ed 04/2009 : caiman.de

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spanien: Ostermorgen in Sevilla
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Nur nicht aufgeben
Kampf der Mütter der "Praça da Sé" um ihre verschwundenen Kinder
THOMAS MILZ
[art. 2]
bolivien: Piranhas und Bananen zum Frühstück
EVA FUCHS
[art. 3]
spanien: Sevilla - Stadt der Wunder
Ein Porträt der andalusischen Kunstmetropole (Rezension)
SÖNKE SCHÖNAUER
[art. 4]
grenzfall: Grüner Spargel und Billigflieger-Spartrips
DIRK KLAIBER
[kol. 1]
helden brasiliens: Nur nicht aufgeben
Kampf der Mütter der "Praça da Sé" um ihre verschwundenen Kinder
THOMAS MILZ
[kol. 2]
pancho: Bocadillo con Picknick
DIRK KLAIBER
[kol. 3]
erlesen: Globale Lebensläufe
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Spanien: Ostermorgen in Sevilla
 
Am Ostersonntag um 7.00 Uhr morgens nahe dem Rathausplatz in Sevilla. Müde und leicht angeheitert durch den Genuss diverser Sherrysorten treten wir hinaus auf die Straße, den Rhythmus im Ohr, der aus den Boxen einer der letzten noch geöffneten Diskos von Sevilla erklang. Nach 40 Tagen Fastenzeit und einer Woche voller Prozessionen durften wir endlich wieder "weltlich" feiern.

Unsere Gruppe besteht seit Jahren aus mystisch angehauchten Semana Santa Fans: meiner Sevillaner Freundin Carmen und ihrem Mann Manolo, Teresa und Regina, ebenfalls Sevillanerinnen, der Französin Antoinette, die seit Jahren in Sevilla lebt, der 17-jährigen Cayetana aus Cádiz sowie zwei Pilgern aus Madrid (Isidoro und Marina) und mir.
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Nachdem sich die Augen an das überraschend grelle Morgenlicht gewöhnt haben, hören wir plötzlich laute Trommelwirbel und fast bedrohlich schmetternde Trompeten, die immer näher kommen. Was kann das sein um diese Zeit? "El Resucitado!", ruft Carmen in schuldbewusster Erkenntnis – die Prozession des Auferstandenen Christus. Wir schauen uns an wie Kinder, die vor der Beichte bei irgendeiner verbotenen Handlung beobachtet wurden.

Dabei wollten wir schon seit Jahren diese letzte Prozession der Sevillaner Semana Santa in der Nähe der Kathedrale sehen, aber immer war etwas dazwischen gekommen: entweder waren wir frühmorgens an den Strand gefahren, hatten uns während der Madrugá (Karfreitagnacht) erkältet oder ganz einfach verschlafen.

Strahlendweiß gewandete Nazarenos rücken auf breiter Front auf dem Rathausplatz vor und schreiten dann durch die Avenida zur Kathedrale. Sie wirken im Licht der aufgehenden Sonne wie verirrte Nachtgespenster, die nicht rechtzeitig den Weg zurück in ihre nächtlichen Gruften gefunden haben. Die weißen Tunikas und Gesichtsmasken der Nazarenos reflektieren die Strahlen der noch tief stehenden Sonne, die nur eine Seite der Straßenschlucht erleuchten.
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Da die Zuschauertribünen nicht mehr abgesperrt sind, können wir der Prozession mit bester Sicht bis zur Kathedrale folgen und auch die anderen Frühaufsteher schenken der Prozession von La Resurrección ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

Präsentiert wird sie von einer der jüngsten Bruderschaften der Stadt, die durch eine Initiative des Salesianer-Ordens im Jahr 1972 gegründet wurde. Damals herrschte eine wahrhaft religiöse Aufbruchstimmung im Geist des 2. Vatikanischen Konzils, ausgelöst durch Johannes XXIII., den besten und einzig heiligen Papst, den das 20. Jahrhundert zu bieten hatte. – Man fragt sich inzwischen, wo diese Begeisterung geblieben ist. Denn zur Stunde scheint der Vatikan immer mehr unter den lähmenden Einfluss obskurer Sekten und selbstgerechter Pharisäer zu geraten.

Nur die jungen Laienbruderschaften Sevillas haben etwas von diesem natürlichen Enthusiasmus bewahrt und verstehen es, die Jugend zu begeistern. La Resurrección nahm zum ersten Mal 1982 mit einer Prozession zur Kathedrale an der Semana Santa teil und damals wie heute waren viele Kinder dabei, verkleidet als Nazarenos.

Schon seit über drei Stunden ist La Resurrección unterwegs, denn um 4.30 Uhr hat die Prozession die Kirche Santa Marina verlassen. Auf der goldglänzenden Altarbühne zeigt ein Engel auf den auferstandenen Christus, der aus dem geöffneten Sarkophag emporsteigt.
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Diese kraftstrotzende Christusstatue von Francisco Buiza (1973) präsentiert sich in siegreicher Pose, mit hinab gleitendem Leichentuch, schon halb in der Luft schwebend und die rechte Hand hoch erhoben – zum Segnen der Gläubigen, aber auch als Zeichen des Sieges über den Tod. Vergessen alle Darstellungen des leidenden oder des gekreuzigten Christus mit Dornenkrone, die durch nächtliche Straßen getragen wurden, denn dieser Triumphator in Herrscherpose lässt keinen Zweifel an der Frohen Botschaft der Auferstehung.

Eine Inspirationsquelle des Künstlers war ein um 1655 entstandenes Gemälde des Sevillaner Barockmalers Murillo, das eine ähnlich triumphale Christusdarstellung zeigt. Der schöne, neobarocke Engel, ebenfalls ein Werk von Francisco Buiza, wirkt noch gelungener in seiner mitreißenden Dynamik mit flatternden, prächtig bemalten Gewändern und goldenen Flügeln. Ein goldener Flügel des Engels ist auch das Letzte, was man sieht, als der Paso des Erlösers im Portal der Kathedrale verschwindet und vom Dunkel des riesigen Raums verschluckt wird.

