ed 04/2008 : caiman.de

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brasilien: Verloren im Paradies
Stefan Zweig in Petrópolis
THOMAS MILZ
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


spanien: Madonnenbildchen über Madonnenbildchen in Sevilla
Nicht ganz ernst gemeinte Chronik der Semana Santa 2008
BERTHOLD VOLBERG
[art. 2]
brasilien: ...und der Bossa Nova
Interview mit Paulo Dáfilin
THOMAS MILZ
[art. 3]
bolivien: Von Flussdelfinen und schwimmenden Bussen (Teil 2)
LENNART PYRITZ
[art. 4]
grenzfall: Argentiniens Steaknotstand
ANDREAS DAUERER
[kol. 1]
hopfiges: Venezuela muss Ice und Light
Bierpuncherei als Kulturverfall
DIRK KLAIBER
[kol. 2]
helden brasiliens: Wenn Marketing über Eitelkeit siegt
VAGNER ANTONIO / THOMAS MILZ
[kol. 3]
lauschrausch: Mariachi vs. Spielzeugklavier
TORSTEN EßER
[kol. 4]




[art_1] Brasilien: Verloren im Paradies
Stefan Zweig in Petrópolis

"Spürst Du die feuchte  Kälte des Bodens? Und das, obwohl wir jetzt in der Trockenzeit sind!" Alberto Dines geht die Stufen zur verglasten Eingangsveranda des Hauses hoch. Er schaut auf die mit dem dichten grünen Urwald der Mata Atlântica bewachsenen Hügel über Petrópolis. "Genau hier ziehen die vom Meer kommenden Nebelwände hinauf. Das Klima kann furchtbar sein."



Petrópolis ist nicht gerade das, was man eine aufregende Stadt nennen würde. Aber solange die Sonne scheint, kann man es sich in den zahlreichen Parks der ehemaligen Sommerresidenz des brasilianischen Imperador gut gehen lassen. Die Stadt hat wie kaum eine andere in Brasilien europäisches Flair, mit altehrwürdigen Prachtvillen und Alleen gleichenden Straßen. Doch sobald die Sonne unter geht, fällt die Stadt in einen tiefen Schlaf.

Im August 1936 schifft sich Stefan Zweig auf dem Ozeanliner Alcântara ein. Er ist auf dem Weg zum Treffen des PEN-Clubs in Buenos Aires und auf dem Höhepunkt seines literarischen Ruhmes. Doch trübe Vorahnungen erfüllen ihn. "Ich bin glücklich, die Ungewissheit, Unruhe und Unsicherheit in Europa verlassen zu haben", sagt er später einem brasilianischen Reporter.

Am 21. August 1936 erreicht Zweig Rio de Janeiro, die Zwischenstation auf seiner Reise nach Argentinien. Er ist überwältigt von der traumhaften Einfahrt in die Guanabarabucht. Und an den Kais der Stadt erwartet ihn bereits das offizielle Brasilien. Man feiert ihn, seine Bücher verkaufen sich sensationell gut. Man reicht ihn weiter von einem Empfang zum nächsten. Mit solch begeisterter Aufnahme hatte er nicht gerechnet.

Und er lässt sich von der Freundlichkeit des Vargas-Regimes blenden. Denn nicht nur in Europa ziehen autoritär-totalitäre Zeiten auf. Auch Brasilien nähert sich diesen mit Riesenschritten, allerdings mit seinem ihm eigenen Hang zur tropischen Inkonsequenz. So schlimm wie in vielen Ländern Europas wird es im Estado Novo von Getulio Vargas nicht werden. Doch auch hier sollen in naher Zukunft die Freiheitsrechte des einzelnen Bürgers mit Füssen getreten werden. Und die kleine jüdische Gemeinde in Brasilien leidet schon jetzt unter der Diskriminierung durch die Regierung.

Doch dies erkennt der Jude Zweig inmitten des Jubels und Trubels um seine Person nicht. Stattdessen unternimmt er einen Tagesausflug in das gut 70 Kilometer oberhalb von Rio gelegene Petrópolis und ist tief beeindruckt von der durch den Habsburger-Abkömmling Dom Pedro II. gegründeten Stadt. Ein Miniatur-Wien inmitten der Tropen. Vielleicht fühlt er sich ein wenig in sein geliebtes Wien der Jugendzeit zurück versetzt. Das Wien der K-und-K-Monarchie, die Weltmetropole der Vorkriegszeit, der er sehnsüchtig nachhängt und die ihm für immer verloren scheint.

Nach zwei Wochen in Brasilien reist Zweig weiter nach Buenos Aires. Während des PEN-Kongresses versucht er zwischen den radikalen linken Schriftstellern und den Pazifisten, denen er angehört, zu vermitteln. Umsonst. Ernüchtert verlässt er Argentinien. Auf der Rückfahrt nach England besucht er Ende September noch kurz Recife. Dann geht es zurück ins selbst gewählte englische Exil, wo er drei Jahre später den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges miterleben muss. 

"Das zweite Stockwerk gab es zu Zweigs Zeiten noch nicht und die Verglasung der Eingangsveranda auch nicht." Alberto Dines inspiziert das kleine weiß gestrichene Haus. Von der Veranda kommt man in ein etwa 25 Quadratmeter großes Hauptzimmer.

Nach links geht es zu zwei kleinen Räumen mit angeschlossenem Badezimmer. Nach rechts kommt man in die kleine Küche. Alles ist äußerst schlicht und eng. Nichts erinnert daran, dass hier einst ein wohlhabender Schriftsteller, einer der ganz großen der Weltliteratur, gelebt hat. "Wir werden den zweiten Stock abreißen. Alles soll wieder so werden, wie es ursprünglich war." Noch ist Dines auf der Suche nach den Originalbauplänen des Hauses. Auf deren Grundlage wird beschlossen, was abgerissen und was stehen bleiben soll. Dass die Betongarage vor dem Haus weg muss, steht aber bereits fest.

Auf den Tag genau vier Jahre nach seiner ersten Ankunft in Rio erreichen Zweig und seine zweite Ehefrau Lotte an Bord der Argentina die Stadt am Zuckerhut. Diesmal haftet seinem Wunsch, zurück zu kehren in das Land mit den "riesigen Schmetterlingen", etwas von Flucht an. Vielleicht denkt er sich, dass er hier, 10.000 Kilometer entfernt von den Schrecken des Krieges und der Verfolgung in Europa, Sicherheit findet. In Brasilien hat Vargas mittlerweile den autoritären Estado Novo installiert und nicht wenige Mitglieder der Führungsriege befürworten eine Allianz mit den in Europa bisher so siegreichen Nazis.

Doch Zweig hat kein Interesse, zu sehr an der freundlichen Oberfläche seiner neuen Heimat zu kratzen. Vielleicht hätte es seine vom Untergang Europas gepeinigte Seele nicht ertragen können, erneut eine neue Hoffnung sterben zu sehen.

So ist er Brasilien wohl geneigt, jenem Land, das ihm ohne Probleme Aufenthaltspapiere ausstellt, während gleichzeitig tausenden anderen europäischen Flüchtlingen die Einreise verwehrt wird.

Zu Beginn des Jahres 1941 bereisen Zweig und Lotte in acht Tagen eilig den Norden und Nordosten Brasiliens. Dann geht es weiter in die USA. Dort stellt er sein Buches "Brasilien - ein Land der Zukunft" fertig. Obwohl er bisher nur wenige Wochen in Brasilien verweilte, fühlt er sich berufen, eine Lobeshymne auf das tropische Land zu schreiben - wohl mehr Wunschdenken als Realitätsbeschreibung. Ursprünglich gab Zweig dem Buch den Titel "Brasilien - Ein Land der Zukunft", doch sein cleverer brasilianischer Herausgeber Abrahão Koogan nimmt den Artikel aus der Überschrift. Jetzt heißt das Buch "Brasilien - Land der Zukunft", was dem Land den Stempel der Einzigartigkeit gibt.

