigkeit an, die eigene Tradition mit den externen Modernisierungsimpulsen zu verbinden. Bisher sind in Lateinamerika die Kraft und Fähigkeit zu einer neuen kulturellen Synthese, zu eigenständiger Such-, Selektions-, Imitations-, Verarbeitungs- und Nutzungsfähigkeit schwach. Insbesondere in armen kleinen Ländern der Region wird der Kulturtransfer allein als Garantie neuer Dynamik angesehen; daher ist die Überschwemmung durch externes Know-how unvermeidbar. In anderen Ländern, vor allem in Chile, gibt es eine relativ hohe institutionelle öffentlich-private Transformationsfähigkeit, die in einzelnen Bereichen einen gerichteten Such- und Transferprozess ermöglicht. Auch dort ist allerdings die Fähigkeit der meisten Unternehmen zu imitativer Innovation und schneller Umsetzung bisher gering. Geschwindigkeit und Tiefe des Reformprozesses und die Fähigkeit, einen Kulturtransfer aus eigener Kraft einzuleiten, entscheiden darüber, ob es gelingt, die Modernisierungshemmnisse der Regionalkultur, das Fortbestehen traditioneller Wirtschafts- und Machtstrukturen sowie Denk- und Handlungsmuster, teils abzubauen, teils zu überspielen. Es ist ungewiss, ob nicht doch ein anhaltender, sich vertiefender Reformprozess schließlich zu einem qualitativen Sprung führen wird. Die Alternative ist eine Krise, die einen wirtschafts- und machtpolitischen Kontinuitätsbruch auslöst, der dann vielleicht eine dynamische Modernisierung ermöglicht. Eine solche Krise ist in einer Reihe von kleinen und mittelgroßen Ländern fast unvermeidbar.

Die Moderne - die bekannten Muster des Nationalstaates und systematischer kapitalistischer Produktion - kann nicht einfach nachgeahmt werden. Es gibt keine nachholende Modernisierung. Ein jeder Aufholprozess weist einen eigenen Wachstumspfad, ein eigenständiges Muster und unterschiedliche Sequenzen auf. Ein jeder ist auf die Ausprägung eines speziellen Profils gerichtet, das Eigenes und Fremdes miteinander verbindet. Die globale Moderne beruht auf einer Vielfalt von Profilen und einer Pluralität der Kulturen. Modernisierungsprozesse erfordern, um dynamisch zu verlaufen, effektive Akteure, die diese wollen. Sie entwerfen Zukunftsbilder und bauen Modernisierungshemmnisse ab. Sie erschließen nationalstaatliche und unternehmerische Gestaltungsspielräume, stoßen z.B. heimische Wissens- und Expertensysteme an. Sie setzen auf eine Dynamik von innen her, die durch die Dynamik des Kulturtransfers und der Weltwirtschaft ergänzt wird. Der Kunst des Kulturtransfers kommt wesentliche Bedeutung zu. Je gerichteter er ausfällt, desto eher wird eine neue Synthese möglich, wächst damit das Potential zu eigenständiger Modernisierung bis hin zu einem modernen wirtschaftlichen und nationalstaatlichen Profil.

Ein Kernproblem in den Gesellschaften Lateinamerikas sind die weichen Faktoren: weiche Steuerungsmedien wie der Dialog zwischen den Akteuren, um den erforderlichen "minimalen prozeduralen Konsens" (J. Habermas) herzustellen, die Ausbildung eines motivierenden nationalstaatlichen Zusammengehörigkeitsgefühls, die Verfeinerung von Anreizsystemen - auch unter ökologischen Gesichtspunkten -, ein pragmatischer Wirtschaftsnationalismus, der durchsetzbar ist, Humankapitalbildung, Innovation, technologische Kompetenz, Qualität, Marketing oder software. Sie zu transferieren, ist teils schwierig, teils überhaupt nicht möglich.

