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[art_2] Bolivien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug VI)
Besuch im "Café Aussichtspunkt"
 
Selbst die Hauptstadt des Landes legt sich früh schlafen. Fast scheint es, als drücke sie die Last der Geschichte zu Boden, als kaue sie die Erinnerungen an vergangene Missgeschicke wieder. Nur aus dem Café Mirador, dem "Café Aussichtspunkt", ist das Lachen von Gästen zu hören. Sucres auf einem Hügel gelegener gringo-Treff ist ganz auf die Bedürfnisse reisender, Rucksack tragender Jugendlicher aus gutem Hause eingestellt. Im Garten des Cafés stehen Tischchen mit je einem Sonnenschutz aus Bambus, von denen aus man einen Blick auf die Stadt werfen kann. Rund um die Uhr ertönt gefällige Musik aus zwei Lautsprechern. Shakira übergibt Ricky Martin das Wort, der es Carlos Santana weiterreicht. Alle Lieder vereint, dass sie zwar einerseits irgendwie "südamerikanisch" wirken - Shakira hinterlegt ihre Popsongs gerne mit angedeuteten Panflöten, Santana streut Salsarhythmen in seine Gitarrensoli, aus Ricky Martins Gesang kann man den Hüftschwung förmlich heraushören - dass all diese Lieder aber gleichzeitig so sehr auf die gängigen Melodien und Akkordfolgen setzen und in der Folge zu Allgemeingut mutierten, dass sie in Wahrheit ganz und gar ortlos geworden sind. Sie sind die erfolgreichen Produkte einer Globalisierung, die bedienen, was sich westliche Jugendliche unter "Südamerika" vorstellen. Gleichzeitig sind sie darauf bedacht, den Bogen nicht zu überspannen, um ihre Zielgruppe nicht zu erschrecken. Diese verhält sich in etwa wie ein Großstädter, der beim Anblick von Feldern und Hecken ausruft, wie schön die Natur doch sei - während er in einer echten, ungezähmten Natur verloren wäre.

Sucre von oben

Das Café Mirador hat oberhalb des Stadtkerns ein akkurat gepflegtes, künstliches Paradies geschaffen, einen Zufluchtsort, weit entfernt von Sucres bettelnden Kindern. Blickt man von seinem Garten hinunter auf die zu Füßen liegende Stadt, könnte man der Ansicht sein, dass sich Sucre abends friedlich vor sich hin schlummere, und dass das größte Problem seiner Einwohner darin bestünde, von dort unten keinen privilegierten Ausblick auf die Sonne genießen zu können, die in diesem Moment orangerot über die Berggipfel streicht. Die Betreiber des "Cafés Aussichtspunkt" hatten messerscharf erkannt, wonach wir Touristen trotz aller Floskeln von "authentischen Erlebnissen" und dem ach so "intensiven Kontakt mit den Einheimischen" in Wahrheit verlangen. Wir suchen einen sicheren Raum, aus dem heraus wir unsere Umgebung beobachten können, ohne allzu sehr von ihren Unannehmlichkeiten betroffen zu sein. Darum wird in La Paz derzeit ein Luxushotel gebaut, in dem sich kein Einheimischer eine Übernachtung leisten können wird. Erst wenn wir keine Kontrolle mehr über unsere Umgebung haben, wenn niemand mehr da ist, der uns dank unseres Geldes irgendwohin fährt, uns Frühstück macht oder unser Gepäck trägt, erst wenn uns keine Möglichkeit mehr gegeben wird, uns in ein sicheres Schneckenhaus zurückzuziehen, wenn wir also wirklich leben müssen wie die Einheimischen, mit all den damit verbundenen Problemen und Sorgen, bekommen wir es mit der Angst zu tun.

Doch dazu wird es im Café Mirador nie kommen. Hier oben lässt es sich aushalten. Einerseits ist man zwar mitten in Bolivien. Andererseits hätte der Garten des Cafés genauso gut in Italien oder Neuseeland stehen können. Mit heiligem Erschauern nehmen zwei weißhäutige Touristinnen zur Kenntnis, was ihnen ein Rastazopfträger aus Kanada serviert. Sie hören sich "Fakten aus Bolivien" an, als sei dies das Drehbuch für einen beliebten Horrorfilm. "Auf dem Land stirbt eines von drei Kindern noch bevor es das fünfte Lebensjahr erreicht. Zwei Drittel der Bolivianer leben unter der Armutsgrenze, ein Drittel leidet unter mangelnder Ernährung. Zusammen mit Ländern wie dem Sudan oder dem Kongo gehört Bolivien zu den zehn ärmsten Staaten der Welt."

