ed 09/2010 : caiman.de

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spanien: Opus Dei, Legionarios de Cristo & Co.
Die Schwarze Mafia unterwandert die Katholische Kirche
JUAN CARMELO
[art. 1]
druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Endlich Land in Sicht?
Volksbegehren zur Begrenzung von Landbesitz
THOMAS MILZ
[art. 2]
peru: Die Keks-Schmuggler von Piura
ROBERT GAST
[art. 3]
brasilien: Man muss diese Jugendlichen retten
Das Straßenkinderprojekt CASAS TAIGUARA
GÜNTHER SCHULZ
[art. 4]
amor: Vom Winde verweht
Die Leiden der Caatinga
THOMAS MILZ
[kol. 1]
pancho: Bohnenmus, Übergepäck, kein Fisch
DIRK KLAIBER
[kol. 2]
grenzfall: Weiße Soda
Per Anhalter von Mazatlán nach Guadalajara
ANIKA WACHTER
[kol. 3]
lauschrausch: El último aplauso / Buenosaurios
TORSTEN EßER
[kol. 4]




[art_1] Spanien: Opus Dei, Legionarios de Cristo & Co.
Die Schwarze Mafia unterwandert die Katholische Kirche
 
Es war einmal eine Frohe Botschaft, verkündet von einem Mann, der in tiefer Bescheidenheit lebte und bevorzugt mit Armen und Benachteiligten der Gesellschaft zusammen traf. Sein Name war Jesus von Nazareth, seine Botschaft war Liebe. Er war, soweit bekannt ist, stets einfach gekleidet und ritt an Festtagen auf einem Esel, ansonsten bewegte er sich zu Fuß von einem Ort zum anderen.

Diejenigen, die sich heute anmaßen, in seinem Namen zu sprechen und Gebote zu verkünden, tragen meist Purpurgewänder, lassen sich von Chauffeuren in schwarzen Limousinen kutschieren und halten auch sonst nicht viel von Bescheidenheit. Sie stehen an der Spitze der (noch) größten Glaubensgemeinschaft der Welt, auf einer Schwindel erregenden Bürokratie-Pyramide und werden "Kirchenfürsten" genannt - mit der Betonung auf Fürsten, nicht auf Kirche. Denn sie streben allzu oft  nach der Ausübung von politischer und wirtschaftlicher Macht - und setzen diese dann gezielt ein, um noch mehr Einfluss an den Schaltstellen der Weltkirche zu erkaufen und den Vatikan immer weiter an den rechten Rand zu lenken.



Hier soll nicht die Rede sein von der Pius-Bruderschaft, die zwar viel Presse-Wirbel verursacht hat, und man kann davon ausgehen, dass für jeden Pius-Bruder, den Ratzinger in den Schoß der Katholischen Kirche zurück geholt hat, etwa hundert brave Katholiken ausgetreten sind. Dennoch ist der Einfluss dieses Splittergrüppchens als verschwindend gering einzustufen.

Stetig wächst jedoch der Schatten, der das Licht der Kirche verdunkelt, vor allem durch zwei mächtige Organisationen, die sich während der letzten 30 Jahre wie ein Krebsgeschwür im Machtapparat des Vatikan ausgebreitet haben: das "Opus Dei" und die "Legionäre Christi".

Die "Legionäre Christi" bilden dabei ein Heer von ca. 3.000 Priestern und 75.000 Laien, die im "Königreich Christi" (Regnum Christi) organisiert sind. Sie sind besonders aktiv in der Kindererziehung und im Bildungssektor und unterhalten Internate von Mexiko über Rom und Salamanca bis Bad Münstereifel. Gegründet wurde diese Vereinigung mit dem merkwürdigen Namen 1951 von Marcial Maciel (1920-2008), einem Mexikaner, der beinahe heilig gesprochen worden wäre und von Papst Wojtyla als einer "der das Priesteramt ausübt, gesegnet mit den Gaben des Heiligen Geistes" bezeichnet wurde. Irren ist päpstlich: Denn Maciel war ein Verbrecher, ein drogensüchtiger Päderast und Betrüger, der mehrere gefälschte Pässe besaß, Gelder im großen Stil unterschlagen und in Mafia-Manier verteilt hat, (mindestens) drei Kinder mit zwei Frauen zeugte, Dutzende (oder Hunderte?) von Kindern missbraucht hat, darunter sogar seine eigenen. Maciel das Monster. Gottseidank wurden die Verbrechen Maciels im Februar 2010 auch von der Führung der "Legionäre Christi" und dem Vatikan offiziell zugegeben - allerdings mit der üblichen Verzögerung, wurden doch bereits 1997 erste Fälle von Kindesmissbrauch durch Maciel bekannt.

Von einem weltlichen Gericht verurteilt wurde er allerdings nie. Dass es sich dabei leider um keinen Einzelfall handelt, wurde in den letzten Jahren überdeutlich, als in Europa, Lateinamerika und den USA immer mehr Päderasten-Priester "aufflogen". Fast immer werden diese klerikalen Kinderschänder zu ihrem Schutz vor der weltlichen Gerichtsbarkeit abgeschoben in verschwiegene und luxuriöse Priesterheime in der Provinz. Bestenfalls werden sie ein wenig zur Buße ermahnt. Doch darum geht es nicht, denn was sie getan haben, ist nicht nur Sünde, es ist ein Verbrechen. Der inzwischen verstorbene Erzbischof von Wien, Kardinal Groer, ist da nur das prominenteste von vielen Beispielen. Interessanter Weise hatte Groer kurz vor seinem durch Bekanntwerden seiner päderastischen Aktivitäten erzwungenen Rückzug noch eine laute Hasspredigt gegen Homosexuelle von sich gegeben. So wie der Augsburger Ex-Bischof Mixa - bis ein junger Seminarist vom Liebesbekenntnis des Herrn Mixa erzählte. Ein paar Beispiele von vielen, die immer wieder zeigen, dass diejenigen, die am lautesten die Homosexualität anklagen, sie heimlich und reichlich praktizieren.

Doch die lauten Schlagzeilen der Massenmedien, die einen Missbrauchs-Skandal nach dem anderen aus den finstersten Ecken der katholischen Kirche ans Licht zerrten und wiederholt die verlogene klerikale Sexualmoral thematisierten, haben einem Thema von ungleich größerer Tragweite erschreckend wenig Raum gewidmet: der schleichenden Eroberung der Kirchenspitze durch die Sekten der Legionäre Christi und des deutlich gefährlicheren Opus Dei. Denn während die "Legionäre" durch den nicht mehr zu retuschierenden Skandal um ihren dämonischen Gründer gründlich ausgebremst wurden, präsentiert sich das 1928 von Josemaria Escrivá de Balaguer (1902 - 1975) ins Leben gerufene "Werk Gottes" einflussreicher als je zuvor.  Die Laien-Organisation hat weltweit ca. 90.000 Mitglieder (die Zahl ihrer Sympathisanten liegt mindestens zehnmal höher), sie stellt mehr als 2.000 Priester, darunter mächtige Bischöfe. Vor allem in Spanien und Lateinamerika konnte das "Opus" während der letzten 20 Jahre wichtige Kirchenthrone für Mitglieder oder zumindest Sympathisanten erobern: Lima, Bogotá, Burgos, Madrid, Quito, Santo Domingo.

