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caiman.de 05. ausgabe - köln, 01. mai 2001
brasil

Jeca Tatu – die Erdlaus

Eine literarische Figur, mit einer ungeheuren Naivität gesegnet, repräsentiert das ländliche Brasilien des Sertão, des vergessenen Landesinneren: Jeca Tatu, der reichen Vorstellungswelt des Schriftstellers José Bento Monteiro Lobato entsprungen.

Heute wollen wir einen Blick auf die Figur des Jeca Tatu werfen, unsterblich gemacht durch die Verfilmung mit dem einzigartigen Amácio Mazzaropi in der Rolle des naiven Landbewohners. Obwohl er alle Rekorde an der Kinokasse sprengte, blieb Mazzaropi von der Kritik immer geächtet.

"Unsere Berge sind Opfer eines Parasiten, einer Erdlaus, die typisch ist für die brasilianische Erde (...) Dieser zerstörerische Parasit ist der caboclo (Mischling zwischen Europäern und Indianern), der nicht an unsere Zivilisation anzupassen ist (...) Es beginnt schon mit seiner eigenen Behausung. Die ist aus Holz und Schlamm zusammengehauen, was all die kleinen Tierchen, die dort in den Winkeln hausen, mit Freude erfüllt. Nur er, der caboclo, kann weder reden noch singen, weder lachen noch lieben. Inmitten all diesen Lebens ist er der einzige, der nicht lebt."

1914 schrieb Monteiro Lobate, Gutsherr aus Taubaté im Landesinneren von São Paulo, zwei Artikel für die Zeitung "O Estado de São Paulo", in denen er sich aufs Heftigste über die einfachen Bewohner seiner Region beschwerte. Die caboclos, so meinte er, seien nicht an die moderne Zivilisation anzupassen. Die meiste Beachtung erfuhr der Artikel über den Bauern Jeca Tatu, den Lobato als Synonym für den "in der Gegend herumhockenden caboclo" erfunden hatte. "Caboclos sind Erdläuse und Landeier ohne jegliche Begabung für gar nichts außer der Faulheit. Sie sind Raupen und Parasiten, die in hohlen Baumstümpfen vor sich hin vegetieren und diese langsam auffressen und abtöten." Der Name Jeca steht in der Umgangssprache für einen dummen, einfältig - naiven Dorftrottel.

Monteiro Lobato wurde Schriftsteller und mit ihm wurde die Figur des Jeca Tatu im ganzen Land berühmt. Lobato wurde mit der Zeit klar, dass die Landbewohner nicht aus eigener Entscheidung heraus dickbäuchig und faul waren, sondern aufgrund von Krankheiten und schlechter Ernährung. Er bedauerte, dass er sie dermaßen brüskiert hatte und entschuldigte sich. So begann er neue Geschichten zu schreiben, in denen es Jeca gelang, seine Krankheiten zu heilen, sich einen Gutshof zu kaufen und ein reicher Mann zu werden. Die Figur des Jeca wurde von dem Politiker Rui Barbosa als Symbol für die Vernachlässigung der armen Landbevölkerung durch die Regierung benutzt.

Wirklich bekannt wurde die Figur des Jeca aber erst durch die Verfilmung der Geschichte mit dem Schauspieler Amácio Mazzaropi. Schon zu Beginn seiner Schauspielkarriere hatte Mazzaropi Figuren gespielt, die der des Jeca ähnlich waren. 1958 schlüpfte er dann zum ersten Mal in die Rolle des wahren Jeca, und es sollten weitere Filme folgen: "Jecas Traurigkeit", "Jeca und die Nonne", "Jeca, der Hexenmeister", "Jeca gegen den Teufel", "Superjeca, eine Klatschtante im Himmel", "Jeca und sein schwarzer Sohn" und "Jeca und die Wunderstute".

Mazzaropi blieb im kollektiven Gedächtnis Brasiliens als Stereotyp des Landbewohners, des caipira, hängen. Die Mischung aus respektlosem Spott, Bauernschläue und unglaublicher Naivität ließ das Publikum herzhaft über seine Abenteuer lachen.