In den USA wird Zweig nicht glücklich. In sieben Monaten zieht er fünfmal um. Er wirkt rastlos und melancholisch zugleich. Er kehrt zurück nach Brasilien. Doch mittlerweile hat sich dort die kritiklose Begeisterung für den Schriftsteller gewandelt. Teile der Presse machen sich über ihn lustig oder greifen ihn sogar direkt an. Viele sehen "Brasilien - Land der Zukunft" als regierungshöriges Werk an, mit dem sich Zweig für seine Aufenthaltspapiere bedankt habe.  

Im September 1941 zieht er mit Lotte in das kleine Häuschen in Petrópolis. Die Straße ist nach dem brasilianischen Dichter Gonçalves Dias benannt, dessen bekanntestes Werk der "canção do exílio" ist, der "Exilgesang": "Minha terra tem palmeiras, onde canta a sabiá...".

Hier verfasst Zweig eines seiner bedeutendsten Werke: Die Schachnovelle. Für ihn selber war das kleine Buch nichts weiter als eine Erzählung für Schachliebhaber, wie er einem Freund schreibt.

"Wir wollen den Platz auf der anderen Straßenseite in einen kleinen Park verwandeln", sagt Alberto Dines. Noch dient er als Sammelstelle für recyclebare Abfälle. Doch in Zukunft sollen hier die Besucher ankommen, wenn das kleine Haus in der Rua Gonçalves Dias einmal umgebaut ist.


Seit Jahren kämpft Dines dafür, mit der "Casa Stefan Zweig" eine Art Museum und Gedenkstätte für die vor den Nazis geflohenen europäischen Immigranten zu schaffen. Mitten auf dem Platz steht ein kleiner aus Beton gegossener Tisch, in dessen Oberfläche ein Schachbrett eingefasst ist.

Zu Beginn des Jahres 1942 arbeitet Zweig an mehreren Manuskripten. Doch er fühlt sich zunehmend einsam in Petrópolis, tausende Kilometer entfernt von seinen europäischen Freunden und eine Halbtagesreise weit weg von den wenigen Bekannten in Rio de Janeiro. Ihm fehlen der intellektuelle Austausch, eine gut ausgestattete Bibliothek und die Nähe zu seinem Publikum. Er ist gefangen, kann nicht mehr, so wie in den zurückliegenden zehn Jahren, von Ort zu Ort fliehen. Und Lotte leidet in dem feuchten Klima in Petrópolis unter ihrem Asthma.

Am 16. Februar 1942 liest Zweig erschüttert über die Versenkung des brasilianischen Handelsschiffes Buarque durch ein deutsches U-Boot. Zum ersten Mal ist es zu kriegerischen Handlungen zwischen den beiden Nationen gekommen. Der Krieg hat ihn in seinem fernen Paradies eingeholt. Es ist Aschermittwoch. Der Carnaval ist endgültig vorbei. Drei Tage später wird ein weiters brasilianisches Schiff, die Olinda, von den Deutschen vor der Küste der USA versenkt. "Ich bin am Ende. Jetzt kann der kleinste Tropfen das Fass zum Überlaufen bringen", hat Zweig in diesen letzten Tagen einem Freund anvertraut. 

Gegen 16 Uhr des 23. Februar finden die Hausangestellten die Leichen von Stefan Zeig und seiner Ehefrau Lotte im Schlafzimmer des Paares. Zweig liegt auf dem Rücken, seine Hände sind auf seiner Brust gefaltet. Lotte hat sich an seine linke Schulter angelehnt. Ihre linke Hand umfasst seine rechte. Die Untersuchungen ergeben, dass Zweig das Gift zuerst genommen hat. Lotte hat wahrscheinlich gewartet, bis sie sicher sein konnte, dass ihr Gatte tot war und sich dann selber vergiftet. Zweig hat genau 315 Tage seines Lebens in Brasilien verbracht.

In seinem Abschiedsbrief, den Zweig mit dem portugiesischen Wort "Declaração" überschrieben hat, verabschiedet er sich von dieser ihm keine Heimat mehr bietenden Welt:

"Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus."

Text + Fotos : Thomas Milz

Mit besonderem Dank an Alberto Dines, der eine vorzügliche Biografie über Stefan Zweig vorgelegt hat.

Tod im Paradies. Die Tragödie des Stefan Zweig
Gebundene Ausgabe: 724 Seiten
Verlag: Edition Büchergilde; Auflage: 1 (1. September 2006)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3936428646
ISBN-13: 978-3936428643

Die Casa Stefan Zweig in Petrópolis: www.casastefanzweig.org.br
In unserer nächsten Ausgabe finden Sie an dieser Stelle ein Interview mit Alberto Dines!


[druckversion ed 04/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_2] Spanien: Madonnenbildchen über Madonnenbildchen in Sevilla
Nicht ganz ernst gemeinte Chronik der Semana Santa 2008

Sevilla, Palmsonntag, 16. März 2008 um 19.00 Uhr abends
Wir befinden uns an den römischen Säulen der Alameda de Hércules, dem vereinbarten Treffpunkt am ersten Abend der Semana Santa. Unsere Gruppe von eingeschworenen Semana Santa Fans ist inzwischen ein seit mehr als drei Jahren eingespieltes Team und besteht aus: meiner Sevillaner Freundin Carmen und ihrem Mann Manolo, Teresa und Regina, ebenfalls Sevillanerinnen, der Französin Antoinette, die seit Jahren in Sevilla lebt, der 17-jährigen Cayetana aus Cádiz sowie zwei Pilgern aus Madrid (Isidoro und Marina) und mir.

Während wir in der Straße Conde de Torrejón auf die Prozession der weiß gekleideten Nazarenos der Bruderschaft Amargura warten, werden wie jedes Jahr die verschiedenen Wetterprognosen diskutiert.
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Für den heutigen Sonntag wurde die Regenwahrscheinlichkeit mit beruhigenden 0% angegeben und auch für den Rest der Woche sieht es gut aus. "Nur um den Dienstag müssen wir uns vielleicht Sorgen machen", meint Carmen, "denn die Prognose verheißt 50 zu 50."

Heute ist das Wetter ideal, die Temperaturen liegen sogar leicht über 20° C und eine leichte Brise begleitet die Dämmerung. Als die unheimlichen Büßer der Amargura mit dem Malteserkreuz auf weißem Gewand heran schreiten, ist es bereits völlig dunkel. Ein kleines Mädchen blickt neugierig an den vermummten Kapuzenmännern empor und plötzlich zupft es einen der Nazarenos am Gewand. "Du, Nazareno, gib mir Bonbons!" Der Angesprochene reagiert nicht. Die Amargura ist eine ernste Bruderschaft, daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand Bonbons für Kinder dabei hat, hier nicht so hoch wie bei den populären Prozessionen. Doch die Kleine gibt nicht auf. "Hast Du keine Bonbons, dann bist Du ein böser Nazareno!" Und sie zerrt und reißt am weißen Gewand des Nazarenos, der dies mit stoischer Ruhe erträgt - wie ihre Eltern, die sich nicht die geringste Mühe machen, dem ungezogenen Treiben ihrer Tochter Einhalt zu gebieten. Da greift der geplagte Nazareno in seine Tasche und überreicht dem verdutzten Kind - nein, keine profane Süßigkeit, sondern ein Bildchen der Amargura-Madonna. Einen Moment ist die Kleine überrascht und unentschlossen, doch dann strahlt sie und zeigt ihre Eroberung den Eltern, die ihre Hartnäckigkeit loben.