Als wir ihm noch ergriffen nachblicken, bemerken wir, dass ein distinguiertes Ehepaar uns abfällig mustert – offenbar sind wir nicht vornehm genug gekleidet oder unsere Haltung scheint ihnen nicht fromm genug. Absichtlich laut kommentiert Cayetana in die Runde: "Also ich glaube ja, dass Jesus uns alle erlöst und nicht nur die paar Scheinheiligen, die meinen, er sei exklusiv für sie gestorben..." Empört drehen sich die beiden Angesprochenen auf dem Absatz um und wechseln die Straßenseite.
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Doch die Prozession geht weiter und schon kündigen schmetternde Trompetenfanfaren den Paso der Jungfrau an, die sich langsam vom Rathausplatz her nähert.  Im Schatten der Avenida wirken die weißen Tunikas der Nazarenos leicht bläulich, während unter dem verschnörkelten Schatten des Baldachins zuerst nur die Lichtpunkte der Kerzen, aber noch nicht die Gesichtszüge der Madonna zu erkennen sind.

Schließlich fallen, wie von göttlicher Lichtregie gelenkt, die ersten Sonnenstrahlen auf das Gesicht der Jungfrau der Morgenröte, die im roten Mantel über der Kerzenpyramide steht. Da sie Christus nicht in seiner Passion, sondern im Triumph der Auferstehung begleitet, ist diese schöne, 1978 vom Bildhauer Antonio Dubé de Luque geschaffene Marienstatue die einzige ohne Tränen in Sevillas Semana Santa.

Und es ist auch kein Zufall, dass nun der Paso der Jungfrau der Morgenröte – wie alle anderen vor ihr – als letzter von 120 durch die Puerta del Nacimiento getragen wird, um im weiten Dämmerlicht der Kathedrale zu verschwinden. Denn dieses Portal, das über dem Eingang die Szene der Geburt Christi in Bethlehem zeigt, ist das Tor der Wiedergeburt. Jeder wird an diesem lichtdurchfluteten Morgen des Ostersonntags wieder geboren, so wie die ganze Natur als Schöpfung Gottes zu einem neuen Lebenszyklus erwacht aus dem Dunkel und der Kälte der Winterstarre und erblüht in frischem Grün und unzähligen Blüten, die sich dem Licht entgegen ranken.
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Und das Licht des Frühlings begleitet den Rückweg der Prozession von der Kathedrale nach Santa Marina. Wenn sich kurz vor 15.00 Uhr nachmittags die Pforten dieser Kirche hinter der letzten Prozession schließen, wird sich ganz Sevilla – odmüde nach acht Tagen und Nächten voller euphorischer Emotionen und tanzender Madonnen – zur längsten Siesta des Jahres hinlegen, um seinen Weihrauch-Rausch auszuschlafen. Und dabei träumen von der nächsten Semana Santa.

Text + Fotos: Berthold Volberg


Von Berthold Volberg sind zur Semana Santa in Sevilla folgende Artikel erschienen:
[Es ist vollbracht: Der Karsamstag in Sevilla]
[Zwischen strahlendem Barock und düsterer Mystik: Der "Heilige Montag"]
[Die Passion in Sevilla: Der "Heilige Mittwoch"]
[Der Karfreitag in Sevilla: Ein Andalusisches Requiem]
[Der Tag der Himmelsköniginnen - Palmsonntag in Sevilla]
[Goldrausch in Sevilla: Gründonnerstag der Semana Santa]
[Semana Santa in Sevilla - Die Geheimnisse der Madrugá]
[Heilige Nacht mit Guaraná - Nicht ganz ernst gemeinte Chronik der Semana Santa (2007)]
[Madonnenbildchen über Madonnenbildchen in Sevilla – Nicht ganz erste Chronik (2008)]


Von Berthold Volberg ist über Sevilla mit einem umfangreichen Semana-Santa-Spezial folgende Monografie erschienen:

Volberg, Berthold
Sevilla – Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm


[druckversion ed 04/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_2] Brasilien: Nur nicht aufgeben
Kampf der Mütter der "Praça da Sé" um ihre verschwundenen Kinder
 
"Ich habe keine Ahnung, was mit meiner Tochter passiert ist. Sie verschwand 120 Meter von meinem Haus entfernt." Seit mehr als 13 Jahren sucht Ivanise Espiridião da Silva nun schon nach ihrer Tochter Fabiana. Ohne Erfolg. "Im Laufe dieser Jahre habe ich nach einer Antwort gesucht. Aber ich finde einfach keine."



26 Jahre alt ist – oder wäre - ihre Tochter jetzt. "Nicht einen Tag waren wir davor voneinander getrennt. Und jetzt hat sie schon ihr halbes Leben ohne mich leben müssen." Ivanise hat sogar in einer Telenovela mitgespielt, um die Öffentlichkeit auf ihr Problem aufmerksam zu machen.

Danach beschloss sie, in São Paulo eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Seit März 1996 steht sie jeden Sonntag mit Leidensgenossinnen auf den Stufen der Kathedrale "Sé", dem Bischofssitz São Paulos, Schilder mit den Bildern der verschwundenen Kinder vor der Brust. "Mães da Sé", die "Mütter der Se", werden sie deshalb vom Volksmund genannt.

200.000 Menschen verschwinden jedes Jahr in Brasilien, darunter 40.000 Kinder. Die Aufklärungsquote der Behörden liege bei 85%, meist "leichte" Fälle in denen die Kinder von daheim weglaufen. Doch jedes siebte Kind bleibt verschwunden, und 6.000 Familien erhalten keine Antwort auf die Frage nach ihrem Verbleib.

Zu verschwinden sei in Brasilien ein soziales Problem, sagt Ivanise. Die meisten Fälle sind in den untersten Schichten der Gesellschaft anzutreffen. Mord, Pädophilie, Kinderprostitution, Organhandel – an grauenhaften Hintergründen mangelt es nicht. "Mit welchem Recht nehmen uns diese Menschen unsere Kinder weg?"


Auch Francisca Ribeiro Santos sucht seit 17 Monaten verzweifelt nach ihrem Sohn Hugo, ihrem einzigen Kind. Am Gartentor habe der damals 10-jährige darauf gewartet, dass sie von der Arbeit heim komme. "Meine Schwägerin rief ihn rein, doch er wollte warten. Als ich nach Hause kam, war er nicht mehr da."

Francisca hing Fotos von Hugo in der Nachbarschaft auf, in den Krankenhäusern und auf öffentlichen Plätzen, stellte sein Bild ins Internet. "Bis heute suche ich ihn an allen möglichen und unmöglichen Orten, suche nach einer Spur von ihm. Aber da ist einfach nichts." Der Vater, von dem sie geschieden ist, habe am Anfang bei der Suche geholfen. Und rasch aufgegeben.