Der Gründer Balaguer bescherte seinem Lebenswerk einen posthumen Triumph durch seine Heiligsprechung im Jahr 2002. Grund dafür gab es nicht, denn Balaguer war nicht heilig, sondern sehr seltsam. Er predigte bizarre Bußpraktiken wie die "Abtötung des Körpers"  mit Hilfe von Peitschenhieben und Dornenbändern, die er sich um die Oberschenkel wickelte. Das selbsternannte "Werk Gottes" ist das Werk eines größenwahnsinnigen Sadomasochisten. Man muss sich fragen, ob es nicht ein Skandal ist, dass er heilig gesprochen wurde, während echten Heiligen wie Miguel de Mañara oder Mutter Theresa diese Ehre noch nicht zuteil wurde. Und man muss sich fragen, wie Balaguer so erfolgreich wurde. Während der Franco-Diktatur schleuste er schon ab den frühen 50er Jahren zielstrebig Opus Dei Mitglieder als Minister in die Regierung ein und sicherte sich so früh Privilegien, was in einer Diktatur leichter als in einer Demokratie ist. Mit letzerer konnte sich das "Opus" nie so richtig anfreunden, ebensowenig mit dem 2. Vatikanischen Konzil. Das nötige Geld für Expansion und die Gründung von Bildungsinstituten wie der Opus-Universität von Pamplona kam schnell zusammen, denn die Mitglieder müssen ihren Verdienst abgeben und ihr Vermögen dem Opus vermachen. Da das Opus Dei bevorzugt in Villenvierteln und nicht in Favelas aktiv war, kamen rasch größere Geldmengen zusammen, zumal man auch in Lateinamerika gezielt auf Großunternehmer und Latifundien-Besitzer zuging. Mehr noch als die "Legionäre" ist das Opus Dei an einer Zementierung bestehender Besitzverhältnisse interessiert. Deshalb vertreten viele seiner Mitglieder wirtschaftsliberale Standpunkte, die mit der katholischen Soziallehre unvereinbar sind und eher mit protestantischen, US-amerikanischen Börsenmaklern in Zusammenhang gebracht würden.

Überhaupt gebärden sich auch Opus Dei Bischöfe und solche, die mit dem "Werk" sympathisieren, oft mehr als Politiker denn als Priester. Ihre Predigten erinnern an Wahlkampfreden, besonders in Spanien, wo die Katholische Kirche eine Stütze der Franco-Diktatur war und später wie ein Sprachrohr der Aznar-Regierung wirkte. In Spanien gingen Purpurträger allzu oft eine schamlose Verbindung mit der politischen Macht ein und dabei standen Opus Dei Mitglieder in vorderster Front. Nicht nur während des Franco-Regimes, dem sie eine tragende Stütze waren. Die Mehrheit im Regierungskabinett des Kriegstreibers Aznar bildeten Mitglieder und Sympathisanten des Opus Dei. Sie erheben ihre Stimmen regelmäßig, wenn es um den Schutz des ungeborenen Lebens geht. Dagegen lässt sie das Leben der schon Geborenen anscheinend kalt. Denn als Aznar den Beitritt zum Irak-Krieg beschloss (gegen den sogar der Papst erfreulich deutlich protestierte), hüllten sich die spanischen Opus Dei Minister in Aznars Regierung in lautes Schweigen. Und der aktuelle Oberhirte von Madrid, Rouco Varela, hat den Beruf verfehlt: er ist eigentlich kein Priester, sondern Politiker und erinnert in seiner Rhetorik an das Fronten-Denken der Franco-Anhänger. (Zitat aus einem Interview in der Zeitung ABC: "In Spanien gibt es weiterhin eine Saat des Krieges und einen dramatischen und tragischen Rest...". Anstatt sich für Versöhnung einzusetzen, beschwört er lieber die Schatten des Bürgerkriegs, indem er die Seligsprechung von 498 spanischen Märtyrern erreicht (Priester und Nonnen, die 1934 am Vorabend des Bürgerkriegs von Anarchisten und Republikanern ermordet wurden). Von den Zehntausenden Anhängern der Republik, die zur gleichen Zeit und während der Franco-Diktatur (oft mit dem Segen der Kirche) ermordet wurden, spricht Rouco Varela natürlich nicht.

Die zwei Speerspitzen der schwarzen Mafia haben viel gemeinsam. Zum einen der anmaßende Name und eine dubiose Gründerfigur: die Anhänger Balaguers sind so dreist, als "Werk Gottes" zu bezeichnen, was doch nur schnödes Menschenwerk ist. Das Gefolge des Verbrechers Maciel verbindet den Namen Christi mit dem seiner eifrigsten Verfolger, denn römische Legionäre verfolgten im Auftrag heidnischer Kaiser die urchristlichen Gemeinden. Zum anderen ist ihnen gemeinsam der Sekten-Charakter und die mafiösen Verhaltensmuster nach außen wie nach innen. Geschickt rekrutieren sie Jugendliche, bevorzugt aus reichem Hause, um "Elite-Kader" zu schaffen, die sie dann Schritt für Schritt von Familien und Freunden entfremden. Schließlich reißen sie den weltlichen Besitz ihrer Mitglieder an sich und sorgen in vielen Fällen dafür, dass reiche, kinderlose Witwen dem "Opus" oder den "Legionären" in ihren Testamenten ihr Vermögen vermachen. Dafür lohnt es sich manchmal viel Zeit zu investieren, z.B. zum täglichen Nachmittags-Kaffee bei einer Latifundien-Erbin irgendwo in Lateinamerika vorbei zu schauen, bis das Testament geschrieben ist... Das Vermögen des "Opus Dei" wird aktuell auf ca. 2.800 Millionen Dollar geschätzt. Mit soviel Geld kann man viel erreichen...

Mit Duldung oder gar Einverständnis von oben (Wojtyla, Ratzinger, Angelo Sodano), aber gewiss nicht von ganz oben (Gott), gelang es Opus und Legionären in den letzten drei Jahrzehnten immer mehr Schlüsselstellen der Kirchenhierarchie zu besetzen. Dabei schreckten sie auch vor großzügigen Geldgeschenken keineswegs zurück (berüchtigt waren die Bargeld-Briefumschläge von Maciel). Andererseits wird geschickt ein Klima der Angst erzeugt, wenn Priester oder Gläubige gegen Opus Dei Machthaber protestieren. So geschehen im peruanischen Lima (gegen Opus Dei Gallionsfigur José Luis Cipriani), in Köln (gegen den Opus Dei Sympathisanten Meisner), in Burgos (gegen Gil Hellín) und ganz aktuell in San Sebastián im Baskenland (gegen den besonders aggressiven Bischof José Ignacio Munilla). Zu Hunderten wurden Priester, die nicht gleich geschaltet werden konnten, strafversetzt, frühzeitig ins Altenheim abgeschoben oder zumindest unter besondere Aufsicht und Bespitzelung gestellt. Auf dem Computer des Opus Dei Bischofs Munilla wurde eine Datei mit dem bezeichnenden Namen "Mafia" (!) entdeckt: sie enthielt Profile aller Priester des Bistums, die dem Opus kritisch gegenüberstehen und interessante Details, die man wohl für mögliche Erpressungsversuche gesammelt hatte. Was an solchen Stasi-Methoden noch christlich sein soll, wird nicht nur der Pharisäer Munilla dereinst seinem Herrn und Schöpfer erklären müssen. Den es gilt zu bezweifeln, dass dem Erlöser, der einst die Frohe Botschaft verkündete, eine solche Personalpolitik der Gleichschaltung gefallen hätte...