Kurz vor 2.00 Uhr nachts auf der Brücke nach Triana. Trotz der inzwischen lästigen Kälte ist die alte Brücke völlig überfüllt, denn mehr als tausend Zuschauer wollen hier die populäre Jungfrau des Sterns sehen, neben der Amargura die andere Protagonistin dieses Tages. Romantische Bilder wohin man blickt: Liebespaare knutschen im Licht des Vollmonds, gelehnt an das Geländer der Brücke und mit Blick auf die Giralda. Auch Isidoro und Marina liegen sich in den Armen während die blauweißen Nazarenos von La Estrella vorbei ziehen.

Plötzlich blickt sie zum Himmel und bemerkt: "Der Mond ist noch gar nicht richtig voll, aber das wird schon noch bis Karfreitag..."
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Jetzt bekommt das Mondlicht Konkurrenz, denn wie eine riesige Fackel nähert sich der Paso mit der Kerzenpyramide der Estrella-Madonna. Als der blaugolden glitzernde Paso zum Stehen kommt, versuchen alle, den leuchtenden Baldachin zusammen mit dem fast runden und strahlenden Mond zu fotografieren - ein doppeltes Himmelslicht.

Heiliger Montag, 17. März 2008
"Na ja, sehr umweltbewusst scheint unsere Semana Santa ja nicht zu sein... vielleicht solltet ihr uns ein paar Berater aus Deutschland schicken", kommentiert Manolo, von seiner Zeitungslektüre aufblickend die Meldung, dass am gestrigen Palmsonntag nach den Prozessionen mehr als 93 Tonnen Müll in Sevilla gesammelt wurden - 40% mehr als im Vorjahr. Aber diese Nachricht soll unsere Festtagslaune nicht trüben. Wir beginnen den Tag genau da, wo wir ihn gestern beendet haben. Unter ein paar Orangenbäumen stehen wir seit 16.00 Uhr neben dem Portal der Estrella-Kapelle in Triana und warten auf die Pasos der langen Prozession von San Gonzalo. Dieser Platz hier ist sehr begehrt, weil die Träger von San Gonzalo, berühmt in ganz Sevilla für ihr Können, mit dem tonnenschweren Paso wahre Kunststücke zu vollführen, um nach traditionellem Ritual die Sternenmadonna zu begrüßen.

Die Kapelle hat die Pforten bereits geöffnet und der Großmeister der Estrella-Bruderschaft steht mit einer Standarte bereit, um den rituellen Gruß entgegen zu nehmen. Endlich erscheint der prachtvolle Paso von San Gonzalo mit dem beeindruckenden "Duell" zwischen Christus und dem hässlichen Hohepriester Kaiphas.
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Das Warten hat sich gelohnt, denn die Träger bewegen die riesige Altarbühne mit spektakulären Tanzschritten auf das Portal der Kapelle zu, tragen ihn halb hinein und wieder heraus. Schließlich geht die vordere Abteilung der hinter Samtvorhängen unsichtbaren Träger in die Knie, denn der Paso neigt sich, als ob er sich vor der in der Kapelle thronenden Madonna verbeugen wolle. Der Marsch verstummt und die Träger haben eine wohlverdiente Pause. Nach den drei üblichen Hammerschlägen ertönt das Kommando des Capataz, der die Trägermannschaft anführt: "Kommt, meine mutigen Jungs, lasst uns dafür sorgen, dass unser Christus von San Gonzalo der Jungfrau des Sterns ein Küsschen geben kann!" Schon hebt sich der Paso mit einem Ruck empor und wird nochmals halb in die Kapelle hinein getragen, bevor er in einem akrobatischen Manöver unter tosendem Applaus gewendet wird und sich Richtung Brücke entfernt. Antoinette blickt mich an, immer noch begeistert vom Spektakel, aber auch verunsichert fragt sie: "War das Kommando des Capataz kitschig oder romantisch?" "Theologisch problematisch, aber auf jeden Fall romantisch", antworte ich entschieden.

Gegen Ende eines langen Tages stehen wir um halb zwei nachts bei der Kirche San Vicente und betrachten den mit herum purzelnden Englein dekorierten Paso des "Christus der Schmerzen", bevor er in die Kirche zurück getragen wird.
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Isidoro und Marina sind zutiefst beeindruckt von der ergreifenden Christusstatue des Barockmeisters Pedro Roldán und müssen mit den Tränen kämpfen, als in diesem Moment der Klagegesang einer Saeta in den Nachthimmel geschleudert wird. Nachdem der Paso im dunklen Kirchenportal verschwunden ist, fragt mich Marina, ob die Madonna dieser Bruderschaft auch so schön sei. "Also der Palio ist sehr prächtig", meine ich, "die Jungfrau selbst - na ja - man müsste schon lügen, wenn man sie hübsch nennt, denn ihr Gesicht ist etwas ... füllig". "Was sagst Du da, wie kannst Du es wagen?!", fährt mich von der Seite ein Anhänger der Bruderschaft an, "natürlich ist sie HÜBSCH!"

Teresa zieht mich am Arm und mahnt: "Komm, wir gehen jetzt lieber... ich habe Dir doch gesagt, Du sollst mit solchen Äußerungen vorsichtiger sein - auch wenn Du noch so recht hast." Auf dem Rückweg schauen wir uns, durchfroren und übermüdet, noch die Prozession von El Museo an und seitdem ist Cayetana nicht mehr ansprechbar. Sie hat sich verliebt: in einen Klarinette spielenden, braun gebrannten Boygroup-Beau mit Irokesenfrisur, der in der Musikkapelle hinter der Madonna marschiert ist und ihr zugezwinkert hat.

Heiliger Dienstag, 18. März 2008
Nein, es regnet nicht, aber es ist richtig kalt geworden. Und für den morgigen Mittwoch haben die Wetterprognosen die Regenwahrscheinlichkeit auf ungemütliche 65 - 75% angehoben.

Es ist 18.00 und wir haben unsere Klappstühle an der strategisch günstigen Straßenecke Castelar/Gamazo aufgestellt.
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Gegenüber sitzt vor dem Büro des Fanclubs von Betis Sevilla (abstiegsbedrohter Fußballverein Sevillas) eine Gruppe von Jugendlichen und diskutiert lauthals die Schiedsrichterentscheidungen des letzten Wochenendes, obwohl schon die ersten schwarz vermummten Nazarenos der Studenten-Bruderschaft schweigend vorbei defilieren.

Als sich der Paso mit dem "Christus des Guten Todes" nähert, versuchen doch tatsächlich zwei extrem konservativ und spießig gekleidete Männer, ihre Klappstühle noch direkt vor unseren (wir sitzen natürlich in der ersten Reihe) aufzustellen. Während Teresa demonstrativ ein Stück nach vorn rutscht, spricht Regina feierlich nur ein kleines Wort ("No!"); und sie spricht es mit einer so majestätischen Unerbittlichkeit, dass die beiden Opus Dei Anhänger gar nicht erst den Versuch einer Diskussion unternehmen und ihr Glück an anderer Stelle versuchen müssen. Reginas Abwehraktion wirkte ähnlich gebieterisch wie die schweigenden Gesten des Nazarenos der Studenten, der jetzt die Doppelreihe der vorrückenden Büßer zum Innehalten mahnt. Nachdem wir die beiden kunstvollen Pasos der Estudiantes gesehen und uns an einer ergreifend vorgetragenen Saeta erfreut haben, steht als nächstes Santa Cruz auf dem Programm.

