ed 06/2008 : caiman.de

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brasilien: Exotik der Liebe
Die Parada Gay in São Paulo 2008
THOMAS MILZ
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


peru: Parracas, Ceviche und komische Schädel
NIL THRABY
[art. 2]
bolivien: Nada es seguro, pero todo es posible
Eine zoologische Diplomarbeit in Bolivien: Ein Rückblick in E-Mails
LENNART PYRITZ
[art. 3]
mosambik: Bazaruto Archipel / Vilankulo
DIRK KLAIBER
[art. 4]
helden brasiliens: Indianer Jones und der Hut aus Hasenhaar
Neue Abenteuer mit altem Kopfschmuck
THOMAS MILZ
[kol. 1]
macht laune: Los Tipitos im Teatro Opera
ANDREAS DAUERER
[kol. 2]
amor: Die Eroberung der Hoffnung
(für Ernesto Che Guevara)
MARKUS FRITSCHE
[kol. 3]
lauschrausch: Rodrigo y Gabriela und Miguel Zenón
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Brasilien: Exotik der Liebe
Bildergalerie: Die Parada Gay in São Paulo 2008

Liebe in seiner schönsten Form benötigt lediglich zwei Menschen. Wer würde dem nicht zustimmen? Manch einer schwört, dass Liebe in einer Gruppe noch schöner sei... Mit Sicherheit meinen sie damit drei, vier, fünf oder vielleicht sogar sechs Personen. Maximal. Ein Freund trifft sich allerdings auch schon mal mit einem ganzen Dutzend, um die Liebe aufblühen zu lassen. Oder meinte er damit Sex?

Mir ist klar, dass jetzt alle über mich herfallen und auf die angeblich schreiende Kluft zwischen Liebe und Sex hinweisen. Als ob Sex kein Akt der Liebe sei! Oder wie? Vielfältig scheinen die Auslöser für die Überflutung unseres Gehirns mit amphetaminähnlichen Neurotransmittern zu sein, die uns mit den höchsten Glücksgefühlen zurück lassen.


Eu vou afinar meu instrumento
Pelo seu beijo no calor do meu ouvido
Vamos inventar um passatempo
Fazer amor perto de todos os sentidos


Die Sonne bringt stets unsere Gefühlswelt durcheinander. Ein blauer Himmel lässt zudem jedes romantisch schlagende Herz mit göttlich anmutenden Reflexen und einem seltsam an Unendlichkeit erinnernden Gefühl überlaufen. Welche Bedrückung einen überkommt, wenn dieses Gefühl dann plötzlich nicht mehr da ist! "The sudden chill when lovers doubt their immortality" hat ja Elvis Costello in einem ganz großen Lied einmal gesungen. Aber von Musik will ich hier erst gar nicht anfangen. "Über Musik zu reden ist wie über Architektur zu tanzen."


Geme a metaleira quando sente
Que vai no vento o turbilhão do improviso
Quem cai nessa dança para sempre

Tocou pandeiro no quintal do paraíso

Wir gehen die Avenida Paulista im Zentrum der Stadt entlang, die viele als "unmenschlich" und als "Hauptstadt des Egoismus" anklagen. Sie sollten einfach einmal ihre Augen öffnen, diese Blödmänner.

An meiner Seite ein neu gewonnener Freund, der auf wundersame Weise wie vom Himmel gefallen zu sein scheint. Genau in dem Moment als ich dringend einen Freund brauchte... Manchmal, so scheint es, hilft der Himmel ein wenig nach. Wir reden über Gott und die Welt, von längst vergangenen Lieben, von Glück, Traurigkeit; all jenen Zutaten die unser Leben ausmachen und ihm ein wenig Würze beisteuern. Dem Anderen sein Gehör zu schenken ist mit Sicherheit auch eine Form von Liebe.


Exótica das artes
O nosso amor selvagem
Acende os refletores
Quando arde


Mittendrin sind wir in einem platonischen Akt der Liebe zwischen drei Millionen Menschen, die auf den Straßen tanzen, singen, sich in den Armen liegen und ihre Freude teilen (und manchmal zudem auch Einiges nicht ganz so Platonisches). Zum ersten Mal überhaupt gefällt mir dieser Event. Normalerweise schrecken mich viele Menschen auf einem Haufen eher ab. Heute ist es anders. Die Parada fließt über die Paulista und die Consolação hinweg, angetrieben von fröhlichen Rhythmen. "Du kannst Dir vielleicht nicht richtig vorstellen, wie glücklich es mich macht, das hier mitzuerleben", sagt der Freund, der zum ersten Mal dabei ist. "Sich gleich mit den anderen zu fühlen, statt ausgegrenzt zu sein." Ich verstehe, wie er sich fühlt. Manchmal ist die Exotik einfach zuviel. Und zu oft errichten wir Hindernisse in unserem Leben; das muss sich ändern!


Finge que não gosta de cinema
Pra começar comer pipoca no teatro
Quando me filmou lá na cantina
Se revelou e o meu amor ficou de quatro


Nach Jahren, in denen ich der Parada lediglich beigewohnt habe und alles Exotische fotografierte (wobei die Exotiken stets die selben sind, nur halt jedes Mal ein Jahr älter), kann ich dieses Mal wirklich teilnehmen, die "Berichterstattung" bei Seite lassen. Einfach nur an der Seite anderer zu sein, ist auch ein Akt von Liebe, denke ich mir.


Linda não combina com bandido
Você só rima com o verso mais bonito
Fica no meu corpo que eu preciso
Fazer amor perto de todos os sentidos

Liebe definiert man nicht, und man kann sie auch nicht verstehen. Wie sagte einst Picasso: "Alle wollen Kunst verstehen. Warum versuchen sie nicht, den Gesang eines Vogels zu verstehen?"

Mit der Liebe verhält es sich wohl genauso.


