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[art_4] Bolivien: Ein Platz der Sicherheit und Ruhe
 
Das Kolping-Frauenhaus in Cochabamba ist eine der ganz wenigen Einrichtungen Boliviens, in denen misshandelte Frauen Zuflucht suchen können.

Liebevoll zieht Jenny der kleinen Nicole die Mütze auf dem Köpfchen zurecht und streicht ihr noch einmal über die Wange. 10 Tage ist die Kleine alt – und wäre vermutlich nie geboren worden, wenn es das Kolping-Frauenhaus in Cochabamba nicht gäbe. Vor zwei Jahren trennte sich die heute 34-jährige von ihrem sie prügelnden Mann und zog mit ihren drei Töchtern zurück zu ihren Eltern. Als sie während einer kurzen Affäre wieder schwanger wurde, stellte ihr Vater sie vor die Wahl: Entweder Du treibst ab oder wir schmeißen Dich und Deine Kinder aus dem Haus. Jenny war verzweifelt, sie wusste nicht, was tun. "Ich konnte mein Kind einfach nicht töten, es war doch schon von Anfang an ein Teil von mir!" Eine Träne rinnt ihre Wange hinunter, als sie sich daran erinnert, wie sie mit sich rang. "Aber ich hatte doch auch Verantwortung für meine drei anderen Töchter. Ich hätte doch nicht mit ihnen auf der Straße leben können!" In ihrer Verzweiflung wendete sich Jenny an das Netzwerk für misshandelte Frauen und bekam dort den Tipp, zu Kolping zu gehen.

Maria Teresa Navarro ist die Leiterin dieses Netzwerkes. "Gewalt gegen Frauen ist in Bolivien ein riesiges Problem. Eine Studie hat ergeben, dass von zehn Frauen sieben Gewalterfahrungen gemacht haben." Immer wieder kommt es vor, dass Frauen von ihren tobenden Ehemännern schwer verletzt oder sogar getötet werden. "Aber es gibt kein Gesetz, das die Frauen wirksam schützt. Selbst wenn eine Frau so schlimm misshandelt wird, dass sie ein Auge verliert, kommt ihr Mann mit einem Tag gemeinnütziger Arbeit davon." Es gibt in Bolivien keine staatlichen Mechanismen, die Frauen vor Gewalt schützen würden. Die Polizei schreitet nicht ein, wenn ein Mann seine Frau schlägt oder der Großvater seine Enkelin missbraucht. So etwas gilt als Privatangelegenheit, und Frauen, die sich aus dieser Situation befreien wollen, bleibt in aller Regel nur, bei Freunden oder Verwandten Unterschlupf zu suchen oder auf der Straße zu leben. Denn in ganz Bolivien gibt es nur sechs Frauenhäuser.

Man kann sich also vorstellen, wie viele Frauen jeden Tag beim Maria Teresa vorsprechen und um Hilfe bitten. Vielen kann sie nur zuhören und Ratschläge geben, wie sie sich am Besten verhalten sollen. Aber in besonders extremen Fällen reicht sie eine Telefonnummer weiter: Die von Beatriz Iglesias. Beatriz sitzt in ihrem winzigen Büro im Kolping-Frauenhaus. Auf ihrem Schreibtisch türmen sich Akten und Papiere, ständig klingelt das Telefon. Von hier aus koordiniert sie Anwälte, Ärzte und Psychologen, organisiert den Kolping-Kindergarten und einen Verkaufsstand auf einem Markt, kümmert sich um die Rechnungen und hat bei all dem immer ein offenes Ohr für die Frauen, die hier Zuflucht gefunden haben. "Wir haben hier 14 Appartements, in denen die Frauen mit ihren Kindern wohnen", erklärt sie. "Wir sind immer voll belegt, manchmal müssen sich auch zwei Frauen ein Apartment teilen." Normalerweise können die Frauen maximal vier Monate in dem Frauenhaus wohnen. Nur Schwangere dürfen bis zwei Monate nach der Entbindung bleiben. "Länger geht nicht, der Andrang ist einfach viel zu groß und ich muss auch anderen Frauen, die unsere Hilfe brauchen, einen Platz anbieten können."