Um die Burgmauern des Alcázar weht ein eisiger Wind, der fast alle Kerzen der vorbei schreitenden Nazarenos der Bruderschaft Santa Cruz ausgeblasen hat.

Der goldene Paso vor der tausendjährigen Mauer, über deren Zinnen der Vollmond steht, bietet ein grandioses Bild. Wenn es nur nicht so kalt wäre! Ich höre, wie eine Sevillanerin hinter mir kommentiert: "Die einzigen, denen die Kälte nichts ausmacht, werden die deutschen Touristen sein." Ich beschließe, sie in dem Glauben zu lassen.

Es ist kurz vor 21.00 als der goldstrahlende Paso des "Christus des Erbarmens" aus der engen Gasse Alcazaba kommend in den Platz des Triumphes einbiegt und vor der Burgmauer angehalten wird.
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Heiliger Mittwoch, 19. März 2008
Wir sitzen in Triana in einer Bar mit dem zünftigen Namen "El Toro" beim Frühstück. Isidor und Marina beginnen den Tag herzhaft mit in Olivenöl getränktem Chorizo-Baguette, während Teresa, Regina und ich lieber süß mit den traditionellen Torrijas (mit Wein und Honigsirup gebratenes Weißbrot) starten. Erschreckt blicken wir vom Studium unserer Semana Santa Programme auf, als Teresa mit Grabesstimme verkündet: "Es hat angefangen zu regnen." Zuerst weigern wir uns, das Unvermeidliche zu akzeptieren.

Doch da es in Strömen gießt und im Radio eine Prozession nach der anderen abgesagt wird, kaufen wir Regenschirme für drei Euro beim Chinesen und beschließen, uns mit dem Besuch der El Greco Ausstellung im Museum von Sevilla zu trösten.
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Als wir am Nachmittag bei strömendem Regen die traurigen Zuschauertribünen auf dem Campana-Platz durchqueren, kommentiert Regina mit dramatischem Pathos: "Es scheint so, als ob Gott uns nicht mehr liebt". "Nun übertreib nicht gleich", entgegnet Teresa, "unsere Landwirtschaft braucht den Regen - aber vielleicht will Er tatsächlich ein wenig die scheinheilige, pharisäische Kirche Spaniens bestrafen, die sich die Franco-Diktatur zurück wünscht..."

Gründonnerstag, 20. März 2008
Es regnet. Wir boykottieren alle Wettervorhersagen in Fernsehen, Radio und Zeitungen und hoffen - auf ein Wunder.

La Madrugá - die Karfreitagnacht, 21. März 2008
Das Wunder geschieht - wie jedes Jahr in der magischen Heiligen Nacht Sevillas. Ein paar Stunden vor Mitternacht hat es aufgehört zu regnen und jetzt ist der Himmel sternenklar, so dass die großen Prozessionen der Madrugá planmäßig stattfinden können. Wie immer zieht die Macarena-Prozession kurz nach Mitternacht durch ihr Stadttor, umjubelt von der Menge. Kurz hinter dem Stadttor gibt ein Nazareno, der mit seinen Handschuhen nicht zurecht kommt, einem Mann, der nach einem Madonnenbildchen für seine beiden Kinder gefragt hat, statt zwei Exemplaren ein ganzes Päckchen, da er die Plastikverpackung mit den Handschuhen nicht öffnen kann. (Jedes Päckchen enthält 40 Macarena-Bildchen).

"Das ist vielleicht etwas viel", meint der junge Vater zögernd, worauf der Nazareno ihn flüsternd bittet, das Päckchen zu öffnen, sich mit einer Anzahl seiner Wahl zu bedienen und den Rest zurück zu geben.
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Dieses Jahr sind wir mutig und begeben uns ins "Auge des Hurrikans": wir erwarten den Furcht erregenden "Jesus der großen Macht" nach 3.00 Uhr nachts an der Alcázarmauer gegenüber der Kathedrale. Das Gedränge ist weniger heftig als erwartet, doch allzu schnell zieht der Herrscher Sevillas umgeben von hundertfachem Schweigen an uns vorbei.

Die Madrugá verläuft trotz des gewaltigen Menschenauflaufs (Schätzungen gehen von 800.000 Zuschauern in der Innenstadt aus) ohne besondere Vorkommnisse und mit den üblichen Höhepunkten. Zahlreiche Saetas für den Jesus der großen Macht und den Christus der Zigeuner, ein Blütenregen geht nieder von den Balkonen und Fenstern der Calle O`Donnell auf den Baldachin der Esperanza de Triana und auf den Baldachin der Macarena in der Calle Francos (und später, schon am Morgen, in der Calle Parras). Kurz zuvor erlebt einer der Polizisten nahe der Kathedrale einen kurzen Moment des Schreckens, als sich ihm plötzlich ein Nazareno (oder Nazarena?) der Macarena-Prozession nähert, um ihm dann zu seiner großen Überraschung eine estampita, ein Macarena-Bildchen zu überreichen, das ihm den Rest der langen Nachtschicht versüßen soll.

Kurz vor Sonnenaufgang der übliche "Stau": wie immer hat die schöne Madonna der Zigeuner gegen 6.00 bei ihrem Eintritt in die Calle Aponte Verspätung, so dass die Macarena-Prozession eine halbe Stunde in der engen Calle Cuna ausharren muss, damit wiederum der Calvario-Bruderschaft  den Ausgang aus der Kathedrale blockiert, während die Esperanza de Triana davor bewegungslos wartet. Was tun die Nazarenos dieser Bruderschaften während der langen Wartezeit? Richtig: sie verteilen mit Hingabe Madonnenbildchen. In der Calle Cuna gibt ein Nazareno eine solche estampita an ein müde und traurig blickendes Kind, das sofort glücklich strahlt. Da protestiert ein direkt daneben sitzendes Mädel einen Ton zu schrill: "Und mir gibst Du nichts?" In dem Moment schleudert der Nazareno zwei Dutzend estampitas in den Schoß der überraschten Klägerin, die sich danach sogar beschwert, dass in ihrer neuen Sammlung "zweimal dieselben" vorhanden sind.

Die Jugend Sevillas sammelt diese Madonnenbildchen nämlich wie Panini-Fussballspieler...

Wie immer - so verlangen es Isidoro und Marina und so soll es sein - sehen wir die Prozession der Esperanza de Triana gegen 8.00 morgens mit dem Licht des Sonnenaufgangs vor der Baratillo-Kapelle in der Calle Adriano, wo sich schon ein unübersehbarer "Fanclub" von Jugendlichen, bewaffnet mit Klappstühlen, Kaffeebechern und Digitalkameras niedergelassen hat, um die Madonna und vorneweg den maurisch aussehenden "Christus der drei Stürze" zu erwarten.
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Cayetana gehört zu seinen glühendsten Verehrerinnen: "Dieser Christus ist sogar schöner als  Cristiano Ronaldo!" "Cayetana, jetzt reicht es aber!", unterbricht Isidoro energisch die 17-jährige, "vergiss nicht, dass Du über Deinen Erlöser sprichst, also bitte keine Vergleiche mit Fußballstars..." "Ist ja schon gut, reg Dich nicht auf", beruhigt ihn Cayetana, um gleich trotzig nachzusetzen: "Aber es stimmt doch, dass es der hübscheste Christus von ganz Sevilla ist." Natürlich besitzt sie eine ganze Sammlung von estampitas...

