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[art_2] Bolivien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug V)
Bolivianische Dimensionen und fehlende Toiletten
 
An der chilenisch-bolivianischen Grenze hörte die Straße auf und entließ uns in eine karge Hochlandregion, die sich bis zum Horizont vor uns ausbreitete, ohne dass auch nur das geringste Zeichen einer menschlichen Besiedlung zu sehen gewesen wäre. Ein gedrungener Zollbeamter mit kaffeebraunem Vollmondgesicht drückte den Einreisestempel seines Landes in meinen Reisepass. Anschließend stiegen wir in drei bereitstehende Jeeps. Eine Straße würde ich erst wieder in vier Tagen zu Gesicht bekommen.

Die Gesichter Südamerikas
Eine Abenteuerreise durch Argentinien, Chile, Bolivien, Peru und Kolumbien

Thomas Bauer (Autor)

Verlag: Wiesenburg 2009)
ISBN-10: 3940756458
ISBN-13: 978-3940756459, 22,90 €

Erhältlich beim Autor über
www.literaturnest.de oder amazon.de


Wenig später zerkratzte unser Gefährt die makellose Oberfläche des Altiplano. So nennen die Bolivianer das karge Hochland, das knapp zwei Drittel der Landesfläche einnimmt. Das restliche Drittel besteht aus dichtem Regenwald. Schneebedeckte Bergspitzen lugten über die Horizontlinie, als wollten sie nachsehen, wer ihnen da einen Besuch abstatten kam. Vier bis fünf Stunden lang fuhren wir auf sie zu, ohne dass sich die Landschaft um uns herum veränderte. Sie blieb rau und karg, umrahmt von Fünftausendern, und zeitweilig hatte ich das Gefühl, als habe jemand ein Bild an die Innenscheiben unseres Jeeps gemalt. Kein Dorf kam in Sicht. Kein Auto kreuzte unseren Weg. Ab und zu stoben Lamas und Alpakas, aufgeschreckt vom Motorgeräusch, vor uns auseinander. Vom Beifahrersitz aus konnte ich beobachten, wie unser wortkarger, bolivianischer Fahrer José hochkonzentriert auf den kargen Boden vor uns blickte. Alle paar Minuten musste er Unebenheiten umfahren und sich für den besten Weg entscheiden.

Altiplano-Sajama

In der Reihe hinter mir saßen zwei schweigsame Bolivianerinnen, die Dolores und Soledad hießen. Immer schon hatte mich die Vorliebe für ausgefallene Vornamen im Spanischen verblüfft. Die Namen meiner beiden Mitreisenden bedeuteten übersetzt "Schmerzen" und "Einsamkeit". Derartige Bezeichnungen waren in Südamerika ebenso gängig wie im Deutschen zum Beispiel Annette und Monika. Man stelle sich vor, jemand würde uns mit den Worten begrüßen: "Guten Tag, mein Name ist Einsamkeit Müller und das hier ist meine Freundin Schmerzen Meier". Würde man diese beiden wirklich kennenlernen wollen?

Hinter Einsamkeit und Schmerzen räkelten sich Linda, eine fünfundzwanzigjährige Argentinierin, und ihr Freund Jorge, ein dreißigjähriger Chilene, der nicht müde wurde, zu betonen, dass seine Freundin ihren Namen zurecht trug. Er bedeutet in Südamerika soviel wie "Hübsche". Den Abschluss bildeten zwei Italiener, die im Kofferraum des Jeeps Platz genommen hatten. Einmal mehr war ich Teil einer illustren Gruppe geworden.

Seit unserer Ankunft in Bolivien waren wir leicht bergauf gefahren. Kurz vor Sonnenuntergang trafen wir auf eine Art Holzhütte, die mutterseelenallein in der kargen Landschaft stand. Hier erlebte ich zum ersten Mal, wie europäische Ansprüche auf ein bolivianisches Angebot trafen.

Altiplano Geysir

"Aah, nach der langen Fahrt freue ich mich schon auf die Dusche!", rief einer der Italiener aus, als wir unser Domizil betraten. Der Herbergsbesitzer scharrte daraufhin verlegen mit den Füßen und fuhr sich nervös mit der rechten Hand durchs Haar. Die Aufgabe, die ihm bevorstand, war, uns möglichst schonend mit den hiesigen Gegebenheiten vertraut zu machen. "Nun ja, unglücklicher Weise verfügen wir hier oben über kein allzu warmes Wasser. Genauer gesagt, verfügen wir über gar kein warmes Wasser. Um ganz ehrlich zu sein, gibt es bei uns schlichtweg kein Wasser, also weder warmes noch kaltes. Wisst Ihr, wir sind hier auf knapp fünftausend Metern Höhe, da wäre es äußerst aufwändig, etwas Derartiges bereitzustellen." Unser Herbergsvater lächelte entschuldigend.

"Soll das heißen, dass es in dieser Hütte nicht einmal ein Waschbecken gibt?", hakte der Italiener nach, der seinen Traum von einer Dusche nicht ohne Weiteres loslassen konnte. "Aber, señor, warum sollten wir denn ein Waschbecken bauen, wenn es doch kein Wasser gibt?" Noch immer lächelte unser Gastgeber. Die Logik war eindeutig auf seiner Seite. "Schon gut, in Ordnung". Der Italiener zuckte mit den Achseln. "Wo geht’s zu den Toiletten?"

Herbergsbesitzer und Anhang

"Einfach zur Eingangstür wieder hinaus, señor. Keine Sorge, im Umkreis von vierzig Kilometern gibt es keine Nachbarn, die Sie beobachten könnten." Der Hüttenbesitzer deutete mit weit ausladender Handbewegung auf die Umgebung. "Wisst Ihr, wir sind hier auf knapp fünftausend Metern, da ist man nicht sonderlich zimperlich." Sein Lächeln wurde breiter. Lustige Leute hatte ihm unser Fahrer da vorbeigebracht, Städter aus Europa. Toiletten, na so was! Diese ausländischen Touristen kamen auf Ideen...

"Schon gut", befand der Italiener. Die Resignation war ihm anzuhören. "Dann spielen wir eben ein wenig Karten. Wo ist denn der Lichtschalter? Es wird langsam dunkel." "Nun ja ...", druckste unser Gastgeber herum, "immer zwei von Ihnen bekommen nachher eine Kerze. Strom kann ich Ihnen leider keinen anbieten. Wisst Ihr, señores, wir sind hier auf knapp fünftausend ..."

"Ja, das haben wir inzwischen kapiert!", schloss der Italiener das Gespräch etwas unwirsch ab, nachdem seine Vorstellung eines gelungenen Abends nach und nach vor seinem inneren Auge zerbröckelt war. "Hoffentlich gewinne ich wenigstens nachher beim Kartenspiel gegen unseren deutschen Mitreisenden." Er gewann haushoch und war für den Rest des Abends besänftigt.

Text + Fotos: Thomas Bauer
Website: literaturnest.de



Teil I: Bruna Montserrat erklärt mir ihr Buenos Aires
Teil II: Vom Fluss verschluckt
Teil III: "Gipfelsturm" auf sechstausend Meter Höhe
Teil IV: Am skurrilsten Wallfahrtsort der Welt

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