Exótica das artes
O nosso amor selvagem
Acende os refletores
Quando arde


Text + Fotos : Thomas Milz

[druckversion ed 06/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_2] Peru: Parracas, Ceviche und komische Schädel

Neben der beeindruckenden Fauna auf und nahe der Parracas-Halbinsel gibt es dort noch etwas zu bewundern, dessen Signifikanz kaum geringer ist. Auf der Halbinsel nämlich lebten zwischen 700 v. Chr. bis 200 n. Chr die Angehörigen der sogenannten Parracas-Kultur, einer der großen und wichtigen Kulturen vor den Inka.

Da ist zum einen die Keramik, dann die Bewässerungssysteme, Erfindungen auf dem Gebiet der Agrikultur (vor allem der Terrassenbau), Steinmetz- und schließlich Textilarbeiten. Hinsichtlich letzterem brillierten die "Peruaner" im internationalen Vergleich besonders. Das liegt sicher auch daran, dass den Stoffen eine noch größere Wichtigkeit zukam, als das zum Beispiel in Europa der Fall war. Obwohl wir zum Beispiel wissen, dass Purpur ausschließlich dem König vorbehalten war, so gab es in Europa doch niemals einen echten Kult um Stoff. In Peru dagegen wurden die Stoffe als quasi-religiöse Objekte angesehen. Man könnte vielleicht die Rolle der Webarbeiten mit der des Goldes in Europa vergleichen. Neben einer besonderen Sorte Muscheln (Spondylus) galten Stoffe als die höchste Form von Reichtum und Fürsten verschenkten Stoffballen als besonderes Zeichen ihrer Gunst.


Dabei wurde in den Anden natürlich vor allem die Wolle von Alpaca und Lama verarbeitet. Für die Herrscher - vor allem in der Inka-Kultur - war die besondere Wolle der Vicuñas vorgesehen, die so selten war und ist, dass nur das Gewand des Inkas daraus gewebt war. An der Küste dagegen verarbeitete man eher Baumwolle und natürlich Schafswolle. Die Stoffe wurden ergänzt durch natürliche Fasern, vor allem Papageienfedern.

Mit den Parracas erreichte die Webkunst einen sehr frühen Höhepunkt. Die erhaltenen Stücke, die wir in dem kleinen Museum auf der Halbinsel sehen konnten (und später im Museum der Nation in Lima), sind einfach phantastisch. Mit gerade einmal sieben Grundfarben schufen die Parracas knapp zweihundert Farbtöne. Die Stoffe sind fein gewoben und teilweise überraschend groß-breiter als die Armspanne eines Webers. Sehr erstaunlich, wenn man bedenkt, dass ein traditioneller Webstuhl eher ein lowtech-Gerät ist.

Doch die Parracas hatten noch mehr zu bieten. Sie schufen eine sehr schöne, farbige Keramik. Wie "üblich" mit der Darstellung vieler katzenartiger Gottheiten. Im Gegensatz zu anderen Kulturen aber - mit Ausnahme vielleicht der nahen Nazca - sind die Figuren nicht unbedingt Furcht einflößend, sondern durchaus sympathisch.

Das vielleicht auf den ersten Blick Spektakulärste der Parracas aber ist die Verformung der Schädel, die später von vielen anderen Kulturen nachgeahmt wurde. Man glaubt heute, dass die Verformung im Wesentlichen ästhetischen Zwecken dienen sollte, sowie einer gewissen Klassendifferenzierung. Nur der "Adel" durfte seinen Schädel verformen und setzte sich so auch physisch von den Angehörigen der anderen Schichten ab. Eine Idee, die uns ja mehr als bekannt vorkommt, aber selten in solch einer Konsequenz verfolgt worden ist.

Um den Schädel zu verformen, wurde bereits Säuglingen, die ja noch über einen weichen Knochenbau verfügen, enge Bandagen angelegt. Man muss sich das so vorstellen wie die zusammengeschnürten Füße der chinesischen Frauen. Die Bandagen wurden häufig gewechselt, mussten während des Wachstums aber von dem Kind ständig getragen werden. Das Resultat ist mehr als beeindruckend, wenn auch durchaus befremdlich: ein Schädel, dessen hinterer Teil, statt rund abzufallen, steil nach oben zeigt. Der Schädel wird dadurch sicherlich doppelt so hoch wie ein normaler.

Man fragt sich heute natürlich nach den Konsequenzen. Da die Parracas ohne ersichtlichen Grund verschwanden, besagt eine Theorie, dass die Schädelverformung gewissermaßen fatale Folgen hatte. Andere weisen daraufhin, dass die Parracas wohl in der Nazca-Kultur aufgegangen sind, und dass es daher gar kein "Verschwinden" im eigentlichen Sinne gegeben hat.

Neben der Verformung führten die Parracas Schädeloperationen durch, wie sie auch aus Ägypten bekannt sind. Man fand heraus, dass die solchermaßen Behandelten überraschenderweise in großem Maße überlebt haben. 60% der Mumien, die man gefunden hat und die eine Schädeloperation aufwiesen, überlebten den Eingriff. Wozu die Operationen dienten, ist allerdings nicht so recht klar. Man nimmt religiöse oder primitiv-medizinische Gründe an, beispielsweise um die bösen Geister aus dem Kopf zu lassen.

Abgesehen von dem kleinen, aber sehr beeindruckenden Museum gibt es aber auch noch die Halbinsel zu bewundern. Anders als auf der Strecke Lima-Pisco ist der Sand oder besser vielleicht die Wüste hier nicht schmutzig-grau, sondern weist ein beeindruckendes Farbspektrum auf. Der Sand ist so fein (was wir abends aus den Schuhen, Hosentaschen, Ohrmuscheln usw. schüttelten, kann man sich vielleicht vorstellen), dass er mühelos als Uhrensand benutzt werden kann.

Die Küste ist teilweise sehr sanft und lässt natürliche Häfen entstehen. An einem derselben durften wir unser Mittagessen einnehmen: natürlich alles organisiert. Allerdings haben wir dem ein Schnippchen geschlagen und unsere Früchte und ein wenig weißen, frischen Käse direkt am Strand eingenommen. Das Wetter war herrlich, der Himmel mehr als blau und der Wind pfiff über uns hinweg. Ein paar Seesterne und immer wieder Pelikane verschönten die Sicht.