Die Kritiker nannten Mazzaropis angeblich überstilisierte Darstellung einen schweren Rückschritt für das brasilianische Kino. "In all den Jahren, in denen sich Mazzaropi jetzt schon als caipira ausgibt, oder besser einen solchen fälscht, hat er nicht einen Film gedreht, den man zu den guten des brasilianischen Kinos zählen könnte. Aber jedes Mal hat er seinen stinkenden Fisch an den Mann gebracht, sich in die Kleider der Jecas dieser Welt hineingezwängt und seine verlogene Botschaft des guten Menschen gepredigt. Heute ist Mazzaropi nicht mehr als eine Karikatur seiner selbst: ein Bauer, der das einzige verloren hat, was an ihm noch sein eigen war: seine Natürlichkeit." (Orlando Lopes Fassoni in der Folha de São Paulo)

Mazzaropi hat die Intellektuellen immer gehasst:
"Es ist sehr einfach, dass irgend so ein Typ an seine Schreibmaschine sitzt und schreibt: Heute kommt mal wieder ein neuer Film von Mazzaropi raus. Ihr braucht gar nicht erst hinzugehen, es ist mal wieder eine richtig schöne Scheiße. Aber sie begründen es nicht. Ich glaube, sie sind einfach sauer, dass ich mit den Filmen Geld verdiene, oder sie sind der Meinung, dass ich diese Filme nur mache, um Geld zu verdienen. Aber das stimmt nicht, denn der beste aller Kritiker würde sofort aus dem Kino laufen, wenn dem so wäre – das Publikum.
Wir müssen endlich damit aufhören zu glauben, dass das Kino immer irgendeine Botschaft transportieren muss, dass es das Volk erziehen soll. Wir sind hier nicht in der Schule... mein Job ist es, die Leute zum Lachen zu bringen. Ich habe mit diesem Botschaft-von-hier-nach-da
-und- von-da-nach-hier-Zeug nichts am Hut. Das Volk zu erziehen ist Aufgabe des Erziehungsministeriums, das hat nichts mit mir zu tun."

Mazzaropi schien ein einfacher Mensch zu sein, genau wie seine Figuren. Amácio, Sohn aus einer Familie der Mittelklasse, war ein fauler Junge. Mit Hängen und Würgen schaffte er den Gymnasialabschluss. Von seinem Opa Amácio Mazzaropi, einem Mann aus dem Landesinneren, hatte er nicht nur den Namen, sondern auch die Liebe für das einfache Landleben geerbt. Und so wurde der caipira Mazzaropi geboren, der genauso stockend denkt wie er spricht, ein einfacher Mensch, genau wie sein Publikum:

"Das Publikum ist einfach, es will lachen und weinen, Minuten voller Spannung erleben. Es bringt gar nichts, ihm eine Hand voller Absurditäten um die Ohren zu hauen: an die Stelle der Augen klebt man den Mund, und wo der Mund hingehört, macht man die Augen hin. So was gefällt nur den Intellektuellen."

Die Anerkennung durch genau diese Intellektuellen ließ lange auf sich warten. Aber schließlich soll er sie doch noch erhalten haben: Der Präsident der Brasilianischen Literatur-Akademie schickte ihm angeblich eine Karte mit folgenden Worten: "Ich, Astraugesilo de Ataide, bin der Überzeugung, dass Mazzaropi mit dem Film "Jeca und die Nonne" die Höhen der Kinokunst erklommen hat. Er ist mit Sicherheit heute ein Künstler von Weltrang."

Mit der Figur des Jeca Tatu hatte Mazzaropi es geschafft, ein reicher Mann zu werden, der seine Filme in seinen eigenen Filmstudios produzierte; auf seinem riesigen Landgut im Tal des Paraíba (São Paulo), genau an dem Ort, wo viele Jahre zuvor Monteiro Lobato geboren wurde und die Geschichte von Jeca Tatu seinen Anfang nahm.

Und so hofft die Landbevölkerung Brasiliens, ihnen möge das gleiche Schicksal widerfahren wie Jeca Tatu oder Amácio Mazzaropi: sich von einer Erdlaus in einen reichen Gutsbesitzer zu verwandeln.

Text + Foto:
Tom Milz

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