Dramatische Auswirkungen hatte die Blindheit kirchlicher Würdenträger auf dem rechten Auge nicht nur in Spanien, sondern schon während der Diktaturen in Argentinien und Chile. Erzbischöfe in Santiago de Chile und Buenos Aires teilten jeden Sonntag die Kommunion aus an Generäle wie Pinochet und Videla, die Folter mit Elektroschocks und Mord an Tausenden von Regimekritikern befahlen, von denen viele spurlos verschwanden, weil man sie aus Flugzeugen ins Meer stieß. Kirchenfürsten in Argentinien und Chile standen auf der Seite der Täter, nicht der Opfer. Sie erhoben nicht ihre Stimmen gegen das Verbrechen am eigenen Volk, auch der Papst nicht. Im Gegenteil: Wojtyla ehrte das Terror-Regime Pinochets 1988 indirekt mit einem Staatsbesuch. Und vor ein paar Wochen forderte die chilenische Kirchenführung, allen voran Erzbischof Errázuriz Ossa, Vergebung und Straffreiheit für die Folterer der Militärdiktatur - dabei müsste sie selbst die Folteropfer um Gnade für ihre feige Haltung bitten. Denn wo waren die Stimmen der Kirchenführer, als Hunderte von Regimegegnern im Stadion von Santiago zusammen getrieben wie Vieh auf ihre Folterung und in den meisten Fällen auf ihre Ermordung warteten? Die Mehrheit der Bischöfe Chiles stand auf der Seite des menschenverachtenden Generals und es ist inzwischen erwiesen, dass das Opus Dei seine schmutzigen Hände im Rahmen des "Kampfs gegen den Kommunismus" und in engem Kontakt zur CIA sowohl bei der Vorbereitung des blutigen Putsches von Pinochet gegen Präsident Allende in Chile 1973 als auch beim Komplott gegen den 1980 ermordeten Erzbischof Romero in El Salvador im Spiel hatte.

Die Katholische Kirche hat - nicht nur in Polen - gegen den Kommunismus gesiegt. Dabei präsentiert sich der Vatikan heute mehr denn je selbst in einer mafiösen Zentralkomitee-Struktur, in die dringend jemand das Licht von "Glasnost" und "Perestroika" bringen muss, sonst wird dieses unheilige Machtgeflecht der Sekten vom rechten Rand die erfolgreichste Institution der Welt von innen her verdunkeln ... oder um mit den Worten der Heiligen Theresa von Ávila (die war im Gegensatz zu Balaguer & Co. nämlich wirklich heilig) zu sprechen: "Der Herr gebe uns Licht, um nicht in solche Finsternis zu fallen... Unser Herr will, dass man das Fenster der Erkenntnis öffnet..."

Text + Foto: Juan Carmelo

Linktipps:
www.odan.org (Opus Dei Awareness Network)
http://www.elpais.com/articulo/reportajes/Vaticalia/elpepusocdmg/20100627elpdmgrep_1/Tes (Vaticalia)
http://www.elpais.com/articulo/reportajes/vara/cardenal/elpepusocdmg/20100704elpdmgrep_4/Tes
(Jesús Rodríguez: "Los legionarios se confiesan", en: EL PAIS Semanal, 11. Juli 2010
Luis Aizpeolea: "Caza de brujas en la iglesia vasca", en: EL PAIS, 11. Juli 2010)
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9159313.html

Literaturhinweise:
Peter Hertel: Ich verspreche euch den Himmel - geistlicher Anspruch, gesellschaftliche Ziele und kirchliche Bedeutung des Opus Dei, Düsseldorf 1991
Javier Ropero: Im Bann des Opus Dei - Familien in der Zerreißprobe, Düsseldorf 1995
Robert Hutchison, Their Kingdom Come: Inside the Secret World of Opus Dei, St. Martin’s Press, 1997
Michael Streeter: Opus Dei: Behind closed doors - the power of secret societies, 2008

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[art_2] Brasilien: Endlich Land in Sicht?
Volksbegehren zur Begrenzung von Landbesitz
 
Staubtrocken ist der Boden rund um das Landlosencamp "Vale da Conquista" nahe des Städtchens Sobradinho im Norden des Bundesstaates Bahia. Zwischen Kakteen und dürren Sträuchern hausen unter der erbarmungslosen Sonne seit mehr als drei Jahren gut 400 Familien. Sie warten darauf, dass ihnen endlich Land zugesprochen wird.

Hoffnung setzen sie nach Jahren der Enttäuschung nun auf das in der ersten Septemberwoche in ganz Brasilien stattfindende Plebiszit zur Begrenzung von Landbesitz.

Seit zehn Jahren schon laufen die Vorbereitungen des "Nationalen Forums für die Landreform und Gerechtigkeit auf dem Land" (FNRA), der Basisorganisation, die hinter dem Plebiszit steht. Mittlerweile sind es gut 40 Einzelorganisationen, darunter die Landlosenbewegungen und Basisorganisationen der katholischen Kirche, die sich die Landumverteilung auf ihre Fahnen geschrieben haben.

Nun soll es also soweit sein. 1,5 Millionen Unterschriften braucht die Bewegung um das Volksbegehren in den Kongress einzubringen, wo dann darüber abgestimmt werden wird, ob eine Begrenzung des Landbesitzes in die Verfassung aufgenommen werden soll.

"Wir wünschen uns, dass es ein Erfolg wird, aber Sie wissen ja, dass dieser Kampf nicht einfach ist", sagt Antonio Carlos, der Leiter des Camps, an dessen Eingang die Fahnen der Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra (MST) wehen. "Und der Versuch kostet uns ja nichts, und irgendwas müssen wir nun mal unternehmen." Mit dem Amtsantritt von Präsident Luiz Inacio Lula da Silva, dessen Bild von unzähligen Plakaten auf den Hütten des Camps herablächelt, hatte man sich eigentlich die Realisierung der Agrarfrage erhofft. Doch in nahezu acht Jahren unter Lula ist nicht viel passiert. "Sie wissen ja auch, wie das mit der Politik hier so ist."

Im semi-ariden Nordosten braucht man nicht nur Land, sondern auch Zugang zu Wasser. Ohne Bewässerungsprogramme - Wasser muss aus den wenigen großen Flüssen abgepumpt und dann zu den Feldern transferiert werden – ist jede Mühe umsonst. Wenige Kilometer vom Camp entfernt liegen riesige Weintrauben- und Mango-Plantagen, die mit Wasser aus dem nahen São Francisco-Fluss und mittels ausgeklügelter Bewässerungssysteme versorgt werden. Bezahlen müssen die Eigner aus unerfindlichen Gründen dafür nicht, anders als die lokale Bevölkerung, die nahe des São Francisco lebt. Letztere muss sich Tankwagen mit 10.000 Liter Trinkwasser kommen lassen, um ihre Zisternen aufzufüllen. Und sie zahlt 100 Reais pro Anfahrt.

Auch die MST-Leute haben ein Bewässerungssystem aufgebaut, mit dem sie einen trockenen Acker hinter den Hütten in ein Mais- und Bohnenfeld verwandeln wollen. Doch die Pumpe funktioniert nicht und die Brunnen, aus denen das Wasser kommen soll, sind nahezu trocken.
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Die Organisatoren würden auch gerne eine direkte Wasserleitung zum São Francisco installieren, aber davon können sie nur träumen: "Hier in der Region haben die großen Unternehmen die besten Ländereien mitsamt Bewässerungsprogrammen für ihre Felder. Die Armen dagegen haben nichts."