Der andere Teil der Küste ist beeindruckend steil. An einer Stelle ist eine interessante und hübsche Felsformation "Die Kathedrale" zu sehen. Früher konnte man sie direkt besteigen, aber nach dem Erdbeben im Juli 2001 ist das zu gefährlich. Macht nichts, dachten wir, denn das Material, aus dem die Klippen bestehen, ist anders als etwa in der Bretagne, kein fester Fels, sondern eher ziemlich erosionsfreudiger Sandstein, so dass immer mal ein Stück wegbrechen kann.


Zurück in Pisco widmeten wir uns dem Essen. Ceviche ist das große Stichwort der gesamten Küste. Durch die nicht unbedeutende japanische Immigration (siehe Fujimori) inspiriert, haben die Peruaner ein neues Gericht kreiert, das insofern auf Sushi beruht, als dass es auch mit rohem Fisch zubereitet wird, aber durch die Verwendung von Ají -und damit verbunden die Schärfe-eine eindeutig peruanische Note bekommt. Die Kombination von stark-saurer Zitrone, Fisch und der würzigen Schärfe der Chilis füllt einem den Mund auf eine eigenartig vollständige Art und Weise. Man bekommt ein bisschen den Eindruck, dass der ganze, aber auch wirklich der ganze, Mund schmeckt. Zudem ein wenig aufputschend durch die Intensität des Geschmacks, vergleichbar mit einem Glas Sekt (zuviel).

Charakteristisch für die Küche Perus ist auch die Größe der Portionen. Wir bestellten uns im Prinzip zwei Hauptgerichte, ein Ceviche und einmal Flußkrebse in einer Knoblauchsoße und eine Suppe. Schon als die Suppe in einer Terrine kam und ausschließlich für mich bestimmt war, fragten wir uns, ob wir uns mengenmäßig nicht übernommen hatten. Das bittere Ende war die Notwendigkeit eines Mototaxis, wegen kompletter Bewegungsunfähigkeit, der Schwur, mindestens die nächsten drei Tage nichts zu essen und drei Stunden siesta, weswegen wir vom Hotelier und einer sehr freundlichen Angestellten mehr als einmal auf den Arm genommen wurden. Aber das war es wert.

Text + Fotos: Nil Thraby

[druckversion ed 06/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]





[art_3] Bolivien: Nada es seguro, pero todo es posible
Eine zoologische Diplomarbeit in Bolivien: Ein Rückblick in E-Mails

Mo, 21. Nov. 2007, 15:09:28
Betreff: Es geht los

Vom 29. November 2007 bis zum 20. April 2008 werde ich in Bolivien sein und dort Daten für meine Diplomarbeit mit dem handlichen Titel "Auswirkungen der Fragmentierung von Trockenwäldern auf Diversität und Zusammensetzung der Avi- und Primatenfauna im Departamento de Santa Cruz, Bolivien" sammeln.
Alles Gute und bis bald, L.

Vogelbestimmung und - beringung
Cebus Apella

Do, 8. Dez. 2007, 20:40:19
Betreff: Die Schnecke unter den Säugetieren...

...ist ja wohl das Faultier, und ich habe selten ein Tier gesehen, das sich am Boden in solcher Zeitlupe bewegt. Ab und zu könnte man auch denken, es wäre gerade gestorben, aber dann geht die rasante Tour weiter. Ich komme gerade drauf, weil ich vorhin auf der plaza von Santa Cruz saß, als sich ein Faultier auf den Fußweg zur drei Meter entfernten Palme gemacht hat: die Stunde muss man sich schon mal nehmen. Ja, ich bin in Santa Cruz, der zweitgrößten Stadt Boliviens, im subtropischen Tiefland gelegen. Bis vor ein paar Jahrzehnten noch ein kleines Kaff mit Schlammstraßen, heute ein Über-1-Millionen-Einwohner-Moloch mit Schlammstraßen. Santa Cruz ist das Wirtschaftszentrum des Landes, mit teuren Läden und Hotels im Zentrum und armen, verlotterten Vororten. In den Straßen begegnet man gegelten Anzugträgern und ponchotragenden Bolivianern aus dem Hochland, die Arbeit in der Stadt suchen. Eine sehr gegensätzliche Stadt.

Ich wohne hier bei Sebastian, einem deutschen Biologen. Das Viertel heißt Palmira und ist das südlichste der Stadt. Gleich nebenan liegt das Gefängnis Palmasola. "Super Wohnlage", meinte Sebastian dazu, wer ausbreche, was öfter vorkomme, haue gleich weiter ab, und in der Nähe vom Knast seien Einbrüche auch psychologisch einfach schwieriger - bleibt zu hoffen, dass er da Recht behält.

Allmählich nimmt mein Projekt Gestalt an. Wir haben uns bereits zwei Untersuchungsgebiete (ich brauche insgesamt mindestens zehn) und einmal den botanischen Garten der Stadt (ein eingezäuntes 180 ha-Waldstück am Stadtrand) angesehen. Dort werden wir übermorgen mit der Arbeit beginnen (d.h. Netze für Vogelfang und -beringung aufstellen, Transektläufe für die Affen und Vogelstimmaufnahmen mit einem Mikrofon durchführen), zusammen mit einer bolivianischen Studentin. Das zweite Waldfragment befindet sich im Naturpark Lomas de Arena, der einige Kilometer hinter unsrem Haus liegt. Gestern haben wir dann noch für 150 Dollar einen Überflug mit einer klapprigen Cessna gemacht und währenddessen zig Filme verknipst, um die Waldfragmente im Südosten von Santa Cruz auszukundschaften und zu prüfen, welche sich außerdem noch für die Studie eignen. In den letzten Tagen musste ich zudem noch viel Kram und Ausrüstung besorgen: Macheten, Netzstangen, Aufnahmekassetten, Spiritus zum Kochen im Feld usw. Dabei bin ich in den Genuss gekommen, den klapprigen Jeep von Sebastian durch Santa Cruz zu manövrieren; da verliert man schon Einiges an Nerven und auch mal einen Außenspiegel. Ansonsten ist alles in Butter.
Euch eine schöne Weihnachtszeit mit Schnee und allem drum und dran! Alles Gute und bis zur nächsten Mail, L.


