ed 09/2010 : caiman.de

kultur- und reisemagazin für lateinamerika, spanien, portugal : [aktuelle ausgabe] / [startseite] / [forum] / [archiv]


[art_4] Brasilien: Man muss diese Jugendlichen retten
Das Straßenkinderprojekt CASAS TAIGUARA
 
Deilson Barbosa dos Santos war einer von ihnen. Mit 13 Jahren wurde er im Zentrum São Paulos bei einem der täglichen Rundgänge von Erziehern des Straßenkinderprojekt CASA TAIGUARA angetroffen, überzeugt, dass eine bessere Zukunft vor ihm läge, wenn er in die CASA TAIGUARA wechseln würde. Er stimmte zu, ging mit, und die folgenden zwei Jahre blieb er in diesem Haus, ging erneut zur Schule. Alles schien gut zu laufen, als er mit 15 Jahren auf einmal verschwand und wieder das Leben auf der Straße wählte. Mit 18 Jahren verübte er einen bewaffneten Überfall, wurde festgenommen und kam die folgenden vier Jahre in Gefängnis.

Viel hört man im Zusammenhang mit Brasilien von Straßenkindern, ihre Zahl ist nur schätzbar, sicher geht sie in die Tausende. Vielfältige Projekte gibt es mit dem Anspruch, sich für das Wohl der Straßenkinder einzusetzen, Wenige sind erfolgreich. Eines, das inzwischen als vorbildhaft gilt, ist das Straßenkinderprojekt CASA TAIGUARA, das die Brasilieninitiative Freiburg e.V. seit seinen Anfängen begleitet.

24 Stunden aufnahmebereit
Was 1996 aufgrund einer Privatinitiative in São Paulo begann und in der Gründung der gemeinnützigen Nicht-Regierungsorganisation "Moradia Associação Civil" mündete, entwickelte sich in den Folgejahren zu einem erfolgreichen Straßenkinderprojekt.

Dieses damals neuartige Konzept, das u.a. darauf beruht, dass ein Straßenkind rund um die Uhr, d.h. 24 Stunden lang, in der  Casa Taiguara einen Ansprechpartner findet, sprach sich auch auf den Straßen im Zentrum São Paulos herum. Entsprechend schnell waren die zunächst zwanzig Schlafplätze ausgebucht. Hinzu kam, dass dieses Haus auch offen für diejenigen Straßenkinder ist, die sich einfach nur mal duschen oder essen wollen. Nur wenige Regeln (kein Waffenbesitz, keine Drogen, keine Gewalt) müssen innerhalb des Hauses befolgt werden. Wer sich entscheidet zu bleiben, hat nicht nur eine sichere Schlafstelle, er hat auch die Möglichkeit, einen Schulabschluss wieder in Angriff nehmen zu können bzw. durch vielfältig  angebotene Aktivitäten, sich selbst und seine Fähigkeiten zu entdecken. Was für Kinder, die keinen geregelten Tagesablauf mehr kennen, eine große Herausforderung ist. Das Taiguara-Team, bestehend aus Erziehern, Sozialarbeitern, Psychologen und Ehrenamtlichen, bemüht sich auch, bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt behilflich zu sein. Viele Straßenkinder sind zudem drogenabhängig. Auch hier bietet das Taigurara-Team Lösungen an: Ist der Jugendliche zu einer Entziehungskur bereit, geht  er in eine Entziehungsklinik außerhalb São Paulos.

Casa Taiguarinha - República Taiguara - Casa Verde
Dass das Zusammenleben von Straßenkindern verschiedener Altersstufen problematisch ist, wurde den Verantwortlichen recht schnell klar. So ergab sich als logische Konsequenz die Eröffnung von CASA TAIGUARINHA im Jahr 2002. Hier fanden in der Folgezeit 16 Kinder bis zum12. Lebensjahr Platz, die über 12-jährigen wohnten bis zum 18. Lebensjahr, wie bisher, in der CASA TAIGUARA. Da nach dem brasilianischen Gesetz über 18-jährige nicht mehr in Straßenkindereinrichtungen leben dürfen, kam es 2007 zur Verwirklichung der REPÚBLICA TAIGUARA. Von diesem Haus aus können bis zu acht junge Erwachsene bei ihrer Arbeitssuche begleitet werden. Auch dies ist ein bis jetzt einmaliger Versuch in São Paulo.