Auf maximal 35 Module soll der Landbesitz laut Plebiszit begrenzt werden. Ein Modul entspricht der Fläche, die man braucht, um eine Familie zu ernähren. Brasiliens größte Landbesitzer nennen derweil Flächen ihr eigen, die der Größe deutscher Bundesländer entsprechen.

Wer mehr als die 35 Module, deren Größe in Abhängigkeit von der Fruchtbarkeit des Bodens zwischen den einzelnen Regionen und Biomen Brasiliens unterschiedlich ausfallen kann, besitzt, soll diese an den Bund abgeben. Der Bund verteilt das Land dann an Landlose. 200 Millionen Hektar sollen so umverteilt werden - Hoffnung für hunderttausende armer Familien.

Vorbild für das Volksbegehren ist der Erfolg von "Ficha Limpa", einem Plebiszit, das die schwarzen Schafe unter Brasiliens Politikern von Wahlen ausschließen wollte und mittlerweile zum Gesetz geworden ist. Einen ähnlichen Erfolg erhoffen sich die Organisatoren des Plebiszites zur Landbegrenzung. "Wir können nicht erwarten, dass die Abgeordneten von sich aus ein Gesetz zur Landbegrenzung verabschieden, denn im Kongress sitzen ja einige der größten Landbesitzer", erklärt Padre Juvenal. "Deshalb muss die Initiative vom Volk ausgehen."

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Der 77-jährige Padre lebt in einer kleinen Gemeinde auf der anderen Seite des São Francisco-Flusses, in Pernambuco nahe der Stadt Garanhuns, der Geburtsstadt Präsident Lulas. Gemeinsam mit Basisorganisationen der katholischen Kirche wie Caritas und der Landpastorale engagiert er sich für mehr Gerechtigkeit auf dem Land. "Wir werden am 7. September einen Marsch durch die Stadt organisieren. Im Anschluss daran können die Menschen ihre Unterschrift auf die Liste setzen."

Es könnte sich also auf Brasiliens Feldern endlich etwas tun. "Natürlich haben wir Hoffnung", sagt Antonio Carlos im MST-Camp. "Sonst würden wir nicht seit drei Jahren und sechs Monaten unter schwarzen Plastikfolien inmitten dieser höllischen Hitze hocken und ausharren."

Text + Fotos: Thomas Milz

Linktipp:
http://www.limitedaterra.org.br/

[druckversion ed 09/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_3] Peru: Die Keks-Schmuggler von Piura
 
Ich hätte von Anfang an misstrauisch sein sollen. Der Bus, den ich an jenem kühlen Donnerstagmorgen am Busbahnhof der südecuadorianischen Stadt Loja erblickte, war entschieden zu neu. In den letzten fünf Wochen waren alle Busse, mit denen ich kreuz und quer durch Ecuador gefahren war, stets deutlich älter und wesentlich weniger verkehrstauglich gewesen. Auf all diesen Fahrten war nie etwas passiert. Doch jetzt sollte es in diesem klimatisierten Ungetüm mit krawattetragendem Fahrkartenkontrolleur über die peruanische Grenze nach Piura gehen. Ich fühlte mich entschieden zu sicher. In meinem Vorstellungsvermögen existierte die Möglichkeit, dass die Fahrt problematisch verlaufen könnte, gar nicht. Bekanntermaßen wird man vor allem dann von Überraschungen heimgesucht, wenn man am wenigsten mit ihnen rechnet. Diese Fahrt sollte da keine Ausnahme bilden.

Zunächst ging alles gut. Fünf Stunden lang folgte unser Bus einer kurvigen Route durch die Ausläufer der Vulkanstraße Richtung Peru. Je weiter wir nach Süden kamen, desto karger wurde die Landschaft. Die saftig grünen, von Feldern überzogenen Berghänge Ecuadors wichen einer von einsamen Eseln bevölkerten Hügellandschaft mit verdorrten Steppentälern.

Dann erreichten wir Peru. Die Grenzformalitäten waren schnell erledigt, der scherzende Grenzbeamte sprach sogar Deutsch und gab mir bereitwillig eine Aufenthaltsgenehmigung für 90 Tage. Dann passierte es: zehn Minuten nachdem wir die Grenze hinter uns gelassen hatten, blieb unser Bus plötzlich stehen. Ursache war ein Motorschaden - und bald war klar, dass wir nicht weiterfahren würden.

Wir befanden uns mittlerweile jenseits der Hügel in einer wüstenartigen Landschaft, in der es nicht viel gab außer unserer Straße. Die zehn verbliebenen Fahrgäste (der Großteil war vor der peruanischen Grenze ausgestiegen) fingen an, aufgeregt mit dem Busfahrer und dem Fahrkartenkontrolleur zu streiten. Offensichtlich würde die Busgesellschaft in nächster Zeit keinen Ersatzbus schicken, dafür wurden uns 4 Dollar des Fahrpreises erlassen. Allerdings war nun jeder auf sich allein gestellt, was das Weiterkommen nach Piura betraf.

Ehe diese Vereinbarung in die Tat umgesetzt werden konnte, hielt ein rotes Auto am Straßenrand, auf dessen Windschutzscheibe in gotisch anmutenden Buchstaben "Todo lo puedo en Christo" stand. Am Steuer saß ein schmächtiger junger Mann, der so gar nicht zu seiner etwas älteren, voluminösen Beifahrerin passen wollte, die mich an eine südamerikanische Mischung aus Miss Piggy und Missy Elliot erinnerte. Billiger Goldschmuck klimperte an ihren Handgelenken und ich konnte nicht sagen, ob sie die Freundin oder die Mutter des Fahrers war. Die beiden boten freundlich an, einige von uns mitzunehmen. Ein argentinisches Pärchen, ein Pärchen aus Hong Kong und ich nahmen dieses Angebot ohne groß nachzudenken an, in der Hoffnung, so noch unseren Anschlussbus nach Lima zu erwischen, der Piura einige Stunden später verlassen sollte. Also gab der Busfahrer unserer Mitfahrgelegenheit kurzerhand 20 Dollar und wir fünf quetschten uns auf die Rückbank des Autos. Unsere Rucksäcke wurden aufs Dach geschnallt und los ging die Fahrt.

Wie uns etwas spät auffiel, war der Kofferraum des Autos voller Kisten, die jede Menge Packungen ecuadorianischer Kekse enthielten. Vorerst machten wir uns keine großen Gedanken darüber und waren glücklich, doch noch nach Piura zu kommen. So schossen wir über die Wüstenstraße, während der Auspuff des ans Batmobil erinnernden, auf Hochtouren röhrenden Toyotas beständig knallte. Nachdem die Argentinier dem Gespräch unserer Mitfahrgelegenheit gelauscht hatten, änderte sich unser Gemütszustand. Ging aus diesem doch hervor, dass die beiden ihre Keks-Fracht (und was auch immer sich sonst noch in den Kisten versteckt hielt) über die Grenze geschmuggelt hatten, und so im weiteren Verlauf der Fahrt gezwungen waren, jeglicher Polizeikontrolle aus dem Weg zu gehen.