Ziel muss eine Lerngemeinschaft sein; Lernen bindet die Individuen in die Gesellschaft ein; Gesellschaften weisen nur als Lerngemeinschaften eine dauerhaft hohe technisch-organisatorisch-soziale Dynamik auf. Nur Lerngemeinschaften können das lateinamerikanische Problem 'passiver Modernisierung' überwinden, also die modernen Erwartungshaltungen und Konsummuster mit einer dynamischen Modernisierung der Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt verknüpfen. Es scheint in den großen und einigen anderen Ländern Lateinamerikas durchaus möglich zu sein, ausreichende Bedingungen für industriell-technologisches Aufholen und eine moderne Gesellschaft zu schaffen. Freilich reicht der neue Modernisierungsschub nicht aus, um einen sich verbreiternden und vertiefenden Modernisierungsprozess in Gang zu setzen. Eine klare, eindeutige und dauerhafte Festlegung auf einen solchen Prozess ist nicht nur ein technokratisches Problem. Sie verlangt sozialen und politischen Druck von unten her, etwa der landlosen Bauern in Brasilien oder Paraguay, der die Oberschichten und Politiker zu neuen gesellschaftlichen Kompromissen zwingt. Sie erfordert in einigen der kleinen und mittelgroßen Gesellschaften wohl auch anhaltend starke Impulse von außen her, sei es aus der Region selbst, sei es aus den Industrieländern. Im Kern jedoch geht es darum, dass die Gesellschaften der Region selbst ein realistisches Konzept für ihren Modernisierungsprozess, zum Beispiel eine tragfähige soziale Idee und entsprechende Sozialpolitiken, entwerfen und umsetzen. Dies verlangt eine wachsende Zahl neuer Akteure, eine systemische Sicht und Schritte in Richtung auf eine effektive Systemsteuerung.

Text + Foto: Dr. Klaus Eßer

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[kol_3] Helden Brasiliens: Paulista - Consolação und umgekehrt
In São Paulo stimmt rein gar nichts mehr
 
São Paulo an sich ist ja schon nicht gerade eine Stadt, in der es einfach wäre, sich fort zu bewegen. Endlose Staus, unzählig viele Buslinien und der so dringend benötigte Ausbau der Metro ist immer noch nicht abgeschlossen.

Die Stadtverwaltung sorgt auch nicht gerade dafür, das allgemeine Chaos zu lindern. Ganz im Gegenteil: Sie benannte bei der Einweihung der Strecke 1991 eine Haltestelle der Linie 2 auf der Avenida Paulista "Estação Consolação".



Da besagte Haltestelle lediglich einige Schritte von der Rua da Consolação entfernt liegt, kann man die Namensgebung ja durchaus akzeptieren. Am 25. Mai diesen Jahres eröffnete man allerdings die ersten zwei Haltestellen der neuen Linie 4. Eine der beiden Haltestellen trägt den Namen "Estação Paulista" und diese befindet sich in der Rua da Consolação! Somit liegt die Haltestelle "Paulista" auf der Consolação und die Haltestelle Consolação auf der Paulista! – Und die Verwirrung ist perfekt!



Am einfachsten wäre es, die Namen auszutauschen, aber ich habe nicht gerade viel Hoffnung – schließlich ist São Paulo so etwas wie die Welthauptstadt des Durcheinanders. Und die Avenida Paulista, nebenbei bemerkt, ist ja gleich einer Ehe: sie beginnt im (Stadtteil) Paradies (Paraíso) und endet im (Stadtteil) Trost (Consolação). Haha, alter Witz der Taxifahrer São Paulos.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 06/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





[kol_4] Erlesen: Wo man singt...

Musik aus den verschiedenen Ländern des spanischsprachigen Raums, vor allem vokale, hat oft panhispanischen Charakter: d.h. Liedermacher wurden und werden in allen Ländern gleich gerne gehört; dies gilt für schmalzige Boleros von Agustín Lara aus Mexiko ebenso wie für zackige Tangos von Carlos Gardel. Und damit wären wir mitten drin im Thema dieser kleinen Anthologie aus der "Roten Reihe" von Reclam, die uns Texte verschiedener Liedgattungen der Populärmusik aus Spanien und Lateinamerika vorstellt. Der Herausgeber wendet sich im Vorwort ausdrücklich an Spanischlehrer als Zielgruppe, denen er Zugang zur hispanischen Populärmusik verschaffen will, um sie im Unterricht verwenden zu können. Aus eigener Erfahrung kann ich die Wichtigkeit dieses Vorhabens nur unterstreichen, fällt der Sprachunterricht ohne den Einsatz von Musik, Filmen etc. doch oft sehr trocken aus. An Ort und Stelle werden auch die Kriterien genannt, nach denen die Liedtexte ausgewählt wurden und am vorhandenen Material gibt es nichts zu kritisieren, am nicht-vorhandenen hingegen schon..., aber dazu später.