2007 schließlich erfuhr die Arbeit eine weitere Ausdehnung durch die Eröffnung des Hauses CASA VERDE für 25 Kinder bzw. Jugendliche. Hinzu kam 2008 ein CASA TAIGUARA DE CULTURA. Hier finden vielseitige Aktivitäten statt wie Capoeira, Hip Hop, Computerkurse, Filmvorführungen und vieles mehr.

Abrigo permanente - eine ständige Bleibe
Seit 1996 haben schätzungsweise 6000 Jugendliche CASA TAIGUARA durchlaufen. Bislang war jedoch nur eine vorübergehende Aufnahme möglich. Das Kind bzw. der Jugendliche konnte nur so lange in der Einrichtung bleiben, bis er entweder in seine Familie zurückkehrte oder in einer Einrichtung in seinem Herkunftsstadtteil einen Platz bekam. Die "Weiterverschickung" in Einrichtungen in die Nähe des Herkunftsortes hat oftmals für die Betroffenen unangenehme Folgen: Abbruch der mit anderen Bewohnern und den Betreuern aufgebauten Kontakte, Konfrontation mit neuen veränderten Tagesabläufen.

Das von zwei Psychologinnen initiierte Projekt "Integration" zeigt deutlich, wie schwierig, oftmals unmöglich es ist, eine Wiedereingliederung in die Familie zu vollziehen. Zu tief sind die seelischen und körperlichen Verletzungen; die Mehrzahl der Kinder bzw. Jugendlichen verließ schließlich das Elternhaus wegen Gewaltanwendungen, mangelnder Fürsorge bzw. gerade bei den Mädchen aufgrund sexuellen Missbrauchs, Vergewaltigungen.

Hier möchte das nun geplante Haus "CASA TAIGURA - ABRIGO PERMANENTE" ansetzen. Jene Jugendlichen, die nicht in ihre Herkunftsfamilien reintegriert werden können, sollen ein sicheres Zuhause erhalten - bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. Das geplante Haus hat eine Aufnahmekapazität von 20 Personen und bietet darüber hinaus einen 80 Quadratmeter großen Raum, in dem die Einrichtung einer Lehrwerkstatt vorgesehen ist.

Obwohl die Arbeit der "Moradia Associacão Civil" inzwischen auch von der Stadtverwaltung São Paulos anerkannt ist, als Modell für andere Einrichtungen, ist dieses neue Vorhaben wieder auch auf die Unterstützung vieler Einzelpersonen angewiesen.

Das Projekt CASA TAIGUARA ist ein Beispiel dafür, wie aus der Initiative eines Einzelnen eine Einrichtung entstehen kann, die zeigt, dass es möglich ist, Straßenkinder von der Straße zu holen und ihnen ein lebenswertes Leben zu bieten.

Deilson Barbosa dos Santos fand nach seiner Gefängnisstrafe den Weg zurück zu CASA TAIGUARA: Hier arbeitet er jetzt  bereits seit über einem Jahr als Verwaltungskraft.

Text: Günther Schulz



Spenden
Wer sich für die Verwirklichung von CASA TAIGUARA - ABRIGO PERMANENTE engagieren möchte, kann dies mit einer Geldüberweisung auf das Koto 250 548 06 (BLZ 680 900 00) der Brasilieninitiative Freiburg e.V. bei der Volksbank Freiburg tun.

Brasilieninitiative Freiburg e.V
Die Brasilieninitiative Freiburg e.V. beschäftigt sich seit 1978 mit Brasilien, wobei der Schwerpunkt der Arbeit auf der sozialen Ungleichheit und deren Ursachen sowohl in der Stadt wie auf dem Lande liegt.

Die Arbeit der Brasilieninitiative Freiburg e.V. geschieht ehrenamtlich und umfasst die Bereiche Information und Projektunterstützung. Hauptbereich der Informationsarbeit ist die Herausgabe der Zeitschrift "BrasilienNachrichten". (erscheint zweimal jährlich s. www.brasiliennachrichten.de) sowie die Unterstützung von Kleinprojekten (s. www.brasilieninitiative.de)

[druckversion ed 09/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]


© caiman.de: [impressum] / [disclaimer] / [datenschutz] / [kontakt]