Als der Christus und die Madonna von Triana erscheinen, die gleichen Szenen wie immer: ekstatische Musik, Kunststücke der Träger, Olé-Rufe und Tränen des Entzückens im Publikum. Während die anderen danach übermüdet den Weg ins Bett wählen, machen Teresa, Regina und ich uns auf den weiten Weg zum Macarena-Tor, wo wir um 14.00 Uhr mittags gerade noch rechtzeitig ankommen, um dem Triumphmarsch der Göttin Sevillas durch das Tor hinein in die Kirche beizuwohnen.

Mühsam bahnen wir uns einen Weg durch das Gedränge. Der Paso der Macarena kommt kaum vorwärts, denn alle wollen ihn noch einmal bei Tageslicht sehen, bevor er für ein Jahr in seiner Kirche verschwindet.
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Karfreitag, 21. März 2008
Gegen 21.00 abends haben wir uns gegenüber dem Palast der Herzogin von Alba postiert und betrachten die diszipliniert schreitende Doppelreihe der Bruderschaft von La Mortaja. Dies ist wohl die feierlichste Prozession in Sevilla: achtzehn silberne Leuchter und edle Musik begleiten den hochbarocken Paso und das umstehende Publikum wird von einer solchen Weihrauchwolke eingenebelt, dass einige sich leicht benommen fühlen oder im ungünstigeren Fall einem Ohnmachtsanfall nahe sind. Als sich der Nebel lichtet, kann man endlich die Szene der Piedad betrachten. Fast direkt hinter diesem einzigartigen, Ehrfurcht gebietenden Paso - wir trauen unseren Augen und Ohren kaum - erscheint wie ein zweiter Paso die Müllabfuhr!

Es ist schon ein Skandal, wie pietätlos und mit laut aufheulendem Motor dieser Müllwagen der Stadtverwaltung der Piedad von La Mortaja auf die Pelle rückt.
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Das Motorengeräusch übertönt jetzt sogar die Musik der Prozession. Ich muss mich so aufregen, dass ich beginne, die Müllmänner zu beschimpfen und damit drohe, sie einzeln zu fotografieren und die Fotos morgen in der Zeitung drucken zu lassen. Marina fasst mich am Arm und versucht mich zu beruhigen. "Du bist übermüdet. Fotografier doch lieber den Mond - der ist nämlich jetzt ganz voll."  Und sie zeigt mir eine Szene von in der Tat beruhigender Schönheit: der glänzendste und rundeste Vollmond, den man sich vorstellen kann, steht genau in der Glockenwand des Franziskaner-Klosters Los Terceros.

Karsamstag, 22. März 2008
Wir sind kurz nach 21.00 am Brunnen vor dem Kloster Santa Isabel verabredet, um dort den feierlichen Schluss der Prozession von Los Servitas zu sehen. Als wir ankommen, ist der Platz noch verdächtig leer. Fröstelnd gehen wir in unseren Wintermänteln auf und ab, als es plötzlich zu regnen beginnt! Ganz zaghaft zuerst, doch dann immer heftiger.

Die wartenden Zuschauer spannen Regenschirme auf und schalten Radios ein, um zu erfahren, wo sich die Prozession befindet und ob sie überhaupt noch hier ankommt oder sich mit den kostbaren Paso in eine andere Kirche geflüchtet hat. Als wir selbst schon vor dem Regen Zuflucht in der Bar "Como en tu Casa" gesucht haben, verbreitet der Radiosender Cadena Ser die überraschende Meldung, dass Los Servitas trotz des wolkenbruchartigen Regens tapfer und im "Laufschritt" (so gut das halt bei einem zwei Tonnen wiegenden Paso geht) Kurs auf ihre Heimatkirche nimmt.
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Und tatsächlich eilen die ersten Nazarenos völlig durchnässt herbei, und ebenso eilig werden die Pforten der Kapelle aufgeschlossen. Zuschauer mit Regenschirmen, Nazarenos und Offizielle der Bruderschaft laufen im Regen durcheinander. Für einen kurzen Moment ergibt sich ein schöner Kontrast zwischen den pechschwarz maskierten Nazerenos und einem knallroten Regenschirm, der von jungen Zuschauern gegenüber empor gehalten wird. Der Paso bietet ein trauriges Bild: Rosen und Nelken sind durchnässt vom Regenguss, die Kerzen gelöscht, das Wasser rinnt herab, Christus und die Jungfrau notdürftig mit Plastikfolie geschützt. Unter dem Applaus des Publikums, das die Regenschirme fallen lässt, um klatschen zu können, wird die Altarbühne mit einer rasanten Kurve in aller Eile in die Kirche getragen. Auf dem Weg nach Hause meint Carmen, das beste wäre, wenn die Bruderschaft an jeder Ecke des Paso einen riesigen Fön zum Trocknen aufstellen würde.

Ostersonntag, 23. März 2008
Nachdem wir es uns oft vergeblich vorgenommen hatten, sind wir dieses Jahr früh genug aufgestanden, um gegen 7.00 Uhr morgens die Prozession der Bruderschaft "Resurrección" durch die Carrera Oficial bis zur Kathedrale zu begleiten.

Und das hat sich mehr als gelohnt. Es war als ob der Himmel, der noch gestern nacht alle vier Prozessionen mit unbarmherzigen Regengüssen verabschiedete, sich nun mit Sevilla versöhnen wollte. Denn selten gab es einen strahlenderen Sonnenaufgang an einem Ostermorgen in Sevilla.
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Die weißen Tunikas der Nazarenos reflektieren das Sonnenlicht, so als hätte es nie geregnet in dieser Woche. Da die Zuschauertribünen nicht mehr abgesperrt sind, können wir der Prozession mit bester Sicht bis zur Kathedrale folgen. Da es die letzte und einzige am Ostersonntag ist, gibt es keine Konkurrenz mehr und alle Frühaufsteher schenken La Resurrección ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Der vielleicht jüngste (und wovon Cayetana natürlich überzeugt ist auch der hübscheste) Capataz von Sevilla dirigiert den Paso mit der "Jungfrau der Morgenröte" (La Aurora) souverän, bis ihr roter Mantel im Innern des riesigen Gotteshauses verschwindet. Vor lauter Begeisterung über die unerwartet schöne Atmosphäre bei dieser Prozession, die wir zum ersten Mal gesehen haben, ist etwas Fundamentales vergessen worden. Wir haben gar nicht nach Madonnenbildchen gefragt! Denn die von La Aurora fehlen noch in unserer Sammlung. Ein Grund mehr, diese letzte Bruderschaft der Semana Santa auch nächstes Jahr anzusehen.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Links:
http://www.doloresdelcerro.com
http://www.javieres.com
http://www.hermandadsanesteban.org
http://www.hermandaddelosestudiantes.org
http://www.hermandaddesanbenito.net
http://www.hermandadcandelaria.com
http://www.eldulcenombre.org
http://www.hermandaddesantacruz.com

Von Berthold Volberg sind zur Semana Santa in Sevilla folgende Artikel erschienen:
[Es ist vollbracht: Der Karsamstag in Sevilla]
[Zwischen strahlendem Barock und düsterer Mystik: Der "Heilige Montag"]
[Die Passion in Sevilla: Der "Heilige Mittwoch"]
[Der Karfreitag in Sevilla: Ein Andalusisches Requiem]
[Der Tag der Himmelsköniginnen - Palmsonntag in Sevilla]
[Goldrausch in Sevilla: Gründonnerstag der Semana Santa]
[Semana Santa in Sevilla - Die Geheimnisse der Madrugá]
[Heilige Nacht mit Guaraná - Nicht ganz ernst gemeinte Chronik der Semana Santa (2007)]

[druckversion ed 04/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_3] Brasilien: ...und der Bossa Nova?
Interview mit Paulo Dáfilin

Im brasilianischen Winter des Jahres 1958 tauchte eine neue musikalische Welle am Horizont auf: der Bossa Nova. Laut dem Schriftsteller Ruy Castro wurde der Bossa Nova in Ipanema geboren, jenem schicken und mondänen Stadtteil im Süden von Rio de Janeiro. Denn alle für die Entstehung jenes Phänomens wichtigen Personen lebten in den 50er Jahren in jenem charmanten Viertel.