Das jedoch sollte sich als schwieriges Unterfangen herausstellen, denn keine fünf Minuten später gerieten wir in die erste Polizeikontrolle. Allerdings reichte ein gekrächzter Gruß unseres Fahrers und vorbei waren wir - offenbar kannte man sich unter Schmugglern und Grenzpolizisten. Bei der nächsten Polizeikontrolle war ein herzlicher Gruß nicht mehr genug: wir mussten aussteigen, unsere Pässe zeigen. Uns wurde etwas bange, insbesondere da wir in einem divahaften Monolog der Beifahrerin gegenüber den Polizisten als "Gäste" ausgegeben wurden. Kurz darauf verschwand die Dame scherzend mit einem Polizisten hinter dem Polizeiauto. Dort wechselten mit einem geübten Handschlag ein paar Geldscheine den Besitzer. Freundlich wünschte man uns daraufhin eine gute Reise.

Dasselbe Spielchen wiederholte sich ein weiteres Mal einige Minuten später. Aber wir befanden uns nach wie vor auf der ausgebauten Hauptverkehrsstraße und kamen unserem Ziel langsam aber sicher näher. Ein Schild zeigte an: 60 Kilometer bis nach Piura.

Plötzlich jedoch bog unser Auto von der asphaltierten Hauptstraße auf eine sandige Nebenpiste ab. Unser Fahrer versicherte uns, dass es jetzt drei oder vier Kilometer auf eine andere Hauptstraße gehen würde. Als wir nach 30 Minuten noch immer auf der Schotter- und Sandpiste an einem verlassenen Kanal entlangrasten, begannen wir uns ernsthaft Sorgen zu machen. Auf der holprigen Straße waren obendrein die Kisten im Kofferraum teilweise geplatzt und immer mehr Kekspackungen landeten auf der Rückbank.

Wir begannen derweil zu realisieren, wie machtlos, wie ausgeliefert wir waren. Wir diskutierten auf Englisch, was unsere Optionen wären und stellten fest, dass wir keine hatten. Uns dämmerte, wie klug es gewesen wäre, nach dem Abbiegen von der Hauptstraße auszusteigen.

Irgendwann hielt das Auto vor einem Haus, das abgelegener nicht hätte sein können. Die bis dahin in Schach gehaltene Panik in uns flammte auf. Eine gefühlte Ewigkeit verstrich, ehe sich unser Fahrer in Zeitlupe aus dem Auto hievte. Während wir damit rechneten, dass jeden Augenblick Pistolen schwingende Männer aus dem Haus stürmen, ging er mit grimmiger Miene langsam um das Auto herum - und öffnete schließlich die Motorhaube: überhitzter Motor.

Jenseits der Lehmmauer, die das Haus umgab, vernahmen wir Stimmen. Doch während wir vor Schreck erstarrten, studierte die Diva auf dem Beifahrersitz gelassen ihre rosa gefärbten Fingernägel. Wenige Augenblicke später traten zwei Schatten auf die Straße. Aber: statt dunkler Gestalten waren es nur Kinder mit einem Fußball, die uns mit großen Augen anschauten. Wenige Minuten später setzten wir unsere Fahrt fort, erleichtert und ein bisschen beschämt, dass wir mit dem Schlimmsten gerechnet hatten.

Bald darauf ging unsere Sandpiste in eine asphaltierte Straße über. Dann erschienen in der Ferne die Randbezirke einer Stadt. War das Piura? Wir waren uns nicht sicher, wir hätten genauso gut wieder in Ecuador sein können. Aber dann begannen unsere Fahrer darüber zu debattieren, wo sie uns absetzen sollten. Man könne uns nicht am Busterminal Piuras rauslassen, weil da Leute seien, die das Auto nicht sehen dürften. Auch sei überall Polizei und es wäre am besten, überhaupt nicht in die Stadt reinzufahren. Auf unser zähes Drängen hin wurden wir schließlich an einem Markt in der Stadt abgesetzt. Hier sollten auch die Kekse - oder was auch immer - ausgeladen werden. Es war uns auch egal, wir waren einfach froh, heil in Piura angekommen zu sein.

Wir nahmen ein Taxi zum Busbahnhof und als die sandigen Straßen Piuras jenseits der Fensterscheibe an mir vorbeizogen, realisierte ich, gerade eine Backpacker-Weisheit am eigenen Leib erlebt zu haben: "South America - everything is possible, nothing is secure."

Text: Robert Gast

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[art_4] Brasilien: Man muss diese Jugendlichen retten
Das Straßenkinderprojekt CASAS TAIGUARA
 
Deilson Barbosa dos Santos war einer von ihnen. Mit 13 Jahren wurde er im Zentrum São Paulos bei einem der täglichen Rundgänge von Erziehern des Straßenkinderprojekt CASA TAIGUARA angetroffen, überzeugt, dass eine bessere Zukunft vor ihm läge, wenn er in die CASA TAIGUARA wechseln würde. Er stimmte zu, ging mit, und die folgenden zwei Jahre blieb er in diesem Haus, ging erneut zur Schule. Alles schien gut zu laufen, als er mit 15 Jahren auf einmal verschwand und wieder das Leben auf der Straße wählte. Mit 18 Jahren verübte er einen bewaffneten Überfall, wurde festgenommen und kam die folgenden vier Jahre in Gefängnis.

Viel hört man im Zusammenhang mit Brasilien von Straßenkindern, ihre Zahl ist nur schätzbar, sicher geht sie in die Tausende. Vielfältige Projekte gibt es mit dem Anspruch, sich für das Wohl der Straßenkinder einzusetzen, Wenige sind erfolgreich. Eines, das inzwischen als vorbildhaft gilt, ist das Straßenkinderprojekt CASA TAIGUARA, das die Brasilieninitiative Freiburg e.V. seit seinen Anfängen begleitet.

24 Stunden aufnahmebereit
Was 1996 aufgrund einer Privatinitiative in São Paulo begann und in der Gründung der gemeinnützigen Nicht-Regierungsorganisation "Moradia Associação Civil" mündete, entwickelte sich in den Folgejahren zu einem erfolgreichen Straßenkinderprojekt.

Dieses damals neuartige Konzept, das u.a. darauf beruht, dass ein Straßenkind rund um die Uhr, d.h. 24 Stunden lang, in der  Casa Taiguara einen Ansprechpartner findet, sprach sich auch auf den Straßen im Zentrum São Paulos herum. Entsprechend schnell waren die zunächst zwanzig Schlafplätze ausgebucht. Hinzu kam, dass dieses Haus auch offen für diejenigen Straßenkinder ist, die sich einfach nur mal duschen oder essen wollen. Nur wenige Regeln (kein Waffenbesitz, keine Drogen, keine Gewalt) müssen innerhalb des Hauses befolgt werden. Wer sich entscheidet zu bleiben, hat nicht nur eine sichere Schlafstelle, er hat auch die Möglichkeit, einen Schulabschluss wieder in Angriff nehmen zu können bzw. durch vielfältig  angebotene Aktivitäten, sich selbst und seine Fähigkeiten zu entdecken. Was für Kinder, die keinen geregelten Tagesablauf mehr kennen, eine große Herausforderung ist. Das Taiguara-Team, bestehend aus Erziehern, Sozialarbeitern, Psychologen und Ehrenamtlichen, bemüht sich auch, bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt behilflich zu sein. Viele Straßenkinder sind zudem drogenabhängig. Auch hier bietet das Taigurara-Team Lösungen an: Ist der Jugendliche zu einer Entziehungskur bereit, geht  er in eine Entziehungsklinik außerhalb São Paulos.