"Der Schmerz ist letztlich nur unser eigener, und irgendwann ist man als Mutter mit ihm alleine." Francisca schloss sich den "Mães da Sé" an. An die Hand genommen habe sie Ivanise, zu einem Psychiater gebracht, der ihr hilft den Schmerz zu ertragen. Auch Rechtsbeistand und Hilfe bei Behördengängen bietet die Selbsthilfegruppe den Müttern. Trotz ihres eigenen Schmerzes würde Ivanise es niemals versäumen, den Anderen Trost zu spenden.

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Die Behörden schenkten diesen Fällen nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienen, klagt Ivanise. Und fordert die Einrichtung einer zentralen Registrierungsstelle der Verschwundenen. "Wir leben in einem Land, in dem ein geklautes Auto sofort in eine nationale Datenbank aufgenommen wird. Für Menschen gibt es so etwas jedoch nicht."

Fünf Mütter hat die "Mães da Sé" seit ihrer Gründung bereits verloren, gestorben am Schmerz. Auch Ivanise ist schwer krank, durchlebt Phasen tiefster Depression, leidet unter Bluthochdruck und hat zwei Herzinfarkte erlitten. "Das bringt Dich Stück für Stück um." Ihre große Stütze ist ihre zweite Tochter. Der Ehemann ist vor den Problemen davongelaufen. "Männer haben nicht die psychischen Strukturen, um das auszuhalten."

Ivanise und Francisca haben die Hoffnung nicht aufgegeben, ihre Kinder eines Tages doch noch zu finden. "Gott darf mich nicht ohne eine Antwort sterben lassen. Aber mein Herz, das Herz einer Mutter, sagt mir, dass meine Tochter noch lebt", sagt Ivanise. "Ich ziehe es vor, zu glauben, dass die Intuition einer Mutter nicht falsch sein kann. Und dass Gott mich auf den Tag vorbereitet, an dem ich sie wieder sehen werde."

Text + Fotos: Thomas Milz


Bildergalerie

Falls Sie eine der verschwundenen Personen erkennen, wenden Sie sich bitte an den caiman oder direkt an die "Mães da Sé": maesdase@globo.com oder 0055-11-3337 3331

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[druckversion ed 04/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_3] Bolivien: Piranhas und Bananen zum Frühstück

Schon die Anreise zum Urwalddorf Sanandita im Departamento Cochabamba (Bolivien) ist ein Abenteuer. Der Tourismusverantwortliche der indigenen Gemeinde der Yuracaré, Juanito Cartagena, holt uns früh am Morgen ab. Zusammen bringen wir die sieben Stunden Busfahrt mit kokakauenden Bauern über unasphaltierte Holperstraβen bis zum letzten Dorf vor dem Ziel, San Gabriel, hinter uns. Dieses "Nest" besteht aus nur einer staubigen Straβe, die von Läden, in denen man einfach alles für den täglichen Urwaldbedarf kaufen kann, umgeben ist. Dort nehmen wir die letzte Chance wahr, Zivilisationsgüter wie beispielsweise abgefülltes Wasser zu kaufen, was uns in Anbetracht des brackigen Flusswassers, das die Einheimischen trinken, dringend empfohlen wurde.



Mit dem klapprigen Taxi, das von Rechts- auf Linkssteuerung umgebaut wurde und in das sich problemlos 14 Personen stapeln lassen, geht es bis zum "Hafen", von dem aus wir mit dem Einbaum abgeholt werden sollen. Das Einbaum-Kanu, das uns schließlich abholt, wird - in unseren Augen - ähnlich überladen, so dass uns bei jeder Bewegung im Boot die Wasserkante bedrohlich näher kommt. Zum Glück wissen wir in dem Moment noch nichts von den Piranhas und Krokodilen, die den Fluss mit der indigenen Gemeinde teilen.

Ein schmaler Trampelpfad führt vom Hafen ins lang gestreckte Dorf Sanandita, das sich zwischen einen See und den undurchdringlich wirkenden Regenwald zwängt. 17 Familien zählt die Gemeinde, deren Holzhütten sich in etwa 100 Meter Abstand zueinander am Seeufer aufreihen. Für die Besucher haben die Dorfbewohner eine eigene Hütte gebaut, die wie ihre eigenen aus Holz und Stroh auf Pfählen besteht. Auf die Frage, warum man im "1. Stock" der hochgebauten Hütten schläft, den man über eine Baumleiter erreicht, antwortet Juanito gelassen, dass Vogelspinnen sich nur am Boden aufhalten und Wände nicht hochkommen. Na zum Glück!

Überlebenschance der Touristen im Urwald: ohne Hilfe eher niedrig
Die erste Nacht in der Hütte ist ungewohnt. Die im Vergleich zu einer Matratze harte Flechtmatte, die vollkommene Dunkelheit und vor allem der allgegenwärtige, nachts besonders ausgeprägte Urwaldlärm. Da gebe Brüllaffen, nachtaktive Vögel und Grillen ein nächtliches Konzert.

Der Tagesablauf der Yuracaré ist recht übersichtlich: wenn es hell wird, steht man auf und wenn es dunkel wird, geht man schlafen. Eigentlich logisch. Denn auf für uns normale Annehmlichkeiten wie Elektrizität, fließendes Wasser und sanitäre Anlagen muss man im Dschungel verzichten. Morgens um acht kommt unser Führer Renaldo, um uns zum Frühstück abzuholen. Leonora, seine Frau, hat über der Feuerstelle bereits Reis mit Bananen und Fisch gekocht, welchen sie uns jetzt schüchtern lächelnd serviert.

Die erste Aufgabe nach dem Frühstück ist das Fischen für das Mittagessen. Überhaupt beziehen sich beinahe alle Aktivitäten auf die Nahrungsbeschaffung und -zubereitung. Bei näherer Betrachtung ist dies in der westlichen Welt gar nicht so anders, nur dass man im Urwald eine viel direktere Verbindung zwischen Arbeit und Nahrung erkennen kann.

Beim Fischen auf dem See mit Angelruten, die aus einem Stock mit Angelsehne und Haken bestehen, zeigt sich, dass meine Überlebenschancen im Urwald ohne die sachkundige Unterstützung von Renaldo und Leonora recht gering wären.

