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[art_2] Bolivien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug VII)
In Boliviens Drogenhauptstadt
 
Das Leben scheint sich zum Äquator hin zu potenzieren. Verschwenderisch mutet die Vielzahl an Bäumen, Sträuchern, Gräsern an, die ineinander übergehen, aufeinander aufbauen, symbiotisch und parasitär koexistieren, als habe die Natur Angst, der Platz könne ihr ausgehen, und darum einen Großteil aller Pflanzen in dem schmalen Gürtel angesiedelt, den man die Tropen nennt. Einen halben Meter Flügelspannweite haben hier manche Schmetterlingsarten. Sie segeln durch die hitzegeschwängerte Luft wie kleine Greifvögel. Abends hört man Geräusche in den Böden, Bäumen, Lüften, die sich sammeln zu einem Lärm, als habe jemand den Lautstärkeregler aufgedreht. Überall raschelt und zischt, krächzt und knarzt, schreit und planscht es.

Besucher aus gemäßigten Breiten vermuten Gefahren hinter jedem Baum, jedem Strauch, jedem Grashalm. Für sie sind die Tropen der Inbegriff für Fremdes, Unbekanntes, ein Symbol für Leidenschaft, die zu Fieber wird. Sehnsüchtiges Ziel der einen, Horrorvision für die anderen, die sich in der überbordenden Vielfalt verlieren: Verschwenderische Pracht und bittere Not gehen in dieser Region Hand in Hand. Es ist ein Phänomen, dass die Menschen dort am ärmsten sind, wo die Natur am reichsten ist. Die Tropen ziehen einen Gürtel menschlicher Armut um unseren Planeten. Ob in Ecuador und Bolivien, in Gabun und dem Kongo, auf Sumatra und Borneo: Überall auf der Welt sinkt der Lebensstandard, je näher man dem Äquator kommt.

Die Gesichter Südamerikas
Eine Abenteuerreise durch Argentinien, Chile, Bolivien, Peru und Kolumbien

Thomas Bauer (Autor)

Verlag: Wiesenburg 2009)
ISBN-10: 3940756458
ISBN-13: 978-3940756459, 22,90 €

Erhältlich beim Autor über
www.literaturnest.de oder amazon.de


Warum gilt diese Regel so weltumspannend? Kapitulieren wir in den Tropen vor der Übermacht der Natur? Sind wir hilflos in einer Region, die nur intensives Erleben und andauernde Langeweile kennt, Flussdurchquerungen im Dschungel beispielsweise und anschließendes Warten auf besseres Wetter in einer Urwaldhütte? Oder haben wir allzu oft erfahren müssen, dass unsere mühsame Arbeit im Handumdrehen zerstört wurde, das Feld von prasselndem Regen ausgewaschen, das Haus weggeschwemmt, der mit der Machete geschlagene Weg über Nacht von der Natur zurückgeholt?

Es war eine Gegend voller Geheimnisse, in der mich das schwankende Propellerflugzeug absetzte. Ein schepperndes Etwas, vor Jahrzehnten vermutlich aus England importiert, das Lenkrad auf der linken Seite, während sich das Armaturenbrett rechts befand, brachte mich ins Zentrum von "Kokain-City". Der rasante Aufstieg von Santa Cruz de la Selva von einer Ansammlung heruntergekommener Hütten zu einer Stadt fand in den Siebzigern statt, als gleich mehrere Drogenbosse in die Stadtplanung investierten. Dass Santa Cruz nach wie vor ein gefährliches Pflaster war, insbesondere für hellhäutige Touristen, die ihren Blondschopf leuchtfeuergleich durch die Straßen tragen, sollte ich keine drei Stunden nach meiner Ankunft feststellen.