Mi, 14. Dez. 2007, 21:22:25
Betreff: Scheiß Mücken

Heute nur eine kurze Mail. Seit vier Tagen rackern wir im Jardín Botánico. Es ist sehr anstrengend, weil der botanische Garten nur im vorderen Bereich gepflegt wird (in dem Teil, in dem wir campieren), weiter hinten ist einfach nur dichter Wald, Sumpf und Dornendickicht. Außerdem geht`s um 4 Uhr morgens los. Die Mücken hier malträtieren uns grausam (die lachen über Autan und den ganzen Kram, es helfen nur dicke Klamotten,). Ich bin total verquaddelt, aber die Gärtner, mit denen wir uns angefreundet haben, meinten, das würde bald besser - die müssen`s wissen, entzünden aber auch noch ständig stark rauchende Feuer, um die Mücken zu vertreiben. Die Arbeit ist ganz gut angelaufen (Stimmaufnahmen, Netzfänge, und wir haben schon vier Affenarten gesehen bzw. gehört), allerdings geht alles langsamer voran, als zunächst kalkuliert. Heute habe ich mir einen Nachmittag frei genommen, um in die Stadt zu fahren und Wasser, Brot und Batterien für`s GPS-Gerät zu besorgen.
Ich verabschiede mich noch mal mit einem leidenschaftlichen "Scheiß Mücken!", L.

Galbula Ruficauda
Picumnus Dorbignyanus

Sa, 24. Dez. 2007, 18:12:01
Betreff: Feliz Navidad

Erst einmal wünsche ich Euch allen natürlich schöne Weihnachten und einen guten Start ins Neue Jahr, falls wir nicht vorher noch einmal voneinander hören.

Seit gestern sind wir von der ersten Untersuchungsfläche, dem Jardín Botánico, zurück. Insgesamt sind wir auf mehr Affenarten getroffen als erwartet: Cebus, Callicebus, Alouatta, Aotus und Callithrix. Z.T. konnten wir sehr schöne Fotos schießen und die Brüllaffen habe ich auf Kassette aufgenommen. Ein typischer Feldtag sah etwa folgendermaßen aus: Von 5 bis 7 Uhr morgens bin ich bestimmte Punkte im Wald abgelaufen und habe Stimmaufnahmen gemacht, die ich später in Göttingen auswerten werde. Parallel hat meine Feldassistentin Miriam Netze im Wald geöffnet und die gefangenen Vögel beringt. Die Netze haben wir mitten im Wald platziert, wobei man ganz schön mit der Machete herumhacken muss bis man so ein Netz aufstellen kann. Außerdem wurden die Netze alle zwei Tage an einen anderen Ort gebracht, um Gewöhnungseffekte der Vögel zu vermeiden. Dazu haben wir das Fragment per GPS vermessen und die Waldstruktur beschrieben (Kronendachhöhe, Strauchdichte, Stammdurchmesser usw.). Anfangs war das Wetter heiß und feucht, vor einer Woche gab`s dann einen Sturm und Unmengen Regen. Danach war der Garten völlig überschwemmt, so dass man teilweise bis zu den Knien durchs Wasser waten musste - kein Spaß, wenn man morgens im Dunkeln in den Wald zieht oder die schweren Netzstangen durch den Sumpf schleppen muss...

Gewohnt haben wir in einem leer stehenden Haus am Eingang des Gartens. Wegen der Unmengen an Mücken haben wir anfangs unter Tischen mit Mückennetz geschlafen bis Sebastian unsre Zelte gebracht hat. Die Mücken hatten trotzdem ihr Festmahl, 50 Stiche pro Hand pro Tag waren da schon drin, dazu Sandflöhe in den Füßen. Aber auch andere Tiere haben sich beobachten lassen: Ein Nasenbär, Füchse, Echsen, Taranteln, Frösche (die sich auch gerne im Klo aufgehalten haben) und Schlangen. So, genug der Biologie.
Nochmal alles Gute und bis bald, L.


Mi, 25. Jan. 2008, 19:19:26
Betreff: Im Land der Mennoniten

Die letzte Zeit haben wir in einem Gebiet gearbeitet, das früher von großen Mennonitenkolonien besiedelt war, die mit ihren stetig wachsenden Familien mehr Land zum Bewirtschaften brauchten und deswegen weiter nach Osten in unbewohnte Gebiete gezogen sind. Auf dem ehemaligen Mennonitenland sind jetzt einzelne Fincas bolivianischer und eingewanderter Bauern, die Viehzucht und Ackerbau betreiben. Gewohnt haben wir zuletzt auf der Finca vom Schweizer Don Estephan: Ein ca. 60-jähriges Urgestein, (nach eigener Einschätzung) Sozialist, mit Schnurrbart und buchreifer Biografie. Als Jugendlicher abgehauen, in Schottland Schafe gehütet, in Frankreich Erntehelfer, dann für die Schweizer Entwicklungshilfe in Honduras und Bolivien unterwegs.

In Vallegrande, nahe dem Ort, wo Che Guevara erschossen wurde, hat er in den 70er Jahren auch gearbeitet, und ihm wurden in Hinterzimmern Bilder von Einwohnern Arm in Arm mit Che gezeigt, der hier immer noch große Sympathien genießt. Don Estephan hält Milchkühe und baut Mais und Gemüse an (das heißt, wir hatten jeden Morgen frische Milch direkt aus der Kuh und konnten auf den Feldern Möhren usw. zum Kochen ernten). Wir haben in zwei kleinen Wäldchen (so jeweils drei Hektar) auf dem Gelände gearbeitet, in denen es immerhin mehrere Affenarten und Faultiere gab.

Während unserer Zeit wurden eines Nachts zwei Kühe von Viehdieben "entführt" und an einem Feldweg geschlachtet, so dass Don Estephan nur noch zwei Köpfe und acht Beine gefunden hat - ein bisschen wilder Westen. Ein Nachbar hat ihm auch schon dreimal dasselbe Pferd geklaut, aber es ist immer wieder zurückgekommen. Irgendwann hat Don Estephan den Dieb zur Rede gestellt, woraufhin der meinte, es sei doch alles in Ordnung, das Tier komme doch immer wieder zurück.
Un abrazo fuerte, L.