Sänger, Gitarist, Komponist
und Musikproduzent Paulo Dáfilin


Es waren die jungen Leute der Mittel- und oberen Mittelschicht, die es sich am sonnendurchfluteten Strand von Ipanema gut gehen ließen; inklusive Gitarrengeklampfe mit Jazzelementen. Es waren die "goldenen Jahre Rio de Janeiros" - Ende der 50er und Beginn der 60er - bevor der Militärputsch von 1964 die Party beendete.

Die Musik von João Gilberto, Tom Jobim, Ronaldo Bôscoli und Luiz Bonfá mit ihrem typischen Sound aus Gitarre, Schlagzeug und Klavier wurde weltweit bekannt. "Chega de saudade", "Desafinado", "Samba de uma nota só" und vor allem "Garota de Ipanema" verbreiten noch heute ihre einzigartige Mischung aus Melancholie und Freude in den Bars der ganzen Welt. Manch einer sagt, dass die Herrschaft des Bossa Nova nur von kurzer Dauer war und Mitte der 60er Jahre bereits endete. Ob das wohl wahr ist? Denn nie zuvor wurden so viele CDs mit Bossamusik verkauft wie in den zurückliegenden fünfzehn Jahren.



Interview mit Paulo (Paulinho) Dáfilin

Was war der Beitrag des Bossa Nova zur brasilianischen Musik?
Der größte Beitrag des Bossa Nova zur brasilianischen Musik liegt im Bereich der Harmonie. Der Bossa brachte die Jazzelemente - obwohl viele das Gegenteil behaupten. Aber Fakt ist, dass der Bossa den Jazz in die brasilianische Musik integrierte und das Ganze mit Samba kombinierte. Es waren junge Leute aus der Mittel- und Oberschicht, die begannen, Samba mit Jazzharmonien zu spielen. Danach hat man sich gegenseitig beeinflusst, und so beeinflusste auch der Bossa den Jazz.

Was war geschehen? Damals gab es bereits den Bebop mit seinen gesanglosen Improvisationen.

Die Melodien des Bossa hatten hier einen starken Einfluss und den Leuten gefiel es. Da gab es Melodien mit jenen angejazzten Harmonien, und die Melodien waren ruhig und man konnte sie mit Gesang begleiten.

Deshalb nahmen viele US-amerikanische Musiker Bossalieder auf - sie identifizierten sich mit jenen ruhigen und prägnanten Rhythmen, die es so im Bebop nicht gab.

Für die brasilianische Musik war der Bossa einer von vielen Momenten. Und in Brasilien kann man das Gitarrespiel unterteilen in die Zeit vor und die Zeit nach dem Bossa. Aber ich kann nicht sagen, welcher Stil der bessere ist.

Können Sie uns einmal den Unterschied zeigen?
Nun, vorher spielte man so: bossa-nova.mp3

Der Bossa Nova kam aus der Mittelschicht. Aber er hat den typischen brasilianischen Swing nicht verloren, sondern nur etwas gedämpft. Und der Bossa veränderte die Art des Gesangs. Den Zeiten der aus tiefster Brust singenden Interpreten setzte er ein Ende. Von nun an konnte alle Welt singen, selbst wenn man über eine nur schwache Stimme verfügte.

Danach kam die Tropicália-Bewegung (1968), die sehr stark und prägend war. Tropicália umarmte bereits die globalen Trends, die Globalisierung der Musikwelt. Sicherlich war sie nicht der Sargnagel für den Bossa, aber nach ihr begann dann das allgemeine Durcheinander. Es folgte die "Passeata das guitarras", eine Anti-Gitarren-Bewegung. Da ging es nicht gegen die Gitarre an sich, sondern gegen die Art und Weise, wie sie gespielt wurde. Als Resultat sieht man heute, dass es keinen wirklichen großen brasilianischen Gitarristen gibt, der brasilianische Musik spielt. Entweder spielt er zu 80% Rock’n Roll oder zu 80% Jazz. Aber ein wirklicher brasilianischer Gitarrist? Hört man sie spielen, so scheinen sie eher Amerikaner als Brasilianer zu sein.

Aber warum war es mit dem Bossa Nova so schnell wieder zu Ende?
Weil die Tropicália und die MPB, die Musica Popular Brasileira, auftauchten. Tropicália umarmte den Bossa Nova, und qualitativ war die Musik auch gut. Allerdings öffneten die Richtungen das Genre um es jugendlicher zu machen. Und das brachte eine andere Soundcharakteristik in die brasilianische Musik ein, die von allen begrüßt wurde. Wer diesen Prozess eingeleitet hat, weiß genau, wo der rote Faden verläuft, wo die Anschlüsse und Überleitungen sind. Aber viele, die danach kamen, haben diese Verbindung verloren und die Entwicklung begann in andere Richtungen zu laufen. Und in diesem Moment kommt das Big Business ins Spiel.

Was war geschehen? Plötzlich war die Figur des Interpreten an sich unglaublich wichtig geworden. Selbst die Komponisten begannen zu singen. Und nicht nur die Guten jener Zeit wie Jair Rodrigues, Elis Regina und Agustinho dos Santos. Der Markt öffnete sich für alle, die singen wollten und die meisten Sänger hatten keine großartige Stimme und keinerlei künstlerische Vision. Und damit begann der Abstieg. Aber den Leuten gefiel es, und die nachfolgenden Generationen verloren die Verbindung zu den Ursprüngen. Sie verstehen nicht, dass es einen Unterschied gibt zwischen Musik und Kunst. Aber es gibt sie, die Kunst hinter all diesem.

Aus diesem Grund ging es mit dem Bossa zu Ende. Er ist Musik mit Qualität! Und alles, was eine gewisse Qualität hat, verschwindet früher oder später vom Markt. Trotzdem ist der Bossa nicht gänzlich verschwunden, lediglich vom Markt. Heutzutage findet man keine Radiostation mehr, die Qualitätsmusik spielt. Natürlich ist der Begriff Qualitätsmusik sehr relativ, aber er ist mit dem Begriff Kunst verbunden. Und nicht ein bloßes Mittel zum Geldverdienen.