Hartmut Nonnenmacher (Hrsg.)
Tango, Bolero, Copla... Canciones populares modernas de España y de Hispanoamérica
Reclam Verlag
159 Seiten
5.00 EUR

Hartmut Nonnenmacher hat sich nicht wahllos für die vorgestellten Lieder entschieden, sondern sich auf fünf Genres beschränkt, die wohl zu den beliebtesten in der spanischsprachigen Welt zählen: Tango, Bolero, Corrido, Copla und Canción. Zu jedem Genre schreibt er einführende Texte, die einen historischen Überblick liefern sowie vertiefende Erklärungen zu den ausgewählten Stücken. Dabei geht Nonnenmacher auf in Deutschland weniger bekannte Details ein, wie zum Beispiel die Verwendung berühmter Boleros in den Filmen von Pedro Almodóvar oder die Entstehung der Narcocorridos, deren Texte sich vor allem um illegale Einwanderer in den USA, oder die Drogenproblematik drehen. Dabei stellt er Verbindungen zur Literatur her, erzählt von der Verwendung und damit verbundenen Wiederentdeckung der Copla in Kinofilmen und geht auf die spezielle Sprache des Tango ein. Die Vokabellisten zu den einzelnen Liedtexten sind sehr hilfreich, denn sonst hätte man größere Schwierigkeiten, sich die Bedeutung von el barrial (argentinisch für Lehmboden) oder la milpa (mexikanisch für Maisfeld) uvm. zu erschließen.

Auch wenn Nonnenmacher immer wieder Bezüge zur modernen Welt herstellt, wird die Auswahl der Lebenssituation von heutigen Jugendlichen/Schülern jedoch weniger gerecht. Denn im Kapitel "Canción" stammen die "modernsten" Texte von spanischen Bands wie "Alaska" oder "Radio Futura" aus den 1980er bzw. 90er Jahren. Natürlich wird immer jemand bemängeln, dass in einer solchen Auswahl dies und jenes fehlt. Aber bei einer im Jahr 2009 erschienenen Sammlung, die sich zumal an junge Leute richtet - denn die werden ja von den eingangs erwähnten Lehrern mit den Texten geschult oder bespaßt - erwarte ich, dass sie auch einige topaktuelle Texte enthält, von Stücken, die nach der Jahrtausendwende bei der Jugend angesagt waren bzw. sind. Da muss einfach etwas aus der lateinamerikanischen Ska-Bewegung dabei sein oder aus der pulsierenden Mestizoszene Barcelonas.

Dass sie fehlen, kann nicht an den Texten liegen, sind sie doch oft sehr originell und politisch. Nur so könnte die im Vorwort zitierte "Massenwirkung" der Texte der Populärmusik bei den deutschen Jugendlichen vielleicht eintreten, die mit Namen wie Desorden Público oder Orishas sicher mehr anfangen können als mit Agustín Lara. Ohne zeitgenössische Rock- und Rap-Texte bleibt das Panorama dieser "Klammer" des hispanischen Kulturraums unnötigerweise unvollständig. Und auch eine längere Literaturliste hätte gut getan (zumindest die zweite Seite hätte man noch mit nützlichen Hinweisen füllen können).

Wem dieses Minus egal ist oder wer einfach Spaß daran hat, sich einen Teil der iberoamerikanischen Kulturgeschichte zu erschließen und wunderbare Liedtexte zu studieren, der sollte zugreifen. Denn dieser Band bleibt eine tolle Einführung ins Thema, vor allem, wenn man den unschlagbaren Preis bedenkt.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 06/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





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