Mi, 1. März 2008, 20:04:27
Betreff: Geschafft

Wir haben jetzt Daten in zehn Waldfragmenten aufgenommen: Vogeldiversität und -dichten, Primatenarten und Daten zu Größe, Isolationszeit und Vegetationsstruktur der Waldflächen. Aber ich will noch etwas von der vergangenen Zeit erzählen:

Ich bin vor ca. einer Woche wieder mit vollgestopftem Jeep und Feldassistentin Miriam losgefahren, um eine halbe Fahrtstunde östlich von Santa Cruz in eine herrliche Schlammpiste einzutauchen, die ins Dörfchen Paurito führt.
Versunken im Schlamm

So ziemlich direkt an der Abzweigung hatten sich allerdings an die 100 Demonstranten mit brennenden Autoreifen usw. auf der Straße postiert - eine der typisch bolivianischen bloqueos, mit denen hier gegen alles demonstriert wird. Mir kam die glorreiche Idee auf die Wiese neben der Straße abzubiegen, auf der nur einige Menschen herumsaßen. Aber Miriam meinte trocken: "Lennart, die prügeln uns zusammen, wenn wir da langfahren." Ok, das muss nicht sein, dann vielleicht doch lieber umdrehen und über eine Ausweichpiste nach Paurito. In Paurito haben wir auf der Finca eines bolivianischen Bauern gecampt und mehrere kleine Waldstücke in der Umgebung untersucht. Im Dorf war buchstäblich nichts los, bzw. am Samstag und Sonntag ist immer großes Besäufnis, das hat mir der bolivianische Familienvater glücklich und vollstramm erzählt - allerdings am Montag.

Noch in Bolivien werde ich jetzt erstmal die Vogelstimmen, die ich aufgenommen habe, mit Sebastians Hilfe auswerten und Artenlisten für jedes Waldfragment erstellen. Dann werde ich die zoologischen Daten später in Göttingen mit den Habitatdaten in Verbindung setzen, um zu sehen, welche Habitatparameter den größten Einfluss auf die Vögel und Affen haben… mal sehen
Ich hoffe, Euch allen geht es gut! Bis bald in Göttingen, L.

Text + Fotos: Lennart Pyritz

Weitere Veröffentlichungen des Autors:
www.spektrumdirekt.de/madagaskar
www.primate-sg.org/PDF/NP14.2.alouatta.bolivia.pdf

Lennart Pyritz hat am Reiseführer über Bolivien mitgewirkt, den ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Titel: Bolivien Kompakt
Verlag: Reise Know-How

[druckversion ed 06/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_4] Mosambik: Bazaruto Archipel / Vilankulo

Nie ohne Cashew-Nüsse. Man bekommt sie naturbelassen geschält, naturbelassen halb geschält oder geschält mit Piri-Piri (Chili).

In Barra (Inhambane) wurden aus den geplanten drei Tagen acht. Wir vermochten einfach nicht, das wunderschöne Alles dem Nichts zu überlassen: wir waren die einzigen Besucher am Traumstrand. Nach gut einer Woche endlich trat das Gefühl ein, dass uns der Aufbruch zu etwas Neuem das Herz nicht vollkommen brechen würde.
Vilankulo-Bazaruto [zoom]

Um neun Uhr früh ließen wir uns mit dem Jeep ins 20 Kilometer entfernte Kolonialstädtchen Inhambane bringen, setzten nach zwei Stunden Stadtbesichtigung mit einer Dhau (Fischerboot) über nach Maxixe und bestiegen dort einen Microbus nach Vilankulo. Für die 250 Kilometer benötigte der Bus fünf Stunden. Über den Zustand der Piste konnte man sich nicht beklagen, doch obwohl als Direktbus deklariert, hielten wir vierdutzendmal um Reisende, Ziegen oder Hühner ab- und aufzuladen. Bei jedem zweiten Halt umringte den Bus eine Traube Verkäufer von Getränken und Cashew-Nüssen. Da man an Cashew-Nüssen nie genug vorrätig haben kann, kauften wir jedes Mal etwa ein halbes Kilo.

So richtig Positives hatten wir von Vilankulo bislang nicht gehört. Strand so la la. Ausflug zum Bazaruto Archipel extrem teuer. Mit der Dhau dauere die Überfahrt bei schlechtem Wetter bis zu 8 Stunden. Ein Tages-Trip zu den dem Archipel vorgelagerten Inseln sei eher bescheiden und lohne nicht.
Insel Benguerra [zoom]

Wir schmiedeten daher den Plan, in einer schönen Posada mit Pool abzusteigen, uns den nächsten Tag gemütlich den Ort Vilankulo anzuschauen und die Weiterfahrt nach Beira zu organisieren.

Mozambique hält abgesehen von den köstlichen Cashew-Nüssen immer wieder positive Überraschungen bereit. Man wird mit offenen Armen empfangen und unaufdringlich mit Hilfsbereitschaft überschüttet.

Insel Bazaruto [zoom]
Insel Bazaruto [zoom]

"Ihr habt nur einen Tag in Vilankulo, dann müsst ihr unbedingt einen Schnorchel-Trip zum 2-Mile-Riff mit anschließendem Besuch der Insel Bazaruto machen. Eure Bustickets für die Weiterfahrt besorge ich morgen Mittag. Ich muss eh ins Dorf. Im Übrigen ist der Jeep-Shuttle abends zum Restaurant wie auch um 4.10 Uhr in der Früh zum Bus natürlich kostenfrei..."

Am nächsten Morgen um acht Uhr, nachdem uns die Chefin des Hauses noch kurz zum Getränke und Obst einkaufen ins Dorf gefahren und uns mit Sandwichs bestückt hatte, wurden wir am Strand vor der Posada von einem Schlauchboot, angetrieben von zwei 75 PS-Motoren, abgeholt.

