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[art_2] Brasilien: Nur nicht aufgeben
Kampf der Mütter der "Praça da Sé" um ihre verschwundenen Kinder
 
"Ich habe keine Ahnung, was mit meiner Tochter passiert ist. Sie verschwand 120 Meter von meinem Haus entfernt." Seit mehr als 13 Jahren sucht Ivanise Espiridião da Silva nun schon nach ihrer Tochter Fabiana. Ohne Erfolg. "Im Laufe dieser Jahre habe ich nach einer Antwort gesucht. Aber ich finde einfach keine."



26 Jahre alt ist – oder wäre - ihre Tochter jetzt. "Nicht einen Tag waren wir davor voneinander getrennt. Und jetzt hat sie schon ihr halbes Leben ohne mich leben müssen." Ivanise hat sogar in einer Telenovela mitgespielt, um die Öffentlichkeit auf ihr Problem aufmerksam zu machen.

Danach beschloss sie, in São Paulo eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Seit März 1996 steht sie jeden Sonntag mit Leidensgenossinnen auf den Stufen der Kathedrale "Sé", dem Bischofssitz São Paulos, Schilder mit den Bildern der verschwundenen Kinder vor der Brust. "Mães da Sé", die "Mütter der Se", werden sie deshalb vom Volksmund genannt.

200.000 Menschen verschwinden jedes Jahr in Brasilien, darunter 40.000 Kinder. Die Aufklärungsquote der Behörden liege bei 85%, meist "leichte" Fälle in denen die Kinder von daheim weglaufen. Doch jedes siebte Kind bleibt verschwunden, und 6.000 Familien erhalten keine Antwort auf die Frage nach ihrem Verbleib.

Zu verschwinden sei in Brasilien ein soziales Problem, sagt Ivanise. Die meisten Fälle sind in den untersten Schichten der Gesellschaft anzutreffen. Mord, Pädophilie, Kinderprostitution, Organhandel – an grauenhaften Hintergründen mangelt es nicht. "Mit welchem Recht nehmen uns diese Menschen unsere Kinder weg?"


Auch Francisca Ribeiro Santos sucht seit 17 Monaten verzweifelt nach ihrem Sohn Hugo, ihrem einzigen Kind. Am Gartentor habe der damals 10-jährige darauf gewartet, dass sie von der Arbeit heim komme. "Meine Schwägerin rief ihn rein, doch er wollte warten. Als ich nach Hause kam, war er nicht mehr da."

Francisca hing Fotos von Hugo in der Nachbarschaft auf, in den Krankenhäusern und auf öffentlichen Plätzen, stellte sein Bild ins Internet. "Bis heute suche ich ihn an allen möglichen und unmöglichen Orten, suche nach einer Spur von ihm. Aber da ist einfach nichts." Der Vater, von dem sie geschieden ist, habe am Anfang bei der Suche geholfen. Und rasch aufgegeben.

"Der Schmerz ist letztlich nur unser eigener, und irgendwann ist man als Mutter mit ihm alleine." Francisca schloss sich den "Mães da Sé" an. An die Hand genommen habe sie Ivanise, zu einem Psychiater gebracht, der ihr hilft den Schmerz zu ertragen. Auch Rechtsbeistand und Hilfe bei Behördengängen bietet die Selbsthilfegruppe den Müttern. Trotz ihres eigenen Schmerzes würde Ivanise es niemals versäumen, den Anderen Trost zu spenden.

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Die Behörden schenkten diesen Fällen nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienen, klagt Ivanise. Und fordert die Einrichtung einer zentralen Registrierungsstelle der Verschwundenen. "Wir leben in einem Land, in dem ein geklautes Auto sofort in eine nationale Datenbank aufgenommen wird. Für Menschen gibt es so etwas jedoch nicht."

Fünf Mütter hat die "Mães da Sé" seit ihrer Gründung bereits verloren, gestorben am Schmerz. Auch Ivanise ist schwer krank, durchlebt Phasen tiefster Depression, leidet unter Bluthochdruck und hat zwei Herzinfarkte erlitten. "Das bringt Dich Stück für Stück um." Ihre große Stütze ist ihre zweite Tochter. Der Ehemann ist vor den Problemen davongelaufen. "Männer haben nicht die psychischen Strukturen, um das auszuhalten."

Ivanise und Francisca haben die Hoffnung nicht aufgegeben, ihre Kinder eines Tages doch noch zu finden. "Gott darf mich nicht ohne eine Antwort sterben lassen. Aber mein Herz, das Herz einer Mutter, sagt mir, dass meine Tochter noch lebt", sagt Ivanise. "Ich ziehe es vor, zu glauben, dass die Intuition einer Mutter nicht falsch sein kann. Und dass Gott mich auf den Tag vorbereitet, an dem ich sie wieder sehen werde."

Text + Fotos: Thomas Milz


Bildergalerie

Falls Sie eine der verschwundenen Personen erkennen, wenden Sie sich bitte an den caiman oder direkt an die "Mães da Sé": maesdase@globo.com oder 0055-11-3337 3331

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