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[kol_3] Grenzfall: Weiße Soda
Per Anhalter von Mazatlán nach Guadalajara
 
Wir sind im Wüstenstaat Sonora. Dort, wo Western gedreht und Burritos erfunden wurden. Dort, wo aus jedem Lautsprecher Norteño-Musik schallt: Posaune, Gitarre und ein Männerchor, der vom ewigen Spiel der Eroberung von Frauenherzen singt. Die CDs, die Schulkinder an jeder Raststätte verkaufen, klingen, als hätte jemand Papier in die Lautsprecher gesteckt. Es ist heiß und staubig, von Wind keine Spur.



Wir sind unterwegs zurück von Tijuana, der nördlichen Grenzstadt, nach Guadalajara, das ein Stück weit unterhalb der Baja California liegt. 1800 Kilometer haben wir bereits zurückgelegt, es fehlen noch läppische 500 Kilometer. Roberto, Chris und ich stehen seit einer guten halben Stunde an der Mautstelle in Mazatlán und trampen.

Wir haben einige Tricks auf Lager, um Autofahrer dazu zu bewegen, uns ein Stück mitzunehmen. Während Chris abseits auf unser Gepäck aufpasst, singen und hüpfen Roberto und ich albern auf der Standspur herum. Ein gelangweilter Fahrer nimmt lebendige, lustige Leute scheinbar gerne mit. Wir haben uns so an der Mautstelle positioniert, dass wir Blickkontakt zu den Fahrern herstellen können, während diese die Maut zahlen. Bei Tageslicht haben potentielle Chauffeure dann genug Zeit, um uns zu mustern, sich eventuell mit einem Beifahrer abzusprechen und anzuhalten.

Unser Plan hat bisher bestens funktioniert. Doch in Mazatlán dauert es länger. Als unser wildes Hüpfen nur noch einem müden Stehtanz gleicht und das Singen längst von Diskussionen abgelöst wurde, nährt sich ein LKW. Der Wagen hält direkt vor uns – kein Zweifel, diesmal meint er wirklich uns!

Roberto, der einzige Muttersprachler unter uns, klettert zur Beifahrertür hoch. Kaum ist die Tür offen, da schallt uns Norteño-Musik entgegen: "Oh, wie habe ich mich mit deiner Ehefrau vergnügt."

Unser potentieller Fahrer mustert Roberto.
"Wohin?", fragt der Fahrer.
"Nach Guadalajara. Und du?"
"Ich auch. Wie viele?"
"Drei."

Der Fahrer wirft einen prüfenden Blick hinunter auf Chris und mich, die ihm erwartungsvoll entgegen grinsen und macht uns dann mit einer etwas genervten Handbewegung klar, das wäre schon okay und wir sollen einsteigen.

Francisco bietet uns drei Plätze an, zwei auf seinem Bett und einen auf dem Beifahrersitz. Und so beginnt der letzte Teilabschnitt unseres Ausflugs gen Norden. Das erste, was uns an Francisco auffällt, sind seine strahlend weißen Zähne - die nicht so recht ins Bild passen: die Haare sind fettig und sein Gesicht glänzt. Er wirkt klein und untersetzt und eher schweigsam. Ab und an zündet Francisco sich eine Zigarette an, redet und singt ein bisschen, dann verharrt er wieder eine Hand am Lenkrad, die andere am Schaltknüppel. Eine ganze Menge Heiligenbildchen kleben an der Decke und Kreuze und ein Rosenkranz baumeln vom Rückspiegel. Durch die mehrfach gesprungene Windschutzscheibe sehen wir andere Trucks an uns vorbeiziehen. Was er geladen habe, frage ich Francisco, denn sein Truck scheint mir sehr schwer zu sein. "Tomaten", antwortet er und zwinkert. Was sich tatsächlich auf seiner Ladefläche befindet, sollten wir nie herausfinden. Francisco erzählt von seiner Frau und seinen Kindern, die er viel zu selten sieht und von seinem straffen Zeitplan, der ihm kaum für eine Toilettenpause Zeit lässt.