Nicht einen Fisch konnte ich erwischen, trotz genauer Beachtung der Anweisungen.

Und auch der nächste Urwaldüberlebenstest muss als nicht bestanden gelten. Die zahlreichen und schmackhaften Früchte hängen meist recht weit oben an den Palmen und sind auch durch ein Rütteln am Baum kaum nach unten zu befördern. In wenigen Sekunden hat Renaldo den astlosen Stamm erklommen. Ich versuche es auch - obwohl das bei den relativ klar getrennten Aufgaben in der Gemeinde eindeutig eine Männerarbeit ist und daher etwas Verwunderung hervorruft - komme aber nicht über drei Meter hinaus und bin somit noch viele Meter von den begehrten Früchten entfernt. Aber dank Renald kommen wir an diesem Tag ins Paradies der Früchte: Bananen, Papayas, Orangen, Limonen, Kakaofrüchte und Grapefruits beweisen, dass wir in den Tropen sind.

Abgesehen vom Bäume erklimmen, ist das groβe Wissen der indigenen Bevölkerung über ihren Lebensraum, dem Urwald, immer wieder beeindruckend. Sie wissen, welche Beeren man zum Angeln nimmt, welche man essen kann, welche giftig und welche gar ein Heilmittel gegen verschiedene Krankheiten sind. Und wenn gerade keine Sitzgelegenheit verfügbar ist, werden ein paar dünne Bäume mit der Machete gefällt, aus denen innerhalb von drei Minuten geschickt  eine Bank gezimmert wird. Im Urwald ist unser "Stadtwissen" tatsächlich gar nichts wert.

Naturverbundenheit und Mystik der Ureinwohner
Die enge Verbindung zur Natur der Yuracaré zeigt sich nicht nur in ihrem Umgang mit ihrem Lebensraum - sie nehmen nie mehr als sie brauchen und als wiederhergestellt werden kann -, sondern auch in ihren mystischen Geschichten, Legenden und Traditionen.

Denn obwohl die Yuracaré Mitte des 18. Jahrhunderts christianisiert wurden, haben sie einen starken Glauben an Geister und Vorfahren behalten. Diese würden sie auch vor beispielsweise Jaguaren und Krokodilen schützen.

Das wirkt in dem Moment, als wir nachts inmitten des Dschungels im Zelt übernachten, beruhigend. Glücklicherweise wird uns erst viel später bewusst, dass die Vorfahren uns ja nicht kannten.

Text: Eva Fuchs
Fotos: DELPIA

Projektinfo:
Der Tourismus dient als Alternative zum Kokaanbau, kann somit weitere Waldrodungen verhindern und schützt so den Regenwald. Ein Großteil der Einnahmen im Tourismus fließt direkt in soziale Projekte und kommt damit der ganzen Gemeinde zu Gute. Mit Hilfe der Delpia-Stiftung konnten bereits diverse Projekte zur nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen realisiert werden, wie ein Bienenzuchtprogramm für den Verkauf von Honig oder ein Aufzuchtprogramm von Jochis, einer südamerikanischen Nagetierart ähnlich dem Meerschweinchen. Doch ein genauso wichtiger, wenn nicht noch wichtigerer Faktor, ist, dass durch die internationale Aufmerksamkeit der Touristen die Situation der Diskriminierung und Vertreibungen nicht mehr so leicht ignoriert werden kann. Die Touristen werden zur Stimme der Yuracaré. Die Präsenz von ausländischen Reisenden und ihr Interesse an der indianischen Kultur stärkt die Yuracaré zudem in ihrer Identität und in ihrem Stolz auf die eigene Kultur - ein wichtiger Faktor für die sonst marginalisierten und unterdrückten Gemeinden.

Der Stamm der Yuracaré-Indianer im bolivianischen Amazonasgebiet wird durch kolonisierende Kokabauern immer weiter zurück gedrängt. Um diese Invasion zu bremsen, hat die Nichtregierungsorganisation DELPIA vor zwei Jahren ein Gemeindetourismusprojekt ins Leben gerufen. Wer das Abenteuer Wildnis wagt, wird belohnt durch ein einmaliges und authentisches Erlebnis.

Reiseinfos: Bolivien & Sanandita
Einreise: Bürger der meisten Länder der Europäischen Union benötigen für einen Aufenthalt bis 30 Tage einen gültigen Reisepass, der noch mind. sechs Monate über das Ausreisedatum gültig sein muss. Vor Ort kann die Aufenthaltsbewilligung problemlos gegen Gebühr um jeweils weitere 30 Tage bis 90 Tage verlängert werden.

Gesundheit: Gelbfieberimpfung obligatorisch. Für den Aufenthalt in Sanandita ist neben den üblichen Impfungen auch die Typhus-Schluckimpfung empfohlen. Im Nationalpark Isiboro-Sécure gibt es ein tiefes Malariarisiko, die Mitnahme eines Malaria Medikamentes zur Notfalltherapie ist somit ebenfalls angebracht.

Reisen zu den Yuracaré: Koordiniert werden die Touren durch die Non-Profit Organisation DELPIA in Cochabamba: Av. Beijing y Tadeo Haenke (Av. Beijing # 1452), Tel: +591-4-4403138; Handy: +591-72290107; mail: info@fundacion-delpia.org; www.fundacion-delpia.org

Der Beginn der Tour ist nach Voranmeldung täglich möglich. Es werden zwei verschiedene Programme angeboten:
1. Das Programm "Das indigene Leben" ermöglicht den Besuchern, am Alltagsleben einer Yuracaré-Familie teilzunehmen. Der Besucher fühlt sich dadurch als Teil der indigenen Gemeinschaft. Die genauen Aktivitäten lassen sich im Voraus nicht genau festlegen, da sie stark vom Interesse der Besucher und dem jeweiligen Tagesgeschehen abhängen.

2. Das Programm "Die indigene Welt" bietet dem Besucher die Möglichkeit, die einzigartige Schönheit und den Artenreichtum in den indigenen Territorien kennenzulernen und zu erleben. Bei einer mehrtägigen Trekking- oder Kanutour durch den Urwald werden die Besucher von indigenen Führern begleitet, die während der Strecke ihr Wissen über das Überleben im Regenwald weitergeben.