Ich hatte beschlossen, dem städtischen Zoo einen Besuch abzustatten. Die Auswahl an Sehenswürdigkeiten war eng begrenzt; die einzige sehenswerte Kirche befand sich auf dem Weg. Weit und breit war ich der einzige Nicht-Bolivianer. In den schmutzigen Straßen bliesen uralte Autos Abgaswolken aus, mitten ins Spiel der Kinder hinein, die, wenn sie jünger als zehn waren, vor mir davonliefen oder mit dem Finger auf mich zeigten. Waren sie älter als zehn, kamen sie auf mich zu gerannt und hielten die Hand auf. Und natürlich war el niño perdido, "das verlorene Kind", überall mit dabei. So nannte ich in Gedanken den in Fetzen gekleideten, braun gebrannten Straßenverkäufer, der in jedem Dorf auf mich wartete. Wohin ich im Verlauf meiner weiteren Reise durch Südamerika auch kommen sollte, immer würde el niño perdido bereits da sein. Er würde aus dem Busbahnhof stürzen, hinter einer Straßenecke sitzen, vor einem Supermarkt auf und ab gehen. Immer würde er mir die Schuhe putzen, mir einen Schokoriegel oder auch nur eine Wäscheklammer verkaufen wollen. Seine Haare würden schwarz und gelockt und vom Staub der Straßen bedeckt sein. Seine Haut würde alle Schattierungen von Braun aufweisen, braun wie Alpakawolle, braun wie die Ebenen der Pampas im argentinischen Herbst, braun wie das ausgedörrte Gras auf Boliviens Altiplano. Braun mit Schürfwunden darin, mit frischen Narben darauf, braun mit beige gemischt in den Handinnenflächen, die rau waren wie Schmirgelpapier, rau vom Tragen schwerer Waren, die niemand kaufte. Manchmal würde er zehn Jahre jung sein, manchmal auch vierzehn, doch immer würde er die Augen eines Dreißigjährigen haben. Hellwach würden diese Augen um sich blicken, mit einer seltenen Klarheit, die permanent nach Auswegen suchte. Mein Erscheinen, das wusste er, würde kein Ausweg sein, doch es könnte seine Lage kurzfristig verbessern. Gringo, würde er mir darum entgegen rufen, von weitem schon, gringo oder señor.

Von den Kindern abgesehen waren beinahe ausschließlich stämmige Männer unterwegs. Die wenigen Frauen schmiegten sich beim Gehen eng an die Hauswände oder saßen auf dem Boden, um Gebäck anzubieten, das von den vorbeifahrenden Autos mit Abgaswolken umhüllt wurde.

Eigentlich hatte ich vor dem Zoo von Santa Cruz eine Menschenschlange erwartet. Stattdessen war ich anscheinend der Einzige, der heute vorhatte, diesen Ort zu besichtigen. Am Kassenhaus waren die Rollos heruntergelassen. Ein untersetzter Mann trat aus dem Halbschatten des Häuschens auf mich zu. "Heute ist wenig los; da ist nur den Hintereingang des Zoos geöffnet. Kommen Sie, ich führe Sie hin!" Noch bevor ich antworten konnte, hatte er sich bereits in Bewegung gesetzt. Im selben Augenblick meldete sich eine Stimme in mir, die mich eindringlich warnte, ihm zu folgen. Es erschien mir seltsam, dass ein öffentlicher Zoo seine Gäste durch den Hintereingang hereinlassen wollte. Außerdem hatte mir mein stämmiges Gegenüber kaum in die Augen geblickt. Nur den Bruchteil einer Sekunde lang hatte er meinen Blick gestreift und sich dann rasch zum Gehen gewandt. Andererseits hatte ich wirklich Lust auf einen Zoobesuch und konnte nicht ausschließen, dass die Dinge in Santa Cruz anders geregelt wurden als in Europa. Könnte der Hintereingang nicht eine Erklärung für die fehlende Menschenschlange sein? Ich beschloss, meinem selbsternannten Reiseführer zu folgen. Seine schmutzbedeckten Turnschuhe passten zwar nicht zur edlen Stoffhose und dem durchgeschwitzten Hemd, doch insgesamt gab er eine passable Erscheinung ab. Allerdings beschloss ich, soviel wie möglich über ihn herauszufinden.

"Wie heißen Sie und woher kommen Sie?", eröffnete ich mein Fragengewitter. "Mein Name ist Juán. Ich komme aus Ecuador und bin geschäftlich in Bolivien." Das war reichlich vage. Juán war der wohl häufigste Name in Südamerika. Mal sehen, ob "Juán" damit gerechnet hatte, dass ich mich nach meinem sechswöchigen Aufenthalt in Ecuador ein wenig auskannte. "Das finde ich prima, dass Sie aus Ecuador kommen. In welcher Stadt sind Sie denn geboren? In Guayaquil vielleicht, in Cuenca oder in Machala?" Er konzentrierte sich auf die Straße, brummte etwas von "gebürtig aus Machala".