Vier Monate in Sicherheit, ohne die ständige Sorge, dass jede Minute etwas Schlimmes passieren könnte, mit Menschen, die einem zuhören, die Kraft und Halt geben – das kann ein ganzes Leben verändern. Wenn Giovanna an ihre Zeit bei Kolping zurück denkt, dann fühlt sie vor Allem eines: Dankbarkeit. Sie verließ ihren Lebensgefährten, nachdem ihre 11-jährige Tochter ihr anvertraut hatte, dass sie von ihm missbraucht wurde. Ihre Familie gab dem Kind die Schuld daran und wollte sie nicht aufnehmen. "Ich war völlig geschockt", erinnert sie sich. "Ich fühlte mich schuldig und wusste einfach nicht, was ich machen sollte. Doch mir war klar: Du musst hier raus und Deine Tochter in Sicherheit bringen." Ihr Geld reichte gerade mal für eine Nacht in einem billigen Hotel, dann stand sie auf der Straße. "Kolping hat uns gerettet. Ich konnte zur Ruhe kommen und Kraft schöpfen. Und ich habe hier gelernt, Bonbons herzustellen, die ich verkaufen kann. So wurde ich finanziell unabhängig und musste nicht aus Geldnot zu meinem Ex zurück." Heute lebt Giovanna mit ihrer Tochter in einer eigenen Wohnung. "Es tut immer noch weh, wenn ich an das denke, was passiert ist. Aber wir haben jetzt einen Weg gefunden, damit zu leben und können wieder in die Zukunft blicken." Obwohl Giovanna schon eine ganze Weile nicht mehr im Kolping-Frauenhaus lebt, steht sie weiter in engem Kontakt. Heute trifft sie sich noch einmal mit der Psychologin Rivé Zulema Callegas zu einem Abschlussgespräch. "Ich arbeite jede Woche zwei Nachmittage für das Kolping-Frauenhaus", berichtet die ehrenamtliche Helferin. "Ich bin von dem Konzept, das dahinter steckt, absolut überzeugt, sonst würde ich das nicht machen."

Beatriz hat eine ganze Gruppe von Helfern gefunden, die die Frauen ehrenamtlich unterstützen. Einen Anwalt, der hilft Scheidungen durchzufechten. Eine Kinderärztin, die sich um die Kleinen kümmert. Eine Psychologin für die Frauen und eine Psychologin, die auf Kinder spezialisiert ist. Und natürlich Kaiser, der Schäferhund, der ständig am Tor steht, wütende Ehemänner in Schacht hält und ein Gefühl der Sicherheit gibt. Sie alle helfen mit, das Konzept des Kolping-Frauenhauses umzusetzen. "Wir sind hier kein kostenloses Hotel, sondern vielmehr ein sicherer Ort, an dem die Frauen das bekommen, was sie brauchen, um wieder auf die Füße zu kommen", fasst Beatriz den Ansatz zusammen. Wer hierher kommt, erhält ein einfaches, aber voll ausgerüstetes kleines Apartment mit eingerichteter Küche, Bad, Schlaf- und Wohnzimmer. Die Frauen müssen die Lebensmittel für sich und ihre Kinder selber kaufen und auch einen Beitrag zur Strom- und Wasserrechnung bezahlen. "Wir helfen ihnen dabei, eine Möglichkeit zu finden, Geld zu verdienen zu. Wir haben hier Arbeitsräume, in denen Bonbons, Tischdecken und Dekorartikel hergestellt werden, die wir auf Messen und Märkten verkaufen. So können die Frauen ihren Kostenanteil finanzieren und lernen zugleich etwas, womit sie später ihren Lebensunterhalt bestreiten können." Die Arbeit hat noch einen weiteren positiven Effekt: Weil die Frauen etwas zu tun haben, drehen sich ihre Gedanken nicht ständig um das, was sie erlebt haben.

Finanziert wird die Arbeit des Frauenhauses zum größten Teil mit Spendengeldern aus Deutschland. Doch ein Viertel des benötigten Geldes bringen Beatriz und ihr Team selber auf. Sie verkaufen nicht nur Selbstgemachtes, sondern betreiben einen Kindergarten, den sowohl die Kleinen der misshandelten Frauen kostenfrei, aber auch Kinder aus der Nachbarschaft gegen Entgelt besuchen. Und sie bieten Fortbildungskurse mit anerkannten Zertifikaten an.

Jenny hat so einen Kurs besucht. Stolz zeigt sie die Urkunde, die ihr bescheinigt, dass sie auch gelernt hat, behinderte Kinder zu betreuen. "Mit diesem Zertifikat wird es kein Problem sein, einen Job zu finden, mit dem ich meine Töchter ernähren kann", sagt sie und lächelt. In der Zwischenzeit will sie Seifen verkaufen. Bei Kolping hat sie gelernt, diese hübsch zu verzieren und sie hat bereits einen Laden gefunden, der diese kleinen Kunstwerke in Kommission nehmen wird. Sieben Monate war sie in der Obhut des Frauenhauses. Eigentlich sollte sie noch eine Weile im Wochenbett liegen, doch stattdessen packt sie ihre Sachen. In drei Tagen wird sie mit ihren vier Töchtern in ihre eigene kleine Wohnung ziehen. "Ich bin Kolping unendlich dankbar dafür, dass ich hier in dem Frauenhaus Zuflucht finden konnte", sagt Jenny und sucht eine zweite Socke. Bei dem Gedanken, es nun zu verlassen, wird sie etwas wehmütig. "Wir haben uns hier behütet und zu Hause gefühlt. Aber jetzt kann ich mein Leben wieder selber in die Hand nehmen und deshalb ist es Zeit für uns zu gehen und den Platz für andere Frauen frei zu machen, die dringender Hilfe benötigen."

Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den Ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

Titel: Bolivien Kompakt
Autoren: Katharina Nickoleit
252 Seiten
ISBN 978-3-89662-364-5
Verlag: Reise Know-How
2. Auflage 2009

Text + Fotos: Katharina Nickoleit

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