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helden in brasilien

„O bezerro-encourado“ - das Kalb in fremder Haut

„Bezerro-encourado“ wurde Graciliano Ramos von seinen Eltern und Geschwistern genannt. Das Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören, sich fremd und ausgestoßen zu fühlen, mit der ihn umgebenen Welt in Dissonanz zu leben, ließ ihn nicht mehr los.

Im Sertão, dem Landesinneren Brasiliens, müssen die Menschen hart sein, wollen sie der gnadenlosen Kargheit der Natur ihr Überleben abtrotzen. In diese Welt wird Graciliano als erstes von 16 Geschwistern geboren. Bucklig, von schwächlicher Konstitution, geistig zurückgeblieben, halb blind und ständig krank. Man gibt ihm das Gefühl, ein unnützer und der Familie zur Last fallender Esser zu sein. Wegen seiner Schwachheit verspottet und verprügelt, ohne jemals die Kraft zu erlangen, sich zu wehren. Um dem Sohn Härte beizubringen, befiehlt ihm der Vater eines Tages, einen schwarzen Viehjungen zu quälen. Doch Graciliano bringt es nicht über sich und erhält vom Vater die dem Viehjungen zugedachten Prügel.

Als er mit neun Jahren lesen lernt, flüchtet er sich in die Welt der Bücher. Dostojewski, Eça de Queiroz, Maxim Gorki, Machado de Assis. Unerkannt will er bleiben. Und so veröffentlicht er seine Gedichte in der lokalen Presse unter einem Pseudonym. Er selbst hält sich für schlechter als mittelmäßig. Nur der Hartnäckigkeit eines Verlegers aus Rio de Janeiro ist die Veröffentlichung seines ersten Romans „Caetés“ zu verdanken. Graciliano, immerhin schon über vierzig, schämt sich seines Werkes, dessen Hauptperson selber ein mittelmäßiger Schriftsteller ist, blind für die eigenen Schwächen und damit zwangsläufig zum künstlerischen Scheitern verurteilt.

Auch in den folgenden Werken „Angústia - Angst“ und „São Bernardo“ bedient er sich fiktiver Autoren.

Der eine, Paulo Honório aus „São Bernardo“, hält die Schriftstellerei zwar für unnütz, empfindet aber das Verlangen, am Ende seines Lebens Bericht abzulegen. Er verkörpert den harten, gnadenlosen Patriarchen, der mit Mord und Totschlag gegen seine Feinde vorgeht. Was sich ihm in den Weg stellt, wird vernichtet, selbst wenn es sich dabei um seine eigenen Gefühle handelt. Der andere, Luis da Silva, bringt die Geschichte seiner Wirrnis zu Papier. Er ist der letzte Überlebende einer einst mächtigen und reichen Familie des Landesinneren und somit das letzte Glied und gleichzeitig die Kulmination einer desaströsen, absteigenden Familienlinie. Er verliert sich im Wahn seiner sich selbst peinigenden Seele. Nur einmal noch kann er sich aufraffen, allen Mut zusammen nehmen und seinen verhassten Nebenbuhler, einen Stadt bekannten und erfolgreichen Geschäftsmann, töten.

Stellvertretend für den schwachen und hilflosen Graciliano erheben diese beiden Figuren die Hand gegen ihre Peiniger, sind fähig, sich zur Wehr zu setzen, sich zu behaupten. Er selber bleibt stets der kleine Junge, der sich klein macht, einrollt („encolher-se“), um den Schlägen des Vaters und dem gemeinen Spott der Geschwister zu entfliehen.

In „Vidas Secas - Karges Leben“, seinem vierten Roman, führt der Viehhirte Fabiano seine Familie und die Hündin Baleia durch den Sertão auf der Suche nach einem Zuhause und Arbeit. Er kennt keine Gnade gegenüber sich selbst, seiner Familie und den Tieren. Doch vor den lokalen Autoritäten, dem Gutsherrn und dem „gelben Soldaten“, schrumpft er zu einem demütigen Winseler, die Faust in der Tasche geballt. Lediglich in seiner Vorstellung tötet er seinen Peiniger, den „gelben Soldaten“. Mit Fabiano kommt Graciliano aus der Deckung, hört auf, sich hinter starken Romanfiguren zu verstecken. Wie Fabiano ist auch Graciliano schwach, hilflos gegenüber seinen Peinigern und ständig auf der Flucht.

Bevor er „Vidas Secas“ verfasst, muss er für ein Jahr ins Gefängnis. Der Grund für seine Haft ist ihm unklar, doch suhlt er sich in seinem Unglück. Er ist es gewohnt, gequält zu werden, und vielleicht erwartet er in seinem tiefsten Inneren auch gar nichts anderes. Doch von nun an schreibt er nur noch in der ersten Person Singular, versteckt sich nicht mehr hinter den scheinbar autonomen Figuren seiner Romane.

Auf „Vidas Secas“ folgt „Infância“,Graciliano Kindheitserinnerungen, in denen dem Leser alle wesentlichen Figuren der ersten vier Romane wieder begegnen. Ähnlich wirkt die kafkaeske Situation seiner Haft, beschrieben in „Memórias do Cárcere“, wie die Verdichtung seines ganzen Lebens. Um schuldig zu sein und sich schuldig zu fühlen, bedarf es keines Schuldspruchs. Graciliano ist es von Natur aus: Ankläger, Angeklagter und Richter in einer Person.

Er ist der brillanteste brasilianische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Wer dies nicht zu glauben vermag, sollte das Kapitel über den Tod der Hündin Baleia in „Vidas Secas“ lesen. Kein anderer brasilianischer Autor seiner Zeit hat etwas vergleichbares zu Papier gebracht.

Doch sein eigenes Urteil über sich und sein Werk fällt vernichtend aus:
„Im März 1936 ... übergab ich der Stenotypistin die letzten Seiten von „Angústia - Angst“. Das Buch erschien ... im August desselben Jahres und wurde gut aufgenommen, nicht seines eigentlichen Wertes wegen, sondern weil ich inzwischen bekannt geworden war ... - unglücklicherweise.
Ich zog nach Rio oder besser, sie zogen mich nach Rio, wo ich jetzt lebe. Hier schrieb ich mein letztes Buch, eine unbedeutende Geschichte - ein verkommenes Paar, eine Hündin und zwei Kinder. Ganz bestimmt bleibe ich nicht in der Großstadt. Ich muss fort. Obwohl ich kein Freund von Reisen bin, habe ich immer wie ein Zugvogel gelebt, wie ein Zigeuner. Pläne habe ich keine. Ich bin am Ende des Lebens angelangt, wenn man das als Leben bezeichnen kann. Bildung habe ich fast keine. José Lins hat recht, wenn er behauptet, dass meine bescheidene Kultur aus Jahrbüchern stammt.“

Sein ganzes Leben war Graciliano Ramos damit beschäftigt, das Werk seines Vaters zu vollenden, sich selber so klein wie möglich zu machen.

Text + Fotos: Thomas Milz

Das Werk von Graciliano Ramos (1892 - 1953)

Romane

-Caetés, 1933
-São Bernardo, 1934
-Angústia, 1936
-Vidas Secas, 1938


Kurzgeschichten

-A terra dos meninos pelados, 1939
-Histórias de Alexandre, 1944
-Histórias incompletas, 1946
-Sete histórias verdadeiras, 1951
-Alexandre e outros heróis, 1962


Erinnerungen

-Infância, 1945
-Memórias do Cárcere, 1953







 
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