Casa Taiguarinha - República Taiguara - Casa Verde
Dass das Zusammenleben von Straßenkindern verschiedener Altersstufen problematisch ist, wurde den Verantwortlichen recht schnell klar. So ergab sich als logische Konsequenz die Eröffnung von CASA TAIGUARINHA im Jahr 2002. Hier fanden in der Folgezeit 16 Kinder bis zum12. Lebensjahr Platz, die über 12-jährigen wohnten bis zum 18. Lebensjahr, wie bisher, in der CASA TAIGUARA. Da nach dem brasilianischen Gesetz über 18-jährige nicht mehr in Straßenkindereinrichtungen leben dürfen, kam es 2007 zur Verwirklichung der REPÚBLICA TAIGUARA. Von diesem Haus aus können bis zu acht junge Erwachsene bei ihrer Arbeitssuche begleitet werden. Auch dies ist ein bis jetzt einmaliger Versuch in São Paulo.

2007 schließlich erfuhr die Arbeit eine weitere Ausdehnung durch die Eröffnung des Hauses CASA VERDE für 25 Kinder bzw. Jugendliche. Hinzu kam 2008 ein CASA TAIGUARA DE CULTURA. Hier finden vielseitige Aktivitäten statt wie Capoeira, Hip Hop, Computerkurse, Filmvorführungen und vieles mehr.

Abrigo permanente - eine ständige Bleibe
Seit 1996 haben schätzungsweise 6000 Jugendliche CASA TAIGUARA durchlaufen. Bislang war jedoch nur eine vorübergehende Aufnahme möglich. Das Kind bzw. der Jugendliche konnte nur so lange in der Einrichtung bleiben, bis er entweder in seine Familie zurückkehrte oder in einer Einrichtung in seinem Herkunftsstadtteil einen Platz bekam. Die "Weiterverschickung" in Einrichtungen in die Nähe des Herkunftsortes hat oftmals für die Betroffenen unangenehme Folgen: Abbruch der mit anderen Bewohnern und den Betreuern aufgebauten Kontakte, Konfrontation mit neuen veränderten Tagesabläufen.

Das von zwei Psychologinnen initiierte Projekt "Integration" zeigt deutlich, wie schwierig, oftmals unmöglich es ist, eine Wiedereingliederung in die Familie zu vollziehen. Zu tief sind die seelischen und körperlichen Verletzungen; die Mehrzahl der Kinder bzw. Jugendlichen verließ schließlich das Elternhaus wegen Gewaltanwendungen, mangelnder Fürsorge bzw. gerade bei den Mädchen aufgrund sexuellen Missbrauchs, Vergewaltigungen.

Hier möchte das nun geplante Haus "CASA TAIGURA - ABRIGO PERMANENTE" ansetzen. Jene Jugendlichen, die nicht in ihre Herkunftsfamilien reintegriert werden können, sollen ein sicheres Zuhause erhalten - bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. Das geplante Haus hat eine Aufnahmekapazität von 20 Personen und bietet darüber hinaus einen 80 Quadratmeter großen Raum, in dem die Einrichtung einer Lehrwerkstatt vorgesehen ist.

Obwohl die Arbeit der "Moradia Associacão Civil" inzwischen auch von der Stadtverwaltung São Paulos anerkannt ist, als Modell für andere Einrichtungen, ist dieses neue Vorhaben wieder auch auf die Unterstützung vieler Einzelpersonen angewiesen.

Das Projekt CASA TAIGUARA ist ein Beispiel dafür, wie aus der Initiative eines Einzelnen eine Einrichtung entstehen kann, die zeigt, dass es möglich ist, Straßenkinder von der Straße zu holen und ihnen ein lebenswertes Leben zu bieten.

Deilson Barbosa dos Santos fand nach seiner Gefängnisstrafe den Weg zurück zu CASA TAIGUARA: Hier arbeitet er jetzt  bereits seit über einem Jahr als Verwaltungskraft.

Text: Günther Schulz



Spenden
Wer sich für die Verwirklichung von CASA TAIGUARA - ABRIGO PERMANENTE engagieren möchte, kann dies mit einer Geldüberweisung auf das Koto 250 548 06 (BLZ 680 900 00) der Brasilieninitiative Freiburg e.V. bei der Volksbank Freiburg tun.

Brasilieninitiative Freiburg e.V
Die Brasilieninitiative Freiburg e.V. beschäftigt sich seit 1978 mit Brasilien, wobei der Schwerpunkt der Arbeit auf der sozialen Ungleichheit und deren Ursachen sowohl in der Stadt wie auf dem Lande liegt.

Die Arbeit der Brasilieninitiative Freiburg e.V. geschieht ehrenamtlich und umfasst die Bereiche Information und Projektunterstützung. Hauptbereich der Informationsarbeit ist die Herausgabe der Zeitschrift "BrasilienNachrichten". (erscheint zweimal jährlich s. www.brasiliennachrichten.de) sowie die Unterstützung von Kleinprojekten (s. www.brasilieninitiative.de)

[druckversion ed 09/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_3] Amor: Vom Winde verweht
Die Leiden der Caatinga
 
Ich liebe die Caatinga-Landschaft! Die sandige, trockene Erde in ihren Ockertönen, der fast immer strahlend blaue Himmel, die kargen, ausgedörrten Pflanzen, die intensive Sonne, die trotz ihrer Kraft doch niemals unangenehm wird, die lauen Lüftchen, die über die Ebenen ziehen. Und die spektakulären Sonnenaufgänge, die alles mit einem blauen Schimmer überziehen.

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Ich liebe es einfach, stundenlang über die Landstraßen zu fahren ohne jemanden entlang des Weges zu sehen. Die Caatinga ist einsam: außer einigen mageren Ziegen sieht man fast keine Tiere. Wie hier auf dem Weg zwischen Juazeiro, der Stadt am São Francisco Fluss, und Sobradinho, dem kleinen Städtchen am Rande des vor 30 Jahren errichteten Dammes, an dem der Fluss zum zweitgrößten Wasserreservoir der Welt  gestaut wird.

Doch der Weg zwischen Himmel und Hölle ist bekanntlich kurz. Gerade noch überwältigt von der spektakulären Natur, bin ich plötzlich mitten in einer Wüste aus Müll. Links und rechts der Straße abgekippt, wird er vom Wind über die Landschaft zerstreut. Bäume und Kakteen voll Plastiktüten, soweit das Auge reicht. Ich halte an, um den Irrsinn zu fotografieren.

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Ein einsamer Mensch durchsucht den Müll nach verwertbaren Resten; als er mich sieht, zieht er von dannen. Von der anderen Straßenseite steigen plötzlich Rauchwolken auf, man fackelt den Müll gleich zusammen mit der staubtrockenen Vegetation ab. Der Rauch wird immer dichter und das Atmen bereitet Schwierigkeiten. 

Von irgendwo aus der Rauchwolke her dringt ein schrilles Bremsgeräusch. Als ich mich umdrehe, sehe ich zuerst ein Pferd, das mitten auf der Straße steht. Und dann einen Jeep, der in hoher Geschwindigkeit auf das Tier zu rast, im letzten Moment von der Straße abkommt und in meine Richtung schießt. Ich mache einen Satz nach vorne und der Wagen zischt zwischen mir und meinem am Straßenrand geparkten Wagen hindurch.

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Wenige Meter weiter kommt er zum Stehen. "Hast Du gesehen - das Pferd war auf einmal mitten auf der Straße…", der Fahrer überprüft sein Gefährt. "Der Ventilator vorne am Motor scheint was abbekommen zu haben", meint er. "Trotzdem Glück gehabt", sagt er zu mir. Ich nicke.