Kosten:
Eine viertägige Tour ab/bis Cochabamba kostet für den Einzelreisenden ca. EUR 135.00, resp. ca. EUR 115.00 pro Person bei zwei Reisenden (Anreise ab Cochabamba mit öffentlichen Verkehrsmitteln, die indigenen Führer sprechen nur Spanisch und Yuracaré)


[druckversion ed 04/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_4] Spanien: Sevilla – Stadt der Wunder
Ein Porträt der andalusischen Kunstmetropole (Rezenssion)
 
Mein erster spontaner Gedanke als Spanien-Fan beim Durchblättern dieses Buches: das wurde aber auch Zeit! Denn nachdem es Hunderte von Büchern in deutscher Sprache über Florenz, Rom, Paris oder Venedig gibt, war eine Monografie, die Andalusiens Hauptstadt Sevilla gewidmet ist, überfällig. Schließlich hat Sevilla, die Maler-Metropole des Barocks, soviel Kunst hervorgebracht wie kaum eine andere Stadt und viele Werke, die heute in Museen in Madrid oder Paris ausgestellt werden, wurden in Sevilla oder von Sevillaner Künstlern geschaffen. Trotzdem wagte es bisher kein deutscher Verlag, Sevilla als Kunststadt mit einer Gesamtdarstellung der Sevillaner Bildhauer- und Malerschule zu würdigen.

Volberg, Berthold
Sevilla – Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

Woran das liegt? Ganz einfach: Goethe hat nun mal eine "Italienische Reise" und keine andalusische unternommen und Generationen deutscher Bildungsbürger folgten ihm nach "Bella Italia", während Sevillas Kunstschätze vergleichsweise unentdeckt blieben. Es ist dem NORA-Verlag zu verdanken, dass diese Lücke nun geschlossen wird.

Sevillas Wunder werden in diesem Buch in drei Schwerpunkten präsentiert. Dabei ist der erste Teil der kürzeste und widmet sich dem arabisch-maurischen Kulturerbe und dem Übergang nach der Reconquista. Dies scheint thematisch etwas isoliert vom Hauptthema sakrale Barockkunst, hat aber in jedem Fall seine Berechtigung, denn man kann in einem Werk über Sevilla die islamische Vergangenheit nicht ausblenden, da sie bis heute spürbar ist. Und das Kapitel über die Entwicklung des andalusischen Patio von der arabischen Epoche bis zum Barock gehört zu den Glanzpunkten dieses Stadtporträts. Zum Abschluss des ersten Teils die Kathedrale Sevillas als "Tempel der Toleranz" zu bezeichnen, zeugt aber von einer etwas zu harmoniesüchtigen Sicht der Dinge und dient wohl der Überleitung.

Im Hauptteil des Werks von Berthold Volberg werden die wichtigsten Künstler des Sevillaner Barocks mit Kurzbiografien und Werksanalysen vorgestellt. Dieser Part ist sehr informativ und stellt auch das "Netzwerk" dar, mit dem die Sevillaner gegenseitig ihre Karrieren (auch am Königshof in Madrid) förderten. Das einzige, was man dem Autor in diesem Zusammenhang vorwerfen könnte, ist die Tatsache, bei der Präsentation des "Dreigestirns" der großen Barockmaler Sevillas (Velázquez, Murillo, Valdés Leal) einen vergessen zu haben: den genialen Francisco de Zurbarán, der mindestens ebenbürtig war. Das mag auch daran liegen, dass Zurbaráns Biografie weniger spannend ist als die seiner Kollegen. Über das Genie Velázquez und sein Werk wurde zwar schon viel geschrieben, aber der Bildhauer Martínez Montañés oder Europas einzige königliche Hofbildhauerin(!) Luisa Roldán sind einem deutschen Publikum noch weitgehend unbekannt. Außerdem wird die Bedeutung der Architektenfamilie der Figueroa und des Architekten Aníbal González für die Stadtlandschaft Sevillas hervorgehoben. Ein zusätzliches Verdienst dieses Buches ist, dass erstmals auch die wichtigsten neobarocken Künstler Andalusiens in deutscher Sprache gewürdigt werden. 

Der letzte, den Feierlichkeiten der Semana Santa gewidmete Teil ist der interessanteste Part des Buches und es gibt auch hier nichts Vergleichbares in deutscher Sprache. Der Autor demonstriert eindrucksvoll sein profundes Hintergrundwissen zu diesem barocken Spektakel der Karwochen-Prozessionen in Sevilla, die hier so zahlreich und prächtig sind wie nirgendwo sonst. In einem mitreißenden Essay beschreibt er die einzigartige Atmosphäre der "Madrugá", der Nacht des Karfreitags, in der Sevilla zur Bühne für die Prozessionen der berühmten Macarena und des "Jesús del Gran Poder" wird. Anschließend werden die Höhepunkte jedes einzelnen Tages mit vielen stimmungsvollen Fotos und kurzen Textbeiträgen kommentiert. 

Im insgesamt sehr informativen Anhang vermisst man einen Stadtplan Sevillas. Dafür gibt es aber andere sehr nützliche Materialien in kompakter Form:
  • das komplette Semana Santa Programm (wo gibt es das sonst in deutscher Sprache?) mit Kurzbewertung der einzelnen Prozessionen, historischen Daten zu allen Bruderschaften und vielen Tipps für Standorte zum Erleben besonders spektakulärer Momente
  • eine Stadtgeschichte in Tabellenform
  • eine Kurzbewertung der 100 wichtigsten Monumente Sevillas sowie gastronomische Tipps für jedes Stadtviertel.
"Sevilla – Stadt der Wunder" ist ein Kunstführer, der nicht zu wissenschaftlich ist, sondern lebendig, unterhaltsam und reichhaltig bebildert die "Wunder" der Hauptstadt Andalusiens einem breiten Publikum näher bringt.