Außer uns war zu dieser Zeit kaum jemand unterwegs. Nur vom anderen Ende der Straße schlenderte uns ein Passant entgegen. "Wie schön, in Machala war ich auch schon!", gab ich mich hocherfreut. "Wie heißt diese nahe gelegene Insel doch gleich, die man von Machala aus mit dem Boot erreichen kann ...?" Mein Gegenüber kam um eine ihn entlarvende Antwort herum, weil uns der Passant erreicht hatte. Er war noch stämmiger als mein Begleiter und warf sich sofort vor uns in Pose. Langsam, wie in Zeitlupe, zog er einen Ausweis aus der Tasche, den er mir vors Gesicht hielt. Policia Nacional, stand auf dem Dokument.

Vor genau dieser Situation war ich gewarnt worden. Für viele Besucher Boliviens waren Polizisten Respektpersonen, deren Wünschen Folge zu leisten war. Ob es sich um einen echten Polizisten handelte oder um jemanden, der so tat, als sei er von der Polizei, war unerheblich: Immer zog diese Masche am besten. Jetzt ging es nur noch darum, einen triftigen Grund zu finden, um mich in ein Auto zu locken. Meine beiden Begleiter nahmen diese Aufgabe unverzüglich in Angriff. "Oh, ein Polizist!", sagte der vermeintliche Ecuadorianer mit schlecht gespielter Überraschung, während sein Komplize die ihm zugedachte Rolle ungleich besser ausfüllte. "Guten Tag, señores. Wir wollen, dass sich unsere Gäste in Bolivien sicher fühlen und führen darum eine Routinekontrolle durch. Dürfte ich um ihre Pässe bitten?" Sofort ging mein Begleiter mit gutem Beispiel voran und legte dem "Polizisten" seinen Pass in die Hände.

In diesem Moment, soviel wurde mir augenblicklich klar, hatte ein Spiel begonnen, das jederzeit in blutigen Ernst umschwenken konnte. Die beiden mussten versuchen, mich möglichst rasch in ihre Gewalt zu bekommen. Ich hingegen musste unser Gespräch so lang wie möglich hinauszögern - bestenfalls bis mehrere Passanten auftauchten. Unglücklicherweise war bislang weit und breit niemand zu sehen.

Die Not machte mich erfinderisch. Quälend langsam durchsuchte ich meine Taschen nach dem Pass. Gleichzeitig führte ich meine Taktik, die beiden durch konkrete Fragen aus dem Konzept zu bringen, weiter. "Dürfte ich bitte Ihren Polizeiausweis nochmals sehen?", beharrte ich. "Na, so was!", gab ich mich daraufhin verblüfft, "da steht Ihr Name ja gar nicht drauf! Wie lautet der denn?"

"Pablo Martínez", brummte mein Gegenüber sichtlich verstimmt über die Verzögerung. Das war ein Name wie bei uns Hans Meier oder Peter Müller. Statt meines Passes zog ich erstmal meinen Notizblock und einen Stift aus der Tasche. "P-a-b-l-o  M-a-r-t-í-n-e-z”, wiederholte ich in Zeitlupe. "Schreibt man "Martínez" mit oder ohne Akzent?" Meinem Gegenüber riss die Geduldschnur und mir wurde klar, dass ich aufpassen musste: Ich durfte den Bogen nicht überspannen. "Hören Sie", fauchte der "Polizist". "Ich muss Sie bitten, mir Ihr Dokument auszuhändigen, wie das von Gesetzes wegen in diesem Staat vorgeschrieben ist!" Er spielte seine Rolle wirklich nicht schlecht. Mir blieb vorerst nichts anderes übrig, als ihm meinen Pass zu überreichen. Noch immer war weit und breit kein Passant zu sehen. Dafür näherte sich unserem Trio ein Taxi, in dem der dritte der Bande saß. Der "Polizist" machte eine Handbewegung, als wolle er das Gefährt anhalten, das daraufhin vor uns zum Stehen kam. Die Aktion war zeitlich ein wenig aus dem Ruder gelaufen. Eigentlich hätte er mir bereits jetzt einen Grund nennen müssen, weswegen wir alle unbedingt in dieses Auto steigen mussten. Das versuchte er nun, ein wenig angestrengt, nachzuholen.