Wir stehen in einer ätzenden Rauchwolke, umgeben von einem Meer aus buntem Müll, im Nirgendwo. Ja, meint er, der Anblick wäre traurig. Die Leute der umliegenden Städtchen würden ihren Müll einfach hier abkippen. Das wäre schon immer so gewesen. Er zieht seines Weges, ich meines. Das Pferd trottet gemütlich dahin, hinein in den Müll. Was es wohl sucht?

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 09/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: amor]





[kol_2] Pancho: Bohnenmus, Übergepäck, kein Fisch
 
Was für ein herrlicher Morgen. Noch im Dämmerzustand, kurz vor dem eigentlichen Erwachen, vereinen sich die Geschmäcker feinsten in Sojasauce und Sesamöl marinierten Lachses und wilder, leicht bitter-scharfer Rauke. Die Kreation stammt von einer Freundin aus El Salvador, gute Köchin, prächtige Wangen. In El Salvador wird allein schon der Ruccula mit Gold aufgewogen. Ein winziger Bund, vielleicht 50 Gramm, kosten geschlagene fünf Euro.

Vorübergehend beheimatet in Dresden zieh ich los um diesen wunderbaren Tag zum Salvadoreña-Gedenktag zu erheben. Mein Mut allerdings verlässt mich zwei Stunden später, nachdem ich die mega angesagte Neustadt von links nach rechts und von oben nach unten durchstreift habe und kein einziges appetitliches Lachssteak, geschweige denn überhaupt eine Fischtheke, in mein Blickfeld geraten war. Ohne Fisch keine Fotos, ohne Fotos kein Rezept. Sorry!

Aus Venezuela kann ich was berichten. Nix Aufregendes. Wir waren ein paar Tage unten auf Los Roques. Müsst ihr unbedingt mal hin, falls ihr das Nichtstun am Strand genauso schätzt wie der alte Pancho. Vier Tage waren wir dort und zum Abflug trifft man sich unter einem Bretterverschlag.


Der einzige anwesende Offizielle hat ne recht kreative Anordnung von Orgelpfeifen. Hat vielleicht im Schlaf etwas zu viel mit den Zähnen geknirscht. Dann 12 Minuten vor Abflug trifft weiteres Bodenpersonal ein: Eine Dame mit einer Personenwaage unter dem Arm. Kaum hat sie sich am Straßenrand niedergelassen, winkt sie die ersten Wartenden heran, notiert Daten aus dem Passport und weist mit strengem Nicken an, Koffer für Koffer auf der Waage zu platzieren. 15 Kilo Übergepäck. 5x15 Bolívares Fuertes, umgerechnet 15x1 Euro, kassiert sie beim ersten Reisenden dafür.



Nach 11 Minuten sind alle acht Reisenden eingecheckt und begeben sich aufs Rollfeld. Nett, beschaulich, tiefe Schlaglöcher und der gezahnte Offizielle, der sich an einer Kokosnusspalme zu schaffen macht.


Der Hunger verursacht bereits Übelkeit und Atemnot. Nun sind wir wieder in der sächsischen Landeshauptstadt. Noch mal rüber übern Martin-Luther-Platz und auf dem direkten Weg zum lateinamerikanischen Delikatessen-Laden auf dem Bischofsweg. Der Laden ist komplett leer gekauft, einzig eine Dose frijolítos fritos einer mexikanischen Lebensmittelkette steht angestaubt im Regal. Im Kühlschrank greife ich noch zwei Bohemia – das muss Jahrzehnte her sein, dass ich freiwillig mexikanisches Bier verkostet habe. Ich würfele eine Zwiebel und brate sie leicht an, gebe Salz und das schwarze Bohnenmus dazu und drehe und wende es so lange in der Pfanne bis ich daraus eine feste Rolle formen kann. Dazu hacke ich 25 frische Jalapeños und träume von ner Wohnung mit Fischtheke.

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 09/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: pancho]





[kol_3] Grenzfall: Weiße Soda
Per Anhalter von Mazatlán nach Guadalajara
 
Wir sind im Wüstenstaat Sonora. Dort, wo Western gedreht und Burritos erfunden wurden. Dort, wo aus jedem Lautsprecher Norteño-Musik schallt: Posaune, Gitarre und ein Männerchor, der vom ewigen Spiel der Eroberung von Frauenherzen singt. Die CDs, die Schulkinder an jeder Raststätte verkaufen, klingen, als hätte jemand Papier in die Lautsprecher gesteckt. Es ist heiß und staubig, von Wind keine Spur.



Wir sind unterwegs zurück von Tijuana, der nördlichen Grenzstadt, nach Guadalajara, das ein Stück weit unterhalb der Baja California liegt. 1800 Kilometer haben wir bereits zurückgelegt, es fehlen noch läppische 500 Kilometer. Roberto, Chris und ich stehen seit einer guten halben Stunde an der Mautstelle in Mazatlán und trampen.

Wir haben einige Tricks auf Lager, um Autofahrer dazu zu bewegen, uns ein Stück mitzunehmen. Während Chris abseits auf unser Gepäck aufpasst, singen und hüpfen Roberto und ich albern auf der Standspur herum. Ein gelangweilter Fahrer nimmt lebendige, lustige Leute scheinbar gerne mit. Wir haben uns so an der Mautstelle positioniert, dass wir Blickkontakt zu den Fahrern herstellen können, während diese die Maut zahlen. Bei Tageslicht haben potentielle Chauffeure dann genug Zeit, um uns zu mustern, sich eventuell mit einem Beifahrer abzusprechen und anzuhalten.

Unser Plan hat bisher bestens funktioniert. Doch in Mazatlán dauert es länger. Als unser wildes Hüpfen nur noch einem müden Stehtanz gleicht und das Singen längst von Diskussionen abgelöst wurde, nährt sich ein LKW. Der Wagen hält direkt vor uns – kein Zweifel, diesmal meint er wirklich uns!

Roberto, der einzige Muttersprachler unter uns, klettert zur Beifahrertür hoch. Kaum ist die Tür offen, da schallt uns Norteño-Musik entgegen: "Oh, wie habe ich mich mit deiner Ehefrau vergnügt."

Unser potentieller Fahrer mustert Roberto.
"Wohin?", fragt der Fahrer.
"Nach Guadalajara. Und du?"
"Ich auch. Wie viele?"
"Drei."

Der Fahrer wirft einen prüfenden Blick hinunter auf Chris und mich, die ihm erwartungsvoll entgegen grinsen und macht uns dann mit einer etwas genervten Handbewegung klar, das wäre schon okay und wir sollen einsteigen.

Francisco bietet uns drei Plätze an, zwei auf seinem Bett und einen auf dem Beifahrersitz. Und so beginnt der letzte Teilabschnitt unseres Ausflugs gen Norden. Das erste, was uns an Francisco auffällt, sind seine strahlend weißen Zähne - die nicht so recht ins Bild passen: die Haare sind fettig und sein Gesicht glänzt. Er wirkt klein und untersetzt und eher schweigsam. Ab und an zündet Francisco sich eine Zigarette an, redet und singt ein bisschen, dann verharrt er wieder eine Hand am Lenkrad, die andere am Schaltknüppel. Eine ganze Menge Heiligenbildchen kleben an der Decke und Kreuze und ein Rosenkranz baumeln vom Rückspiegel. Durch die mehrfach gesprungene Windschutzscheibe sehen wir andere Trucks an uns vorbeiziehen. Was er geladen habe, frage ich Francisco, denn sein Truck scheint mir sehr schwer zu sein. "Tomaten", antwortet er und zwinkert. Was sich tatsächlich auf seiner Ladefläche befindet, sollten wir nie herausfinden. Francisco erzählt von seiner Frau und seinen Kindern, die er viel zu selten sieht und von seinem straffen Zeitplan, der ihm kaum für eine Toilettenpause Zeit lässt.