Text: Sönke Schönauer

[druckversion ed 04/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[kol_1] Grenzfall: Grüner Spargel und Billigflieger-Spartrips
 
Der Gang, der dem ungemeinen Druck auf der Blase Erleichterung verschafft, stellt in meinem Fliegeralltag schon fast ein festes Ankunftsritual dar. In Anbetracht des Andrangs auf den Toiletten in der Gepäckbänderhalle könnte man durchaus von einem Ritual der Massen sprechen. Woran das genau liegt, interessiert mich momentan wenig, weil ich damit beschäftigt bin, mich durch Jacken und von meiner Hüfte baumelnde Pullover- und Longshirtarme sowie in die Hose gezwängten Unterhemden und gleichnamigen Hosen zu kämpfen, um endlich – erster Angstschweiß tropft – zu notdürftilieren. Meinen Nachbarn geht es ähnlich und dann stöhnt der Leidensgenosse, der sich am Pissoir neben den Waschbecken positioniert hat: Seit Ryanair mehr Geld für die Aufgabe eines Gepäckstücks verlangt als für den eigentlichen Flug, mach ich mich nach jeder Ankunft beinahe nass, weil ich eine Ewigkeit brauche, bis ich mich soweit als nötig entkleidet habe. Aber bei 50 Euro für einen 15-Kilo-Koffer lohnt es sich, die gesamte Kleidung am Körper statt im Koffer zu tragen.



[Wilder Spargel, Cap de Creus]

Es ist Ende März, ich komme aus Spanien und bin braun wie Hulle aufgrund ausgiebiger Spaziergänge und drei Wochen lang Mittagsmenues Dinieren im Sonnenschein. Booooh der Idiot schon wieder im Urlaub und jetzt am Prahlen, ertönen bald die Klagen, so ein Leben will ich auch

Ihr Jecken, erwidere ich, alles zwangsbedingt, mich hat die Krise erwischt, Kurzarbeit im Ein-Mann-Betrieb. Und bevor mich Auftraggeber mit Hinhalteaktionen oder Arbeitsbeschäftigungsmaßnahmen triezen, Abflug und die Betriebszeit von UMTS-Stick, Laptop und Handy auf vier Stunden pro Tag konfiguriert. 

Au ja! Eine meiner Lieblingswanderungen führt in das schöne Cadaques auf der Cap de Creus. Ein wenig bergan durch Lavendel, ein wenig bergab durch Rosmarin. Dort, wo sich Lavendel und Rosmarin begegnen, treffen wir einen Katalanen und bitten um Beistand durch Rat, denn seit Tagen sehen wir Leute am Straßenrand grüne Stängel pflücken, die grünem Spargel verblüffend ähneln.
Nein, weder ist das was ihr in der Hand haltet Spargel noch dieser Busch eine Spargelpflanze. Die Spargelpflanze ist ein niederes, stachliges Gestrüpp. Wartet ich zeig euch eins. Dieses hier! Und Moment, ah da ist er, der Spross bzw. der Spargel. Sehr schmackhaft. Pflückt nur die jungen Triebe. Diese weisen an ihren Stängeln noch keine weiteren Triebe auf. Hier probiert!
Roh?
Ja, natürlich. Man kann den Spargel roh essen. Sie geben dem Salat einen exquisiten Geschmack.
 

[Blühender Rosmarin, Cap de Creus]

Die Skepsis weicht schnell ob des Spargels eigentümlichen Geschmacks, der sich mit unendlicher Frühlingsfrische und einer leichten Bitternote unsere kulinarischen Herzen sticht. Ernten und Verzehren könnte als ein Vorgang durchgehen und so kommt das wilde Spargeln in Direktverzehrhinsicht dem Erdbeerfeldplündern näher als dem heimischen Spargelstechen.

Die Ärmel unters Kinn geklemmt, die drei Jacken mit angewinkelten Ellenbogen fixiert, weitere durch fuchsige Billigflieger-Spartrips bedingte Michelin-Dresscode-Anwandlungen mit Ring- und Kleinem Finger auf Distanz gehalten, plätschert es los und Hitzewallungen visualisieren Rauchzeichen, die vom reinigenden Personal, das vehement eintritt für eine Neuberechung der seit Mitte der 80er Jahre bestehenden Verordnung einer durchschnittlichen Verweildauer von Männern zwischen 16 und 80 nach dem Fluge im Toilettenraum unter Berücksichtigung der 32% Händewäschler, als Spätgenussfolgen des Verzehrs von Spargelspitzen erkannt werden.

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 04/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_2] Helden Brasiliens: Historischer Sieg für die Indiovölker Brasiliens 
Oberstes Gericht gibt grünes Licht für das Reservat "Raposa Serra do Sol"
 
Nach einem mehr als 30 Jahren währenden Kampf haben die Indios im Norden des Bundesstaates Roraima vom Obersten Gericht STF die Bestätigung der Existenz des Reservats "Raposa Serra do Sol" erhalten. Die weißen Reisbauern, die Teile des 1.7 Millionen Hektar großen Gebietes besetzt halten, müssen das Reservat bis zum 30. April verlassen haben. 

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Allerdings hat das STF 19 Sonderklauseln in seine Entscheidung aufgenommen – was den Sieg der Indios ein wenig trübt und auch für zukünftige Entscheidungen richtungweisend sein wird. Die schwerwiegendste dieser Klauseln sieht vor, dass die territorialen Grenzen von Indio-Reservaten nicht nachträglich ausgeweitet werden dürfen. Andere Klauseln beschneiden die Zuständigkeiten der Indianerbehörde FUNAI und der Indios selber in Fragen der Verfügunsgewalt über das Reservat. Demnach darf die Regierung in den Reservaten selbständig Infrastrukturprojekte vorantreiben.

Der Indio-Missionsrat der katholischen Kirche, CIMI, mahnte in einem öffentlichen Brief an, dass die Klauseln "die Ausweitung der Interessen des Privatkapitals" unterstützen. 

Wir haben uns mit Padre Lirio Girardi vom Instituto Missões Consolata getroffen um über die Situation in dem Reservat zu sprechen. Padre Lirio arbeitete insgesamt 27 Jahre lang für die Katholische Kirche im Norden von Roraima.

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Das STF hat entschieden, dass die weißen Nicht-Indios bis Ende April Zeit haben das Reservat zu verlassen. Was halten Sie von dieser Entscheidung?
Padre Lirio Girardi: Ich betrachte diese Entscheidung des Obersten Gerichtes als einen außerordentlichen Sieg, nicht nur für die Völker des Reservats "Raposa Serra do Sol", sondern für alle Völker Roraimas und Brasiliens. Das ist ein historischer Einschnitt was die Verteidigung der Rechte der Kleinen und Armen anbelangt. 

Hierfür waren 35 Jahre Kampf nötig, seit der Identifizierung des Gebietes als Indioland, der Einrichtung und gesetzlichen Absegnung des Reservats, der Unterschrift durch Präsident Lula da Silva am 5. April 2005 und jetzt dieser endgültigen Entscheidung des STF. Ein außergewöhnlicher Sieg. 