Insel Bazaruto [zoom]
Insel Bazaruto [zoom]

Die Überfahrt nach Benguerra – Nachbarinsel der Hauptinsel Bazaruto – dauerte auf dem spiegelglatten Wasser 30 Minuten. Es folgten 20 Minuten des Vertrautmachens mit dem feinen weißen Sand und dem glasklaren Wasser, dann ein 90-minütiges Schnorchelerlebnis am absolut intakten und sehenswerten Riff und dann ein 5-Stunden-Besuch der Hauptinsel des Archipels Bazaruto.

5 Stunden lang ein einziges Auf und Ab: Hoch auf die 100 Meter aufragende Düne, runter rasen und ohne zu halten in die Fluten stürzen. Die steile Seite der Düne ist dem Inneren der Insel zugeneigt.

Insel Bazaruto [zoom]
Insel Bazaruto [zoom]

Abgesehen davon, dass sie wirklich steil ist, ist der Sand auf dieser Seite irre heiß und kaum begehbar. Der Blick aber ist einmalig: Das Cremfarbene der Dünen mischt sich mit dem Grün der Sträucher und Bäume. Die gewaltigen Sanddünen dringen in die Vegetation vor und man möchte sofort loslaufen – eine Art Dünenhopping veranstalten – und die Insel erkunden. Leider reicht die Zeit nicht, denn die Ausmaße der Insel betragen 30 mal 5 Kilometer und zudem raubt einem das unerbittliche Brennen der Sonne die Energie.

Insel Bazaruto [zoom]
Insel Bazaruto [zoom]

Wieder zurück in Vilankulo gehen wir ins Smugglers auf eine "kleine" Erfrischung. Im Gegensatz zum Vorabend ist das Lokal zum "Club" umfunktioniert. Sämtliche "weiße" Familien aus Vilankulo, der Umgebung und von den Inseln treffen sich jeden Mittwoch zum Volleyball mit anschließendem Grillen, Trinken, Reden. Seit letzter Woche scheint eine Menge passiert zu sein, denn das Stimmengewirr ist enorm. Die Stimmung ist gelöst und heiter und durchaus ansteckend. Wir trinken ein Bier mehr, fallen dann ins Bett, sind am nächsten Morgen um 4 Uhr früh auf der Piste und jagen wieder den Cashew-Nüssen hinterher.

Text + Fotos: Dirk Klaiber


Unterkunft in Vilankulo
The Smugglers und das Palmeira Lodge gehören zusammen. Sie sind unter der super netten Leitung einer Familie und deren Freunde aus Zimbabwe. Beide haben einen Pool, das Smugglers zudem Bar und Restaurant.
Insel Bazaruto [zoom]

Website: www.smugglers.co.za, Smugglers: Zimmer (2 Personen) ab 27 Euro, Palmeira Lodge: Zimmer (2 Personen) inkl. Frühstück 50 Euro.

Ausflug zum Bararuto Archipel
Odyssea Dive unter französischer Leitung seit 2007. Tagestrip nach Bazaruto mit Schnorcheln am Two Mile Reef (inkl. Nationalparkgebühr) 50 Euro/Person. Tauchpreise s. www.odysseadive.com
Blick von der Düne ins Inselinnere [zoom]

[
druckversion ed 06/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: mosambik]





[kol_1] Helden Brasiliens: Indianer Jones und der Hut aus Hasenhaar
Neue Abenteuer mit altem Kopfschmuck

160 Gramm starker Stoff aus Hasenhaaren. Farbe: Schokolade. Per Hand gefertigt.

"Das ist kein normaler Hut wie wir ihn sonst machen. Er sollte den Charakteristiken des Helden entsprechen: nicht angepasst und etwas verbraucht.” Paulo Cury sitzt auf einem roten Sofa in der Vorhalle der prunkvollen Villa seines Steuerberaters und Rechtsanwalts. Er saugt an einer dicken Zigarre, die ständig ausgeht. Schwarzes T-Shirt unter schwarzem Sakko, eine Goldkette um den Hals.

In dritter Generation führt Cury die traditionsreiche Hutfabrik in Campinas. Sein Großvater und dessen Bruder, libanesische Einwanderer, haben den Betrieb 1920 gegründet. Vor sich hin gedümpelt sei das Geschäft, so Cury, bis man Ende der 60er Jahre begann, in die USA zu exportieren.

Einer seiner Kunden in den USA hat dann den Kontakt zu Hollywood hergestellt.


"Ich wusste nicht, um welchen Film es sich handelte. Sie haben uns das Briefing geschickt, die Charakteristiken des Helden. Ich wusste, dass es Harrison Ford war, aber sonst nichts. Dann kamen zwei Direktoren aus Hollywood, die wollten, dass ich das Modell per Hand fertige. Und dann nahmen sie es mit, um mit dem Dreh zu beginnen."

Erst als Cury im Kino den ersten Indiana Jones Film sah, entdeckte er, auf welches Abenteuer er sich da eingelassen hatte. Seitdem trug Harrison Ford den Hut aus Brasilien in vier Filmen der Reihe – der letzte knackt gerade sämtliche Einspielrekorde der Kinogeschichte.

"Der Indiana Jones Hut wurde unser bestverkauftes Modell", sagt Cury. 900.000 Stück, so schätzt er, habe man in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten davon weltweit abgesetzt. Und aufgrund des derzeitigen Hypes um den vierten Teil der Reihe erwartet er weiterhin gute Absätze.

Auch könne man ja nicht ausschließen, dass in Zukunft noch weitere Indianer Jones Abenteuer folgen würden, meint er. Ob mit Harrison Ford oder nicht, wisse er aber nicht. "Er ist ja mittlerweile schon 65."

"Meiner Meinung nach wird er den Hut an seinen Sohn weiterreichen. Hat er aber in dem aktuellen Film nicht gemacht. Er hat ihn seinem Sohn aus der Hand genommen, bevor der ihn sich aufsetzen konnte."