Text, Interview + Fotos : Thomas Milz

[druckversion ed 04/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_4] Bolivien: Von Flussdelfinen und schwimmenden Bussen

Im teils schwer zugänglichen östlichen und nördlichen Tiefland Boliviens liegen riesige Sumpf- und Waldgebiete mit einer in ihrer atemberaubenden Diversität vielfach unerforschten Flora und Fauna. Ein Reisebericht aus der Pampa und von den Wasserwegen des grünen Nordens. – Teil 2 (Teil 1)

Río Yacuma, überschwemmte Wiesen
Kapuzineraffe

Mit dem Reichskanzler stromaufwärts
Nach 35 Stunden erreichen wir schließlich in der nächsten Nacht Rurrenabaque. Es ist warm, Grillen zirpen und hinter der letzten Häuserreihe rauscht monoton der Río Beni. Beinahe widerwillig tragen uns die im Bus taub gewordenen Beine ins schlafende Zentrum der kleinen, tropischen Stadt, wo sich eine Vielzahl an Herbergen und Hotels befindet. Rurre hat in den letzten Jahren eine stetige Entwicklung zum touristischen Zentrum des Gebietes genommen. An den Straßen Santa Cruz und Avaroa (benannt nach Eduardo Avaroa, einem Helden des 1884 gegen Chile verlorenen Pazifikkrieges) reiht sich eine Reiseagentur an die nächste, und jedes zweite Haus im Zentrum ist Bar, Restaurant, Hotel oder Kiosk. Hier erscheint der auf der Schlammpiste zurückgelegte, beschwerliche Weg durch die Pampa und kleinen Dörfer unwirklich. Von Rurre aus starten Touren in den Osten des berühmten Madidi-Nationalparks, in die umliegende Pampa und tropischen Wälder. Das Straßenbild prägen oftmals Touristen in Khakihosen, wasserdichten Schuhen und mit Sonnenhüten, die zumeist per Flugzeug von La Paz aus einen kurzen Abstecher ins tropische Tiefland unternehmen. Aber es gibt auch noch den kleinen traditionellen Markt am Fluss, wo Früchte und Fisch verkauft werden, und das Leben auf den Kleinbauernhöfen außerhalb der Stadt. Hier halten die Menschen auf mühsam mit der Machete dem Wald abgerungenen Wiesen und Feldern einige Hühner und Rinder und bauen Bananen, Apfelsinen, Mangos und Zuckerrohr an, dessen ausgepresster Saft als Getränk in den Straßen verkauft wird. Oft wird der Speiseplan zusätzlich durch Jagd und Fischfang aufgebessert. Ein Bauer bewirtet uns bei einem Besuch mit dem Fleisch eines Wildschweins, das er beim Durchschwimmen des Flusses überrascht und aus seinem Boot heraus durch Herabdrücken des Kopfes ertränkt hat.

In einer der Reiseagenturen arbeitet Bismarck, ein junger Mann, der aus der Gegend um Reyes östlich von Rurre stammt und seinen Namen einem germanophilen Großvater zu verdanken hat. Wir vereinbaren, mit ihm als Reiseführer die nächsten Tage am Río Yacuma zu verbringen. Zunächst fahren wir mit einem Geländewagen einige Stunden in nordöstlicher Richtung bis nach Santa Rosa – ein winziges Dorf, das am Ufer des Yacuma liegt. Hier laden wir Rucksäcke, Lebensmittel und Spritkanister in ein langes Holzboot mit Außenborder und machen uns mit unserem Reichskanzler stromaufwärts auf den Weg.

Skelettierter Unterkiefer eines Kaimans
Roter Piranha

Rosa Delfine und Flügel mit Krallen: Eine zoologische Wundertüte
Der Fluss ist schmal. An seinen Ufern steht üppiger, grüner Galeriewald, der nur manchmal einen Blick auf die jenseits des schmalen Waldsaumes liegenden, in dieser Jahreszeit (April) überschwemmten Ebenen der Pampa zulässt. Als wir durch einen kleinen Durchschlupf in der Ufervegetation auf eine überschwemmte Wiese hinausschippern, ertönt ein Platschen hinter unserem Boot. Bismarck lächelt, stoppt den Motor, hält ein Stück Plastikschlauch ins Wasser und bläst Luft hindurch, die blubbernd zur Oberfläche aufsteigt. Wieder ein Plätschern, diesmal vor dem Bug des Bootes. "Miren las burbujas. Estan tan curiosos!" – Schaut auf die Luftblasen. Sie sind so neugierig!, sagt er, und nach kurzer Zeit schieben sich zwei schmale, hellgraue, bezahnte Kiefer vorsichtig aus dem Wasser und von zwei Seiten um den Schlauch. "Es un boto!", strahlt Bismarck. Ein Flussdelfin. Kurz darauf beginnt das Tier um das Boot herumzuschwimmen. Dabei ist immer wieder sein rosafarbener Rücken mit der breiten, höckerartigen Rückenfinne zu sehen. Es ist vermutlich ein ausgewachsener Delfin, da bei Inia geoffrensis boliviensis, so der wissenschaftliche Name der bolivianischen Unterart, die Jungtiere meist eine silbergraue Farbe haben und erst mit zunehmendem Alter rosa werden. Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass die Körperfarbe vom Aktivitätslevel und der Wasserqualität abhängt. Der Gattungsname Inia stammt aus der Sprache der Guarayo Indianer, die entlang des Río San Miguel in Bolivien leben. Die Artbezeichnung geoffrensis geht zurück auf den französischen Zoologen Geoffroy Saint-Hilaire, der sich das erste konservierte Exemplar von Inia in Lissabon um 1800 im Namen Napoleons aneignete und in das Museum für Naturgeschichte in Paris brachte, wo es sich bis heute befindet.

Bismarck erzählt, dass momentan die Fortpflanzungszeit der Flussdelfine sei, in der die ansonsten eher einzelgängerisch lebenden Tiere die weiten, überschwemmten Wiesen um den Fluss herum aufsuchten, um dort ihre Jungen groß zu ziehen. Die Nachkommen werden durch gezielte Stöße mit der Schnauze gegen Raubfeinde wie Kaimane verteidigt. "Wir sind als Kinder immer dort ins Wasser gegangen, wo botos waren", erzählt Bismarck, "da konnten wir sicher sein, dass keine Krokodile in der Gegend sind."

In Bolivien sind Flussdelfine gesetzlich geschützt, und Mythos und Aberglaube haben die Tiere ohnehin zumeist vor direkter Bejagung durch die einheimische Bevölkerung bewahrt. Allerdings ist die Art durch Gewässerverschmutzung (z.B. durch Bohrungen der Erdölindustrie) und durch Beifang in Fischernetzen gefährdet. Zudem gelten in bestimmten Regionen die Augen und Genitalien der Flussdelfine als Aphrodisiakum und werden beispielsweise auf Märkten in Brasilien und Ecuador zum Verkauf angeboten.

Hoatzin
Rote Brüllaffen im Galleriewald

Wir verlassen die überschwemmte Ebene und kehren zurück auf den Fluss. Auf aus dem Wasser ragendem Treibholz sitzen Schienenschildkröten (Podocnemis), die sich halb übereinander geschoben auf dem begehrten Sonnenplatz drängeln. Blaue Schmetterlinge gaukeln vorüber, Moskitowolken schwirren über der Wasseroberfläche, und aus einiger Entfernung hallen die grollenden, dumpfen Rufe von Brüllaffen (Alouatta caraya und Alouatta sara) durch den Galeriewald: "Nichts ist unmöglich" – hinter jeder Biegung des Flusses scheint eine neue Art zu warten. Im Gebüsch am Ufer sammelt sich derweil eine Gruppe Totenkopfäffchen (Saimiri boliviensis boliviensis), die weißgesichtig und neugierig auf den Fluss schauen, und dem Boot am Ufer entlang folgen. Oftmals werden die Tiere hier von Touristen mit Bananen gefüttert; eine zweifelhafte Art der Kontaktaufnahme, bietet der Yacuma doch auch ohne derartige Eingriffe genug Beobachtungsmöglichkeiten.