"Wo befindet sich Ihr Impfpass, señor? Wie Sie wissen, ist es in Bolivien Pflicht, ihn mit sich zu führen. Wenn Sie ihn nicht dabei haben, müssen wir zu Ihrem Hotel fahren, damit Sie ihn holen können. Wo sind Sie untergebracht?" Eine Sekunde lang drehte der vermeintliche Ecuadorianer seinen Kopf neugierig in meine Richtung. Deutlich konnte ich sehen, wie seine Augen gierig aufleuchteten. Pech für ihn - ich residierte in einer der günstigsten Absteigen der Stadt. Zum Leidwesen des "Polizisten" trug ich zudem auch meinen Impfpass bei mir.

Ganz am Ende der Straße tauchte die Figur eines Passanten auf, die sich langsam näherte. Zwei Minuten musste ich noch überbrücken. Inzwischen spielte der "Polizist" seinen letzten Trumpf aus. Er warf dem vermeintlichen Ecuadorianer neben mir einen scharfen Blick zu. "Jetzt erst erkenne ich Sie!", rief er aus. "Sie suchen wir doch schon lange!" Zu mir gewandt fuhr er in barschem Tonfall fort: "Señor, Sie reisen mit einem bekannten Kriminellen aus Ecuador. Ich muss Sie beide auffordern, sofort mit mir aufs Polizeirevier zu kommen." Er öffnete die Hintertür des Taxis, in das der "Kriminelle aus Ecuador" erstaunlich bereitwillig einstieg. Ich blickte mich um. Was ich für die Figur eines Passanten gehalten hatte, entpuppte sich als zwei Männer, die auf unser Trio zuschlenderten. Noch waren sie außer Hörweite. Ich musste irgendetwas tun, um zu verhindern, dass ich in dieses Taxi gelangte. "In Ordnung", vermeldete ich bereitwillig, um die Bande zu besänftigen. "Darf ich fragen, zu welchem Polizeirevier wir fahren? Ich würde gern vorher dort anrufen. Nur zur Sicherheit, natürlich. Immerhin sitze ich während der Fahrt neben einem Kriminellen aus Ecuador. Da kann ja wer-weiß-was passieren!"

Endlich waren die beiden Männer in Rufweite gelangt. Der "Polizist" wurde nervös. Unruhig wechselte er von einem Fuß auf den anderen. "Schluss jetzt!", rief er plötzlich und versuchte, mich am Arm zu packen. "Wir fahren jetzt sofort zum Polizeirevier, steigen Sie in das Taxi!" Einer der beiden Passanten hob neugierig den Kopf. Das war meine Chance. Ich riss dem "Polizisten" meine Papiere aus den Händen. "Ich glaube nicht, dass Sie Polizist sind! Keineswegs werde ich in dieses Taxi steigen!", sagte ich betont laut, halb in die Richtung der beiden Passanten.

Die Hand des "Polizisten" fuhr in seine Manteltasche. Ich wartete nicht ab, was er hervorziehen würde, sondern trat mit drei schnellen Schritten von dem Taxi zurück, um mich sofort an die beiden Passanten zu wenden. "Buenos tardes, señores. Können Sie mir sagen, wie ich zum Eingang des Zoos gelange?", rief ich ihnen zu. Ich hörte noch, wie hinter mir eine Autotür zugeschlagen wurde. Dann fuhr das Taxi mit den drei erfolglosen Entführern an mir vorbei. Ohne anzuhalten ging ich zum Haupteingang des Zoologischen Gartens zurück, bezahlte an der mittlerweile geöffneten Kasse und setzte mich auf die erste Bank im Innern des Geländes. Erst hier begann mein Herz wie wild zu schlagen. Schweiß rann mir links und rechts die Wangen herab. Ich wunderte mich, wie gefasst ich während der vergangenen Viertelstunde gewesen war, und dass ich instinktiv das Richtige getan hatte. Viel, das wusste ich, hatte nicht gefehlt: Um ein Haar wäre ich keine vier Stunden nach meiner Ankunft in Santa Cruz entführt worden. Dabei hatte ich Glück gehabt, dass die Bande mit einem ausgeklügelten Plan versucht hatte, mich zu ködern. Sie hätten mir auch einfach ein Messer an die Kehle setzen können. Was wäre passiert, wenn ich die beiden nicht bis zum Eintreffen der Passanten hätte hinhalten können?