Ob nun Ford selber oder ein Nachfolger demnächst Indiana Jones auf der Leinwand spielen wird, eins ist sicher: der Hut wird derselbe sein. "Seit dem ersten Film hat man immer denselben Hut "eingesetzt". Man bewahrt die Kostüme auf, um sie später wieder zu benutzen. Und so ein Hut aus Hasenhaaren hält locker zehn Jahre."

Man darf sich also auf neue Abenteuer freuen. Ein alter Hut wird es aber trotzdem bleiben.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 06/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





[kol_2] Macht Laune: Los Tipitos im Teatro Opera

Früher war alles anders. Nun, zweifelsohne gibt es bessere Einstiege für einen Artikel über argentinische Rockmusik, aber es hat sich einiges geändert in der argentinischen Hauptstadt. Konzerte sind rar geworden in der Ära Post Cromañon, jenem traurigen Ereignis, bei dem während eines Konzerts fast 200 Menschen bei lebendigem Leibe verbrannten.

Viele alte Spelunken, in denen früher jeden Tag angesagte nationale Bands spielten, können die harten Auflagen nicht mehr erfüllen und haben dicht gemacht. Zum einen ist das wunderbar, weil die Sicherheit für Bands und Zuhörer enorm gestiegen ist. Zum anderen führt es leider dazu, dass sich die ehemals bewegte Live-Musik-Szene nahezu in Luft aufgelöst hat.

Oder sagen wir besser: nur noch an ausgesuchten Orten ab und an auftritt und sich in ein Korsett zwängen lassen muss. Schafft man es dann aber dennoch in eines dieser Konzerte, wird man selten enttäuscht.

Brilliant: Los Tipitos im Teatro Opera
Manch einer erinnert sich noch an die Clowns und Schausteller am Strand von Villa Gesell, dem kleinen Badeort in der Nähe von Mar de Plata, wo vor allem Einheimische in den Sommermonaten die Sonne genießen.

Genau jene Clowns stehen acht Jahre später auf der Bühne des Teatro Opera vor mir. Für ihre mittlerweile zehnte Platte, Tan Real, haben sie jüngst einen Premio Gardel eingeheimst - gewissermaßen den argentinischen Echo. Und sie werden nimmermüde, das auch auf der Bühne zu zelebrieren: "Wisst Ihr, unser neues Album, das wir heute Abend an dieser Stelle offiziell vorstellen, hat ja diesen Preise gewonnen. Ihr wisst schon, diesen wichtigen...". Ein bisschen Selbstbeweihräucherung und Stolz dürfen natürlich nicht fehlen. Ehre, wem Ehre gebührt.

In jedem Falle haben die vier Herren Raúl, Fede, Walter und Pablo Sinn für gediegenes Ambiente. Im ehrwürdigen Teatro Opera, keinen Steinwurf vom Obelisken entfernt, geben sie die ersten zwei CD-Release-Shows nach der erfolgreichen Verleihung. Oben machen lärmende Teenies Radau, unten in den Plüschsesseln sitzen die etwas gemäßigteren Herrschaften, die jedes Mal vergnügt in die Hände klatschen werden, wenn Fede mal wieder einen gelungen Witz ins Publikum wirft.

Der Stimmung kann die Bestuhlung keinen Abbruch tun, auch wenn erst im zweiten Teil der Show die letzten Hintern sich daraus erhoben haben werden. Das liegt wohl daran, dass zu diesem Zeitpunkt schlichtweg keine freie Sicht mehr nach vorne bestehen wird.

Als ich mich noch umschaue, erlischt mit einem Mal das Licht und die Vier betreten in Anzug und Schlips die Bühne, ehe das erste Lied der Platte Flor Negra durch das Theater schallt. Es ist der Auftakt zu einer gelungen Mischung aus Rock, Pop, Blues und Jazz, der die Leute einfach in seinen Bann zieht und unweigerlich zum Mitmachen animiert.

Wie es sich für eine offizielle CD-Präsentation gehört, werden fast alle 14 Stücke der aktuellen Scheibe zum Besten gegeben. Für ein Klangspektakel der besonderen Art sorgt der Titelsong Tan Real, den wirklich jeder der Zuhörer aus voller Kraft mitsingen und - im oberen Teil - mitkreischen kann. "Lo que más me gusta, de esta vida absurda, es que parece tan real." Man merkt die Ironie, die in den Zeilen mitschwingt. Oft gesellschaftskritisch, aber immer mit dieser Portion Lebenswillen, der den Argentiniern scheinbar allen gemeinsam ist. Natürlich dürfen auch Stücke wie Vívelo, Más alla de los dos, Elegido oder Te Vas nicht fehlen, die im Radio rauf und runter laufen. Komplettiert wird die Set-List vor allem mit Krachern aus den beiden Alben Armando Camaleón und Vintige. Dazu zählen Campanas en la Noche, Brujería, Sabados Blancos oder Silencio ebenso wie Busquenla und Como un dragón.

Die letzte Zugabe wird vom begeisterten Publikum standesgemäß mit mehrminütigem Applaus bedacht. Scheinbar bis die Hände schmerzen, dabei machen die ehemaligen Clowns gar keine Anstalten von der Bühne zu watscheln treten. Ein Teil der Fans drängt an den Ordnern vorbei zur Bühne und bittet um Autogramme oder gemeinsame Schnappschüsse.

Wer aber glaubt, dass den Jungs das ziemlich schnell auf den Geist gehen könnte, der irrt gewaltig. Sie scheinen jede einzelne Sekunde dieses "Hautkontaktes" zu genießen. Da wird man sich wieder bewusst, woher sie kommen, und dass sie es gewohnt sind, mit ihren Zuhörern auf Tuchfühlung zu gehen. Sie zeigen keinerlei Starallüren.

Irgendwann ist schließlich auch das letzte Autogramm geschrieben, die letzte Hand geschüttelt und alle sind glücklich: Die Fans, weil sie ein paar Reminiszenzen mit nach Hause nehmen können und ein formidables Konzert erlebt haben. Und, na klar, die Band, die endlich in eine lauwarme Nacht treten kann, um vielleicht noch das ein oder andere Bier zu kippen. Vielleicht schaffen sie es ja in absehbarer Zeit sogar, einmal deutsches Bier zu verköstigen. Mit Sicherheit würde der Funke auch bei uns überspringen.

