ed 04/2009 : caiman.de

kultur- und reisemagazin für lateinamerika, spanien, portugal : [aktuelle ausgabe] / [startseite] / [forum] / [archiv]


[kol_1] Grenzfall: Grüner Spargel und Billigflieger-Spartrips
 
Der Gang, der dem ungemeinen Druck auf der Blase Erleichterung verschafft, stellt in meinem Fliegeralltag schon fast ein festes Ankunftsritual dar. In Anbetracht des Andrangs auf den Toiletten in der Gepäckbänderhalle könnte man durchaus von einem Ritual der Massen sprechen. Woran das genau liegt, interessiert mich momentan wenig, weil ich damit beschäftigt bin, mich durch Jacken und von meiner Hüfte baumelnde Pullover- und Longshirtarme sowie in die Hose gezwängten Unterhemden und gleichnamigen Hosen zu kämpfen, um endlich – erster Angstschweiß tropft – zu notdürftilieren. Meinen Nachbarn geht es ähnlich und dann stöhnt der Leidensgenosse, der sich am Pissoir neben den Waschbecken positioniert hat: Seit Ryanair mehr Geld für die Aufgabe eines Gepäckstücks verlangt als für den eigentlichen Flug, mach ich mich nach jeder Ankunft beinahe nass, weil ich eine Ewigkeit brauche, bis ich mich soweit als nötig entkleidet habe. Aber bei 50 Euro für einen 15-Kilo-Koffer lohnt es sich, die gesamte Kleidung am Körper statt im Koffer zu tragen.



[Wilder Spargel, Cap de Creus]

Es ist Ende März, ich komme aus Spanien und bin braun wie Hulle aufgrund ausgiebiger Spaziergänge und drei Wochen lang Mittagsmenues Dinieren im Sonnenschein. Booooh der Idiot schon wieder im Urlaub und jetzt am Prahlen, ertönen bald die Klagen, so ein Leben will ich auch

Ihr Jecken, erwidere ich, alles zwangsbedingt, mich hat die Krise erwischt, Kurzarbeit im Ein-Mann-Betrieb. Und bevor mich Auftraggeber mit Hinhalteaktionen oder Arbeitsbeschäftigungsmaßnahmen triezen, Abflug und die Betriebszeit von UMTS-Stick, Laptop und Handy auf vier Stunden pro Tag konfiguriert. 

Au ja! Eine meiner Lieblingswanderungen führt in das schöne Cadaques auf der Cap de Creus. Ein wenig bergan durch Lavendel, ein wenig bergab durch Rosmarin. Dort, wo sich Lavendel und Rosmarin begegnen, treffen wir einen Katalanen und bitten um Beistand durch Rat, denn seit Tagen sehen wir Leute am Straßenrand grüne Stängel pflücken, die grünem Spargel verblüffend ähneln.
Nein, weder ist das was ihr in der Hand haltet Spargel noch dieser Busch eine Spargelpflanze. Die Spargelpflanze ist ein niederes, stachliges Gestrüpp. Wartet ich zeig euch eins. Dieses hier! Und Moment, ah da ist er, der Spross bzw. der Spargel. Sehr schmackhaft. Pflückt nur die jungen Triebe. Diese weisen an ihren Stängeln noch keine weiteren Triebe auf. Hier probiert!
Roh?
Ja, natürlich. Man kann den Spargel roh essen. Sie geben dem Salat einen exquisiten Geschmack.
 

[Blühender Rosmarin, Cap de Creus]

Die Skepsis weicht schnell ob des Spargels eigentümlichen Geschmacks, der sich mit unendlicher Frühlingsfrische und einer leichten Bitternote unsere kulinarischen Herzen sticht. Ernten und Verzehren könnte als ein Vorgang durchgehen und so kommt das wilde Spargeln in Direktverzehrhinsicht dem Erdbeerfeldplündern näher als dem heimischen Spargelstechen.

Die Ärmel unters Kinn geklemmt, die drei Jacken mit angewinkelten Ellenbogen fixiert, weitere durch fuchsige Billigflieger-Spartrips bedingte Michelin-Dresscode-Anwandlungen mit Ring- und Kleinem Finger auf Distanz gehalten, plätschert es los und Hitzewallungen visualisieren Rauchzeichen, die vom reinigenden Personal, das vehement eintritt für eine Neuberechung der seit Mitte der 80er Jahre bestehenden Verordnung einer durchschnittlichen Verweildauer von Männern zwischen 16 und 80 nach dem Fluge im Toilettenraum unter Berücksichtigung der 32% Händewäschler, als Spätgenussfolgen des Verzehrs von Spargelspitzen erkannt werden.

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 04/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]


© caiman.de: [impressum] / [disclaimer] / [datenschutz] / [kontakt]