Als Chris nach einer halben Stunde gerade einnickt, halten wir plötzlich. Mitten auf der Autobahn. Der Motor ist aus und Francisco flucht. Er versucht, ihn zu starten. Doch der Motor heult nur kurz auf, der Wagen bewegt sich einige Meter rückwärts und säuft wieder ab. Francisco flucht erneut. Wir haben keine Luft mehr, erklärt er, und die Luft sei nötig, um beim Anlassen die Bremse zu betätigen. Francisco lenkt den breiten rückwärts rollenden Truck langsam die provisorische Standspur der Autobahn hinab bis wir in der Talsohle zum Stehen kommen. Er murmelt etwas Unverständliches und springt dann hinaus auf die Straße.

Minuten später finden auch wir drei uns in der Dämmerung mit gelben Jacken und leuchtenden Handys winkend wieder und versuchen, andere Trucks zum Anhalten zu bewegen oder sie zumindest davon abzuhalten, hinten in Franciscos unbeleuchteten Wagen hinein zu rasen. Schwere Lastwagen rasen kaum Abstand haltend an uns vorbei und hupen ohrenbetäubend laut oder blenden uns mit grellem aufflackernden Fernlicht: Oft werden wir erst im letzten Moment von den anderen Fahrern gesehen. Dann quietschen Reifen und wir springen hinter die Leitplanke. Nur Francisco steht dann noch auf der Straße. Er hat sich anscheinend an das unglaublich laute Gehupe gewöhnt. Chris und ich schlagen vor, zu Fuß zur nächsten Tankstelle zu gehen und Hilfe zu holen. Doch Francisco ist sich sicher: gleich wird jemand anhalten, von dem wir mit seinem Überbrückungsgerät Luft und Benzin abzwacken können.

Eine gute halbe Stunde des Grauens verbringen wir draußen, in der Francisco immer wieder ungeduldig und weiterhin fluchend auf der Überholspur wild gestikulierend herumspringt, dann hält doch ein anderer Truck an und wir kriegen unser Monstrum wieder flott. Bis zur Tankstelle in Mazatlán reicht das Benzin, dann gibt es Nachschub. Nach dem Tanken murmelt Francisco etwas von weißer Soda und verschwindet daraufhin in Richtung Tankstellenshop. Geradezu aufgedreht kommt er mit einer roten Dose Cola wieder und grinst uns an. "Ich fühle mich gleich viel wacher!", freut er sich.



Erst als wir im Auto sitzen und einige Kilometer zurück gelegt haben, erklärt Roberto mir, dass mit "weißer Soda" Koks gemeint sei, ohne das Francisco die langen schlaflosen Touren wohl nicht durchhalten könnte. Ich bin geschockt und überlege, was ich jetzt machen soll. Ich starre zur Windschutzscheibe und achte aus den Augenwinkeln heraus auf Franciscos Fahrweise, die wider Erwarten kein bisschen anders ist als zuvor. Trotzdem ist mir unwohl, aber auszusteigen, hätte hier keinen Sinn. Es ist nachts und wir sind schon weit hinter Mazatlán irgendwo im Nirgendwo. Ich rede mir ein, dass Francisco, der 40 Jahre auf dem Bock unter Kokaineinfluss verbracht hat, mit bestimmt besser fährt als ohne. Lieber ein leicht überdrehter Fahrer, der laut "La sorpresa" von Los tigres del norte mitsingt, als ein übermüdeter. In den nächsten Stunden kreisen meine Gedanken immer wieder um das Kokain: Darf man den Drogenkonsum am Steuer wirklich so herunterspielen? Was ist mit all den Risiken, denen auch Fahrer ausgesetzt sind, die Francisco entgegenkommen?

Als wir nach zwölf Stunden die 500 Kilometer bis nach Guadalajara hinter uns haben, sind wir fix und fertig. Es ist kurz nach 5 Uhr morgens und Francisco lässt uns raus. Er selbst muss noch weiter bis nach León.

Text + Fotos: Annika Wachter

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