Garten Café Mirador

Der Rastamann gibt sich alle Mühe, seine beiden Zuhörerinnen zu beeindrucken. Sie danken es ihm mit großen Augen und gelegentlichen "Oh my god!"-Zwischenrufen, während sie an ihren Cocktails nippen. "Kein Wunder, dass die Kinder frühzeitig die Schulen verlassen: Sie müssen rasch zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Darum schlagen sie sich als Schuhputzer, Lastenträger, Straßenverkäufer durch, ohne zu wissen, dass sie sich genau damit alle Aufstiegschancen verbauen."

Manche wurden auch Musiker, wenn man darunter versteht, dass jemand versucht, Geld zu verdienen, indem er Töne aus Instrumenten hervorlockt. In diesem Sinne kann man auch die drei etwa zwölfjährigen Jungen, die sich gerade im Garten des Cafés aufbauen, Musiker nennen. Leider kann keiner der drei auf seinem Instrument spielen: Der Trommler schlägt unregelmäßig auf sein Gerät, die Geige quietscht wie eine Schar junger Ferkel, der Gitarre fehlen drei von sechs Saiten. Der "Gesang" ist schiefer als der Turm von Pisa. Für Investitionen in Rhythmusgefühl oder Fingerfertigkeit haben die "Musiker" keine Zeit. Stattdessen spielen sie Musik, wie Tausende bolivianische Kinder sie praktizieren: Wer etwas auftreiben kann, das einem Musikinstrument ähnelt, stellt sich auf die Straße und versucht, ein paar Münzen zu verdienen. Der Kontrast zu argentinischen Trommelgruppen oder Solokünstlern, die mit Präzision und Lebenslust großartige Musik darbieten, kann kaum größer sein.

Die Gesichter Südamerikas
Eine Abenteuerreise durch Argentinien, Chile, Bolivien, Peru und Kolumbien

Thomas Bauer (Autor)

Verlag: Wiesenburg 2009)
ISBN-10: 3940756458
ISBN-13: 978-3940756459, 22,90 €

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Irritiert hält der Rastamann in seiner Aufzählung des Schreckens inne. Die beiden Touristinnen verdrehen die Augen. Eine der beiden versucht, das Ärgernis mit der rechten Hand fortzuwedeln. Zugegebenermaßen ist das, was sich da ihren Ohren bietet, erbärmlich. Erschwerend kommt hinzu, dass Shakiras Meckerstimme aus den Lautsprechern parallel zur Darbietung der drei Musiker noch immer einen unwahrscheinlich simplen Text zum Besten gibt. Nach fünf Minuten wird es der Touristin zu bunt. Sie winkt den Kellner zu sich, flüstert ihm etwas zu und deutet auf die "Band". Der Kellner lässt die drei aus dem Garten werfen. Zufrieden lehnen sich die beiden Touristinnen zurück in ihre gepolsterten Stühle. Das Ärgernis ist beseitigt. Der Rastamann ergreift seine Chance und fährt fort, von Boliviens Furchtbarkeiten zu erzählen.

Orte wie das Café Mirador gibt es viele. Es sind Oasen inmitten des Chaos, die Gegenwelten erschaffen und uns für die Illusion bezahlen lassen, dass die Welt insgesamt doch irgendwie in Ordnung ist. Gegen klingende Münze bieten sie ein paar Stunden Vergessen.

Noch im Hotelzimmer, das kaum weniger ein Refugium ist, an dessen Außenmauern die Wirklichkeit abprallt, denke ich darüber nach, wie Menschen, die ausschließlich Orte wie diesen aufsuchen, ihren Aufenthalt in Bolivien erleben mögen. Ist dies in seinem Kern nicht reisen, um die Überlegenheit des eigenen, vertrauten Systems bestätigt zu sehen? Und: Ist das besser oder schlechter, als gar nicht zu reisen?

Text + Fotos: Thomas Bauer
Website: literaturnest.de



Teil I: Bruna Montserrat erklärt mir ihr Buenos Aires
Teil II: Vom Fluss verschluckt
Teil III: "Gipfelsturm" auf sechstausend Meter Höhe
Teil IV: Am skurrilsten Wallfahrtsort der Welt
Teil V: Bolivianische Dimensionen und fehlende Toiletten

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