Als Chris nach einer halben Stunde gerade einnickt, halten wir plötzlich. Mitten auf der Autobahn. Der Motor ist aus und Francisco flucht. Er versucht, ihn zu starten. Doch der Motor heult nur kurz auf, der Wagen bewegt sich einige Meter rückwärts und säuft wieder ab. Francisco flucht erneut. Wir haben keine Luft mehr, erklärt er, und die Luft sei nötig, um beim Anlassen die Bremse zu betätigen. Francisco lenkt den breiten rückwärts rollenden Truck langsam die provisorische Standspur der Autobahn hinab bis wir in der Talsohle zum Stehen kommen. Er murmelt etwas Unverständliches und springt dann hinaus auf die Straße.

Minuten später finden auch wir drei uns in der Dämmerung mit gelben Jacken und leuchtenden Handys winkend wieder und versuchen, andere Trucks zum Anhalten zu bewegen oder sie zumindest davon abzuhalten, hinten in Franciscos unbeleuchteten Wagen hinein zu rasen. Schwere Lastwagen rasen kaum Abstand haltend an uns vorbei und hupen ohrenbetäubend laut oder blenden uns mit grellem aufflackernden Fernlicht: Oft werden wir erst im letzten Moment von den anderen Fahrern gesehen. Dann quietschen Reifen und wir springen hinter die Leitplanke. Nur Francisco steht dann noch auf der Straße. Er hat sich anscheinend an das unglaublich laute Gehupe gewöhnt. Chris und ich schlagen vor, zu Fuß zur nächsten Tankstelle zu gehen und Hilfe zu holen. Doch Francisco ist sich sicher: gleich wird jemand anhalten, von dem wir mit seinem Überbrückungsgerät Luft und Benzin abzwacken können.

Eine gute halbe Stunde des Grauens verbringen wir draußen, in der Francisco immer wieder ungeduldig und weiterhin fluchend auf der Überholspur wild gestikulierend herumspringt, dann hält doch ein anderer Truck an und wir kriegen unser Monstrum wieder flott. Bis zur Tankstelle in Mazatlán reicht das Benzin, dann gibt es Nachschub. Nach dem Tanken murmelt Francisco etwas von weißer Soda und verschwindet daraufhin in Richtung Tankstellenshop. Geradezu aufgedreht kommt er mit einer roten Dose Cola wieder und grinst uns an. "Ich fühle mich gleich viel wacher!", freut er sich.



Erst als wir im Auto sitzen und einige Kilometer zurück gelegt haben, erklärt Roberto mir, dass mit "weißer Soda" Koks gemeint sei, ohne das Francisco die langen schlaflosen Touren wohl nicht durchhalten könnte. Ich bin geschockt und überlege, was ich jetzt machen soll. Ich starre zur Windschutzscheibe und achte aus den Augenwinkeln heraus auf Franciscos Fahrweise, die wider Erwarten kein bisschen anders ist als zuvor. Trotzdem ist mir unwohl, aber auszusteigen, hätte hier keinen Sinn. Es ist nachts und wir sind schon weit hinter Mazatlán irgendwo im Nirgendwo. Ich rede mir ein, dass Francisco, der 40 Jahre auf dem Bock unter Kokaineinfluss verbracht hat, mit bestimmt besser fährt als ohne. Lieber ein leicht überdrehter Fahrer, der laut "La sorpresa" von Los tigres del norte mitsingt, als ein übermüdeter. In den nächsten Stunden kreisen meine Gedanken immer wieder um das Kokain: Darf man den Drogenkonsum am Steuer wirklich so herunterspielen? Was ist mit all den Risiken, denen auch Fahrer ausgesetzt sind, die Francisco entgegenkommen?

Als wir nach zwölf Stunden die 500 Kilometer bis nach Guadalajara hinter uns haben, sind wir fix und fertig. Es ist kurz nach 5 Uhr morgens und Francisco lässt uns raus. Er selbst muss noch weiter bis nach León.

Text + Fotos: Annika Wachter

[druckversion ed 09/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_4] Lauschrausch: El último aplauso / Buenosaurios

Diverse
El último aplauso - Life is a tango
enja 9195
Tango ist zeitlos und seine Sänger sind es auch. Normalerweise singen sie mit Leidenschaft bis ins hohe Alter ihre Lieder (und müssen es oft auch, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten). So hatten es sich auch Inés Acre, Horacio Acosta, Walter Barberis und einige Kollegen vorgestellt, die zur Stammbesetzung der legendären Bar "El Chino" im Viertel Pompeya von Buenos Aires gehörten. Doch dann verstarb im Jahr 2002 plötzlich der Besitzer "El Chino" und die Bar wurde übernommen. Die 60 bis 80jährigen Musiker, die teils über 20 Jahre dort gespielt hatten, verloren ihren Halt und zogen sich deprimiert ins Privatleben zurück, teilweise ohne zu wissen, wovon sie leben sollten. Glücklicherweise hatte der in Deutschland lebende argentinische Filmemacher Germán Kral - fasziniert vom Ambiente der Bar - 1999 begonnen, das Geschehen in der Bar und das Leben der Sänger filmisch zu begleiten. Bei weiteren Besuchen setzte er die Filmarbeiten fort und schaffte es im Jahr 2006 sogar, die alten Sänger gemeinsam mit dem jungen "Orquesta Típica Imperial" in der Bar sowie in einem Konzertsaal zu versammeln und sie zu filmen.


Das Ergebnis hören Sie auf diesem Soundtrack zum gleichnamigen Film. Neben Tangoklassikern von Carlos Gardel ("Volver"), Aníbal Troilo ("Desencuentro") u.a. haben die Sänger auch unbekanntere Stücke ausgewählt, die sie voller Leidenschaft interpretieren, genial begleitet vom jungen Orchester und bearbeitet vom musikalischen Direktor, dem Gitarristen Luis Borda. Die Zeitspanne der hier versammelten Tangos reicht von 1915 bis 1967, ergänzt um zwei neue Titel des Orchesters, und die Interpretation atmet den Geist jener Zeit, versprüht Sentimentalität und Verzweiflung. Tango in seiner Reinform!


Acho Estol
Buenosaurios - Leyendas de la noche de los tangos
galileo mc 034
Gar nicht "rein" ist der Ansatz, den Acho Estol für die "Tangos" seines zweiten Soloalbums "Buenosaurios" wählt. Schon mit seiner Band "La Chicana" hatte er die Musik und die Texte der Tangos modernisiert. Jetzt kreiert er eine Fusion seiner breiten musikalischen Prägung, die von psychedelischem Rock über Popmusik bis hin zur Folklore seiner Heimat reicht. Konsequenterweise kommen die Sänger seiner Titel, u.a. Juan Vattuone, Ariel Prat und der Filmstar Rodrigo de la Serna, oft aus der Rock- oder Folkloreszene.


In seinen 16 Moritaten dreht es sich oft um "düstere" Themen - Gespenster, nächtliche Eskapaden, Deserteure, Huren etc. - die aber fröhlich ironisch abgehandelt werden. Und auch die Musik ist nicht düster: von afrikanischen Rhythmen bis zu rockigen Gitarren findet sich alles, immer durchtränkt vom Klang und Geist des Tangos.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 09/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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