Aber das STF hat 19 Sonderklauseln in die Entscheidung aufgenommen... 
Padre Lirio Girardi: ...und einige von denen sind schwerwiegend. Aber die Indios werden dies nicht akzeptieren. Die Mehrheit der Klauseln sind bereits Teil der Verfassung von 1988, und demnach keine Neuigkeit. Aber diejenige Klausel beispielsweise, die die nachträgliche territoriale Ausdehnung des Reservats verbietet, wird von den Indios keinesfalls akzeptiert werden. Jeder weiß, dass viele Indiogebiete in Brasilien überstürzt eingeteilt wurden, teilweise mit Bauernhöfen weißer Bauern mittendrin. Und im Laufe der Zeit ist die Indio-Bevölkerung gewachsen und man weiß nicht mehr wohin mit ihnen. 

Die Indios werden deshalb die Klausel die eine nachträgliche Ausweitung der Reservate untersagt nicht hinnehmen. 

Auf der anderen Seite haben viele gesagt, dass die Entscheidung des STF eine Revolte und Blutvergießen auslösen wird. Nichts davon wird eintreffen. Die Indios kennen ihre Rechte sehr gut, und die Weißen sind sich bewusst, dass sie sich deren Länder widerrechtlich angeeignet haben. Das war schon Indioland als sie vor 10 oder 15 Jahren hier ankamen. Deshalb werden sie das Reservat verlassen, auch weil sie wissen, dass sie anderswo neues Land zugesprochen bekommen werden. 

Während des Kampfes um das Land sind 17 Indios umgekommen, aber kein einziger Weißer. Die Indios haben stets gesagt: wir werden keine Rache nehmen, sondern geduldig sein. Und jetzt ist der Moment gekommen, in dem sie dieses Land selber besetzen werden. 

Welche Indios leben in dem Reservat, und wovon leben sie? 
Padre Lirio Girardi: Im Reservat "Raposa Serra do Sol" leben zwischen 18.000 und 19.000 Indios vom Stamme der Macuxis, Uapixanas, Taurepangues, Maiongons und Ingaricos. Sie leben in mehr als 200 Dörfern von 20 oder 30 bis zu 600 oder 700 Bewohnern. Sie bauen Reis, Bohnen und Maniok an, halten aber auch Vieh. 

Wieso war das Zusammenleben mit den weißen Bauern in de letzten Jahren so schwierig geworden?
Padre Lirio Girardi: Als ob das jemals friedlich abgelaufen wäre. Vorher herrschte eine Friedhofsruhe, gab es Sieger und Besiegte. Die Indios waren abhängig von den Weißen, wie Sklaven. Ich habe Indios gesehen, die mit Eisenketten am Bein festgezurrt waren, Indios die von den weißen Bauern bis zum Hals in die Erde eingebuddelt worden waren, verletzte Indios, geschlagene, gefangen gehaltene... Einige Indios arbeiteten auf den Höfen, aber ihre Arbeit wurde mit Cachaça-Schnapps entlohnt. Die Indios waren stets abhängig, weil sie den Bauern Geld schuldeten für die Nahrungsmittel die diese ihnen gaben.

In welcher Form war denn die Kirche am Kampf der Indios beteiligt? 
Padre Lirio Girardi: Zu Beginn hat sich die Kirche nicht sonderlich um die Indios gekümmert, stand auf Seiten der Bauern und ignorierte die soziale Situation der Indios. Aber seit dem 2. Vatikanische Konzil und den Konferenzen von Medellin und Puebla wechselte die Kirche die Seiten und zog die Option für die Armen, für die Indios. 

Und wie reagierten die Weißen darauf? 
Padre Lirio Girardi: Die Politiker, die Bauern, generell die Leute, die die Macht inne hatten, sagten, dass die Kirche sie verraten habe. Meine Arbeit zum Beispiel bestand hauptsächlich darin, die Indios über ihre fundamentalen Rechte aufzuklären, die sie laut Verfassung von 1988 haben. Und mit die schönste Arbeit der Kirche in Roraima war der Aufbau der indigenen Führer, angefangen mit Basisarbeit in den Dörfern über regionale Räte bis hin zur Schaffung des CIR, des Indio-Rates von Roraima, im Jahre 1987. 

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Die Weißen merkten nicht dass der Wind sich gedreht hatte?
Padre Lirio Girardi: Die Bauern entwickelten die Idee, nach der die Indios als Sklaven geboren seien, denn sie seien nicht nur arm, sondern auch dumm, und deshalb müssten sie aufhören Indios zu sein, Macuxi zu sprechen und stattdessen Portugiesisch lernen. Das Land gehöre nur denen, die auch Vieh haben, dachten die Bauern. 

Und da haben wir angesetzt: lasst uns den Indios Vieh geben. Es war dieses Projekt, dass die Indios letztlich befreit hat, eine substantielle Veränderung. Sogar Papst Johannes Paul II. spendete den Indios 10 Stück Vieh. Heute haben die Indios der „Raposa Serra do Sol“ etwa 35.000 Stück Vieh. Und es war dieses Vieh, das den Indios das Land zurück gebracht hat.

Und die Standhaftigkeit der Indios selbst... 
Padre Lirio Girardi: Wenn ein Volk weiß, was es will und gut ausgebildete Führer hat, wird es stets siegreich sein. 

Text + Fotos + Interview: Thomas Milz

[druckversion ed 04/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





[kol_3] Pancho: Bocadillo con Picknick
 
Der Weg ist der bocadillo. Die Sprechblase. Das Brötchen. Das belegte Brötchen. Die Stulle. Das Butterbrot. Nein! Das ist nicht der Weg. Der Weg ist der bocadillo. Und nur das ist der Weg.

Wer bin ich: señor dik, don röschen, el caiman?
Liebster!
Oh ja, der bin ich am liebsten.
Prinzessin, Traumfrau, Ewigschön: Cava?
Erst der Kuss, dann der Cava. Die Gedanken sind noch jung, der morgen frisch. Belebe!
Stößchen gen Norden. Stößchen gen Süden. Sonnengruß.
Himmel. Was gerät da fix in den Blick?
Ein Montgrí, ein Berg mit einem furchtbar albernen Castell.
Wozu nur hat dieses nie fertig gestellte Ungetüm wieder errichtet werden müssen?
Tourismus?
Möglicher Blödsinn. Als Ruine attraktiver.