Bei jedem kriminellen Akt existiert ein "point of no return" - ein Zeitpunkt, von dem an es kein Zurück mehr gibt und jede Gegenwehr zwecklos ist. Hätten die drei mir ein Messer an die Kehle gesetzt, wäre dieser Moment schnell erreicht gewesen. In meinem Fall war der "point of no return" der Augenblick, in dem ich in das Taxi gestiegen wäre. Umgeben von drei stämmigen Männern, unterwegs in einer fremden Stadt, mit äußerst eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten, wäre ich ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen. Im günstigen Fall hätten sie mich mit Chloroform betäubt. Einen Tag später wäre ich in einem verlassenen Park aufgewacht, ausgeraubt bis auf die Unterhose. Andere, die auf ähnliche Tricks hereingefallen waren, hatten weniger Glück gehabt. Die Kreditkarte eines österreichischen Pärchens wurde eine Woche lang täglich mit dem Maximalbetrag belastet, ehe man die beiden Entführten mit aufgeschlitzter Kehle auffand.

Trotzdem wurde mir, als ich auf der Bank des Zoos saß, klar, dass sich das Verhältnis zwischen der Dreierbande und mir bereits in dem Moment umgekehrt hatte, als die beiden Passanten in Rufweite getreten waren. Als ich diese dann auch noch angesprochen hatte, war die Situation für die verhinderten Entführer definitiv verloren gewesen. Ab diesem Moment mussten sie auf der Hut vor mir sein. Ich kannte ihre Gesichter. Jede Polizeidienststelle würde meinen Ausführungen Glauben schenken. Auf versuchten Raub oder gar Entführung antwortete Boliviens Regierung mit drakonischen Strafen. Sollte ich den "Polizisten" oder den vermeintlichen Ecuadorianer auf einer späteren Runde im Polizeiauto wiedererkennen, drohte ihnen der Knast für den Rest ihres Lebens.

Als ich aufstand gaben meine Knie noch immer nach. Mein Körper zitterte leicht. Ich überwand den Schock erst, als ich von einem phlegmatischen Puma zu einem hektischen Nandu wechselte. Als mich danach eine junge Angestellte des Zoos zum Lamagehege begleitete und mir dabei zugurrte, ich sei "der erste Tourist seit vier Monaten", hatte ich meine Selbstsicherheit wiedererlangt. Trotzdem blieb mein erster Eindruck von Santa Cruz, dass mich die einheimischen Männer überfallen und die Frauen heiraten wollten - wobei ich zeitweilig nicht einmal wusste, vor was ich eigentlich mehr Angst haben sollte.

Am nächsten Tag sollte die Heiratswilligkeit der einheimischen Damen einen gewaltigen Dämpfer erfahren. Spätnachmittags fuhr mich eine Blechbüchse hinaus zum Flughafen. Bis Lima wollten Hannah und ich gemeinsam durch Bolivien und Peru reisen. Drei Wochen hatten wir dafür veranschlagt, was eine lange Zeit war, wenn man vorhatte, sie Tag und Nacht mit jemandem zu verbringen, den man kaum kannte. Entsprechend neugierig musterte ich die Menschentraube, die sich ins Flughafengebäude ergoss, um anschließend in Zweiergruppen auszufransen. Das Ganze erinnerte mich an ein Memory-Spiel. Hatten sich zwei passende Teile gefunden, wurde diese Tatsache per Umarmung bestätigt, bevor man händchenhaltend die Halle verließ. Zusammen mit fünf Bolivianern lehnte ich lässig an einer Wand nahe des Ausgangs, weil das hier so üblich war. Natürlich hatte ich mich zuvor ausgiebiger als gewohnt geduscht und die bessere meiner beiden Hosen angezogen. Zudem war ich frisch rasiert und hatte eine Extraportion Deo auf meinem Körper verteilt. Als eine der letzten löste sich eine Figur aus der Menge, die größer und schlanker war als die meisten um sie herum. Dann stand das gesuchte Memoryteil vor mir, blond und zu meiner großen Freude deutlich hellhäutiger, als ich es nach zwei Monaten in Südamerika war. In den kommenden drei Wochen würde der Großteil des ungläubigen Staunens und der Neugier der Einheimischen auf meine Reisegefährtin übergehen.

Text + Fotos: Thomas Bauer
Website: literaturnest.de



Teil I: Bruna Montserrat erklärt mir ihr Buenos Aires
Teil II: Vom Fluss verschluckt
Teil III: "Gipfelsturm" auf sechstausend Meter Höhe
Teil IV: Am skurrilsten Wallfahrtsort der Welt
Teil V: Bolivianische Dimensionen und fehlende Toiletten
Teil VI: Besuch im "Café Aussichtspunkt"

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