Text: Andreas Dauerer
Fotos: amazon.de

[druckversion ed 06/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: macht laune]





[kol_3] Amor: Die Eroberung der Hoffnung
(für Ernesto Che Guevara)

Comandante,
Deine Hände waren nicht so alt,
aber sie wurden Dir trotzdem abgehackt.


Comandante,
Vaterland oder Tod war Deine Bestimmung,
bestimmt hast Du davon gewusst, warum Du gestorben bist.


Comandante,
weil Du so bereit warst, zu sterben,
deshalb wollten sie Dich unbedingt töten.


Comandante,
Deine Hoffnung stand fest,
weil Du nicht gekämpft hast, um Totenruhm zu erobern.


Comandante,
Deine Hände waren nicht so alt,
aber sie wurden Dir trotzdem abgehackt.


Comandante,
Vaterland oder Tod war Deine Bestimmung,
bestimmt hast Du davon gewusst, warum Du gestorben bist.


Comandante,
weil Du so bereit warst, zu sterben,
deshalb wollten sie Dich unbedingt töten.


Comandante,
Deine Hoffnung stand fest,
weil Du nicht gekämpft hast, um Totenruhm zu erobern.


Comandante,
auch Du hast getötet,
weil in der Aufopferung das Opfer steckt?


Comandante,
Du wolltest den Neuen Menschen, el hombre nuevo,
der deshalb Brot besitzt, weil er begriffen hat, gemeinsam zu ernten.


Comandante,
Du hast eine Erde bewässert,
die sich zum Meer hin hätte öffnen können.


Comandante,
du wurdest auf einem bolivianischen Rollfeld verscharrt,
aber die Wurzel Deiner Wunden ist tief in die Erde eingedrungen.


Comandante,
Du leuchtest heute noch,
weil Du die Lüge ohne Heuchelei gebleicht hast.


Comandante,
ich habe von Dir gelernt,
nach der einen Backe
nicht auch noch immer die andere hinzuhalten.





Text + Fotos: Markus Fritsche


Die Eroberung der Hoffnung ist entlehnt aus: Markus Fritsche: Endzeitlich Neuwärts – Gedichte und Gewichte
Schardt Verlag Oldenburg, 2000, ISBN 3-89841-000-5

Lesetipp:
Markus Fritsche: Wenn Dali noch leben würde. Streifschüsse in Cadaqués,
Schardt Verlag in Oldenburg, 2005, ISBN 3-89841-165-6

Bestellen könnt ihr den Roman bei: Schardt Verlag in Oldenburg, Tel.: 0441-21779287,
E-Mail: schardtverlag@t-online.de, www.schardtverlag.de

oder direkt beim Autor:
Markus Fritsche, E-Mail: altmar.fritsche@t-online.de



[druckversion ed 06/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: amor]





[kol_4] Lauschrausch: Rodrigo y Gabriela und Miguel Zenón

Rodrigo y Gabriela
Rodrigo y Gabriela
Rubyworks
Die Treppe zum Himmel ist, musikalisch betrachtet, fertig gestellt. Was Led Zeppelin 1971 mit ihrem Song "Stairway to heaven" begonnen haben, führen Rodrigo y Gabriela nun zu einem genialen Ende. Ihre Version des Klassikers, gespielt auf zwei akustischen Gitarren, läßt alle anderen bisher bekannten Cover weit hinter sich. Sie versprüht südamerikanisches Feuer, gepaart mit virtuosem und gleichzeitig groovigem Spiel. Gut, dass sich das mexikanische Musikerpärchen eines Tages entschloss, die Heavy-Metal-Band Tierra Acida zu verlassen und als Duo auf Tour zu gehen. Dass sie in Europa zunächst als Straßenmusiker ihr Geld verdienen mußten, bewerten sie heute positiv, denn niemand ist schwerer zu fesseln als vorbei laufende Passanten.

Rodrigo y Gabriela
Rodrigo y Gabriela
Rubyworks

Die Schnelligkeit ihres Spiels erinnert an Paco de Lucia, ihre Virtuosität an Ulf Wakenius, ihre Rhythmusimprovisation auf den Gitarrenkörpern an die südfranzösischen Rumberos. Im Waschzettel wird ihre Musik mit Begriffen wie "Akkordgewitter" oder "Gitarrenfeuerwerk" beschrieben und ausnahmsweise übertreiben die Texter nicht. Die Kraft ihrer Musik haben sie eindeutig aus ihrer Heavy-Metal-Zeit mitgenommen und tatsächlich covern sie auch gerne Titel solcher Bands, hier z.B. "Orion" von Metallica. Play loud!

Miguel Zenón
Awake
Marsalis Music
Streicher sind das erste, was man auf dem neuen Album von Miguel Zenón zu hören bekommt, doch dann setzt umgehend sein Altsaxophon ein und führt uns in die Gedankenwelt des puertorikanischen Musikers. "Awakening (prelude)" heißt der ruhige erste Titel, der später noch als inter- und postlude auftaucht und bezieht sich auf den Prozeß, als Zenón sich über seine musikalischen Prioritäten klar wurde. Das wunderbar harmonisierende Quartett Zenón am Saxophon, Hans Glawischnig am Bass, Luis Perdomo am Piano und Schlagzeuger Henry Cole, spielt sich durch schnelle und komplexe Titel (z.B. "Camarón", eine Hommage an den gleichnamigen Flamencosänger), bei denen eine Melodie gleichzeitig in verschiedenen Rhythmen funktioniert.

Miguel Zenón
Awake
Marsalis Music

Aber auch die langsameren Titel wie "The missing piece" oder "Santo" belegen die emotionale Kraft und technische Brillanz des Quartetts. Seine Heimat Puerto Rico, die Zenón auf dem Vorgängeralbum "Jibaro" musikalisch genial verarbeitet hat, spielt auf "Awake" keine Rolle. Das Album ist ein neuer Abschnitt in der Karriere des jungen Saxophonisten. Moderner Jazz at its best!

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon

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