Der Weg ist der bocadillo.
Landschaft und Blick. Entschädigung. Rechter Hand das Alt Empordà. Die Iles Medes. Linker Hand das Baix Empordà. Die Pyrenäen schneebedeckt. Der Stolz die Bucht: Roses bis L´Escala. Das unvergleichliche Cap de Creus, eine Landzunge dem Orpheus geweiht.



Picknick, bocadillo?
Picknick!

Wasser/Rotwein.
Gazpacho: 3 Tomaten, 1 Zwiebel, 1 Paprika, halbe Gurke, Salz, Scharf, Olivenöl, Weißbrot, Zitrone/Balsamiko. Oder: 5 Tomaten, halbe Zwiebel, halbe Paprika, ganze Gurke... Egal!
Was zählt ist das Weißbrot. Mindestens ein Brötchen.
Bocadillo de Lomo: Stück Baguette mit Salsa de Calçots, Tomaten, Jalapeños, Lomo bzw. Schnitzel hauchdünn geschnitten, Salz mit Oregano, Fenchel, Thymian.
Gekochtes Ei.
Schoki.

Der Weg ist der bocadillo. Das Ziel ist das Picknick.



Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 04/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: pancho]





[kol_4] Erlesen: Globale Lebensläufe

Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen
Bernd Hausberger (Hg.)
Einen neueren und - angesichts der Millionen von anonymen Menschen, die dazu beitragen, das Rad der Geschichte weiter zu drehen - sehr lobenswerten Ansatz der modernen Geschichtsforschung bietet uns das Buch "Globale Lebensläufe": Mikrohistorie, der Zugang zur Globalgeschichte über die Biographien einzelner Zeitgenossen, die nicht - wie Könige, Heerführer oder Präsidenten - automatisch in vorderster Front des allgemeinen Interesses stehen.

Bernd Hausberger (Hg.)
Globale Lebensläufe.
Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen

Mandelbaum Verlag
Wien 2006
Seiten 292
15,80€

Allerdings dreht es sich bei den ausgewählten Personen nicht um Menschen, die ihr Leben an nur einem Ort verbracht haben, sondern um umtriebige Zeitgenossen, deren Biographien von grenzüberschreitender Mobilität geprägt sind und deshalb auch viele Spuren in historischen Dokumenten o.ä. hinterlassen haben. Interessant ist, dass die meisten von ihnen nach einem "globalisierten" Leben zu den Orten ihrer Wurzeln zurückkehrten, da - wie Herausgeber Bernd Hausberger in seinem einführenden Beitrag schreibt - die interkulturelle Flexibilität den Menschen viel abverlangt und die Menschen diese nur mit Mühe auf Dauer bewältigen wollen oder können.

Die Biographie, eine von elf in diesem Buch ausgewählten Biographien, des weit gereisten Leo Africanus, einem in Andalusien geborenen und von dort vertriebenen Araber, gewährt uns Einblicke in die Mittelmeerwelt des 15. Jahrhunderts, während Eusebio Francisco Kino, Mitglied einer der ersten global agierenden Organisationen, den Jesuiten, uns nach Mexiko mitnimmt. Spannend ist dabei, wie dieser doch relativ "normale" padre posthum zum "Helden" der Erschließung Nordmexikos bzw. Kaliforniens geworden ist und zu einem der Gründerväter der USA verklärt wurde und wie ein "transnationaler" Jesuit von verschiedenen Nationen als der Ihrige vereinnahmt wird. Autor Bernd Hausberger setzt ihn schließlich am Ende seines Essays in Bezug zu den Managern des 21. Jahrhunderts, ein interessanter Vergleich.

Der Venezolaner Francisco de Miranda - Heerführer und kurzzeitiger Diktator und damit eine Ausnahme im Reigen der aufgeführten Persönlichkeiten -, ist wegen seiner langen Aufenthalte in Europa, die auch sein Denken und Handeln während der Befreiungskriege in der Heimat beeinflussten, eine exemplarische Gestalt für das Scheitern idealistischer (europäischer) Ideen an der Kleingeistigkeit lateinamerikanischer Eliten.

Skandalumwittert und schillernd war das Leben von Elisa Alicia Lynch, einer zum Teil in Paris aufgewachsenen Irin, die zur paraguayischen Präsidentengattin empor stieg und das Leben der städtischen Eliten im 19. Jahrhundert kräftig durcheinander wirbelte.

Dass es sich nicht immer um "große" Politik drehen muss, um eine Biographie für Historiker interessant zu machen, zeigt auch das Beispiel der Kubanerin Cuchito Castro Zaldarriaga, die mit ihrer Frauenband Anacaona die Welt bereiste.

Der kommunistische Publizist Leo Katz aus Wien schließlich verbrachte auf der Flucht vor den Nazis viele Jahre in Mexiko-City und gab dort seinen ersten Roman heraus.

Ein gleichzeitig lehrreiches, kurzweiliges und spannendes Buch, das hoffentlich viele Leser jenseits der Historikerriege finden wird.

Jens Kastner / David Mayer (Hg.)
Weltwende 1968? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive
In der gleichen Reihe - "Globalgeschichte und Entwicklungspolitik" - ist übrigens auch ein Buch über das Jahr "1968" erschienen, das sich nicht, wie sonst üblich, nur auf Europa und die USA bezieht. David Mayers Artikel über Lateinamerika räumt den Auswirkungen der kubanischen Revolution in Lateinamerika viel Platz ein und beschäftigt sich (leider) nur mit zwei weiteren Ländern des Kontinents, Chile und Mexiko, wo bekanntlich die 68er-Proteste mit dem Massaker an Studenten auf dem Tlatelolco-Platz besonders schreckliche Folgen hatten.

Jens Kastner / David Mayer (Hg.)
Weltwende 1968?
Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive

Mandelbaum Verlag
Wien 2008
Seiten 208
17,80€

Martina Kaller-Dietrich behandelt die lateinamerikanische Bischofskonferenz in Medellín, 1968, und ihre Impulse für die "Theologie der Befreiung", während Reiner Tosstorff sich mit dem Widererstarken der Protestbewegung unter Franco beschäftigt.

Auch dieser Band liest sich mit Lust und ragt insofern aus den üblichen Historiker-Bleiwüsten heraus.

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon

[druckversion ed 04/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





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