Der Fluss wird schmaler, mehrfach muss Bismarck aus dem Wasser ragende Baumstämme umfahren. An einer Stelle, an der sich der Wasserlauf wieder etwas weitet, sitzen drei Hoatzine (Opisthocomus hoazin) beisammen, fasanengroß mit beigefarbener Brust und dunklen Flügeldecken, unverwechselbar durch ihr bläuliches Gesicht, den kräftigen Schnabel und die wild abstehenden orange-braunen Federn am Kopf. Der lautmalerische Name Hoatzin geht auf den Ruf der auch als Schopf- oder Zigeunerhuhn bekannten Art zurück; der auch verwendete Name Stinkvogel auf ihr ungenießbares Fleisch. Die großen, etwas behäbig wirkenden Tiere haben ihre Nester auf über dem Wasser hängenden Ästen gebaut. Die Jungvögel, die – einzigartig im Vogelreich – über Flügelkrallen verfügen, lassen sich bereits vier bis sechs Tagen nach dem Schlüpfen bei Gefahr ins Wasser fallen. Sobald der Raubfeind weiter zieht, erklimmen die Tiere mit Hilfe der Krallen wieder einen Baum, wo sie von den Eltern aufgesucht und versorgt werden.

Pfahlbauten und Hauskrokodile
Als Bismarck den Motor wieder anwerfen will, bleibt es still. Beim zweiten Versuch ertönt ein leises Röcheln, danach bleibt der Außenborder endgültig stumm. Wieder einmal sitzen wir fest bzw. treiben langsam in die falsche Richtung, und die Moskitoschwärme über unsren Köpfen verdichten sich. Mit den Händen manövrieren wir das Boot ans Ufer. "Zehn Minuten flussaufwärts liegt eine kleine Siedlung", erzählt Bismarck, "da wollten wir ohnehin rasten." Nach wenigen Metern, die wir am Ufer zurücklegen, versinken die Knöchel im Schlamm, noch ein paar Meter weiter stehen wir bis zu den Knien im Wasser. Vor uns rauscht geräuschvoll ein überraschter Kaiman in tiefere Gewässer. "Wenn das Wasser bis zur Hüfte reicht, gehen wir nicht weiter, wegen der Krokodile!", raunt Bismarck. Zum Glück ist unser Reichskanzler der kleinste in der Gruppe.

Río Beni, Pfahlbau
Das Hauskrokodil

Kurz darauf sind wir – halbdurchnässt – wieder beim Boot und schneiden einige breite Äste als provisorische Paddel von den umstehenden Bäumen. Die unmotorisierte Bootsfahrt ist Kräfte zehrend, und die gegen uns arbeitende Strömung des Flusses wirkt plötzlich viel stärker. Öfter dreht sich unser Gefährt in der Strömung, oder wir fahren frontal in die Uferböschung hinein. Als wir eine gute Stunde später die angekündigten Pfahlhäuser erreichen, schmerzen die Arme, und die Gedanken schweifen kurz zurück zu den bunten Pillen, die man in Santa Cruz verschmäht hat. Wir werden mit einem üppigen Gericht aus Reis, Gemüse und Obst empfangen, gekocht in einer Open-air-Küche am Flussufer. Bananenschalen und andere organische Abfälle werden an eine dahinter gelegene Uferstelle geschüttet. "Abendbrot für das Hauskrokodil", erzählt man uns. Und tatsächlich kommt nach einigen Minuten vom gegenüberliegenden Ufer ein Kaiman herüber und tut sich an der vegetarischen Vorspeise gütlich. Bismarck angelt derweil mit Schnur, Haken und kleinen, rohen Fleischstückchen nach Piranhas, ein kleines Mädchen schaukelt in einer Hängematte auf der Veranda, und in der Ferne stimmen die Brüllaffen ihren Abendgesang an.

Hier am Flussufer wohnt eine Mutter mit ihren zwei Töchtern und einer Schwester. Haupteinnahmequelle sind Reisende wie wir, die ein paar Bolivianos für eine Mahlzeit und eine Übernachtung in einer Hütte unter einem Moskitonetz zahlen. Ob es schon zu viele Touristen wie uns gäbe, frage ich Bismarck auf der Veranda. "Depende, amigo", erwidert er diplomatisch. "Das hängt davon ab, wie sich die Menschen verhalten. Viele wollen die Tiere füttern und berühren. Einige Arten gewöhnen sich daran, andere lassen sich dann nicht mehr sehen. Die Leute sollten nur beobachten. Aber die Menschen hier sind arm. Wer Geld bringt, dem wird nicht vorgeschrieben, wie er sich verhalten soll."

Plötzlich ein Platschen aus Richtung der Küche. Das kleine Mädchen in der Hängematte richtet sich auf, entblößt grinsend eine große Zahnlücke und sagt: "Unser Haustier geht schlafen."
Río Yacuma, Veranda einer Holzhütte

Von Null auf 4000 in einer Stunde
Zwei Tage und unzählige weitere Tierbeobachtungen später treten wir mit repariertem Außenborder, den wir jedoch meist ausgeschaltet lassen, die Rückreise nach Rurrenabaque an. Als wir flussabwärts Richtung Santa Rosa treiben, begleiten uns eine Weile zwei Gelbbrustaras (Ara ararauna) hoch über uns mit lautem Krächzen. In der letzten Nacht hat es stark geregnet, und die Piste zwischen Reyes und Rurrenabaque wird erneut zur Rutschpartie. Da Ähnliches auch für die Strecke nach Trinidad zu erwarten ist, entscheiden wir uns zur Rückreise per Flugzeug und buchen einen Flug bei der Línea Aérea Amaszonas, die über fünf kleine Maschinen verfügt, die zwischen La Paz, Rurre und Trinidad pendeln. "No hay problema, mañana van a llegar a Trinidad!" Morgen also bequem nach Trinidad fliegen. Doch am nächsten Tag hängen die Wolken tief und schwer über den Andenausläufern, so dass die Piloten aus La Paz kommend auf Grund der schlechten Sicht nicht landen können. Zudem macht vor dem Büro der Fluglinie die Runde, dass eines der Flugzeuge kürzlich eine Bruchlandung hingelegt habe und deswegen nicht einsatzfähig sei. Bezüglich der Einsatzfähigkeit der bruchgelandeten Piloten und Passagiere ist nichts zu vernehmen. Eine weitere Maschine sei zurzeit beim Mechaniker wegen Motorproblemen, meldet ein Mitarbeiter wenig später lapidar.

Fünf minus drei macht zwei, und die Liste der wartenden Passagiere ist lang. So haben wir noch einmal einen Tag am Río Beni geschenkt bekommen, schlendern über den Fischmarkt am Fluss und klettern danach auf den kleinen aber steilen Berg hinter der Stadt. Oben steht ein weißes Kreuz, in dessen Schatten wir rasten und den Blick über die endlosen grünen Weiten des Tieflandes schweifen lassen. Früh am nächsten Tag sind wir wieder vor dem Büro der Airline: Die Wolken hätten sich noch nicht gelichtet, aber das werde heute schon noch klappen. Gegen 15:00 Uhr schließlich wird die Nachricht verbreitet, heute gebe es nur noch einen Flug - und zwar nach La Paz. Völlig falsche Richtung, aber egal. Der Heimflug in Santa Cruz wartet nicht auf uns, und von La Paz aus gibt es auf jeden Fall mehr Reisemöglichkeiten als von hier. Also stehen wir eine Flugstunde später schlotternd auf dem etwa 4000 Meter hoch gelegenen, zugigen Flughafen von El Alto und bewegen uns in Zeitlupe durch die Gänge, um der Sauerstoffabnahme in der Höhenluft Rechnung zu tragen. Wir entscheiden uns wieder gegen den Bus und für einen weiteren Flug, um nach Santa Cruz zu gelangen, da am Flughafen das Gerücht geht, dass es bloqueos - Straßenblockaden - in Cochabamba gebe.

Nichts Außergewöhnliches, sind doch die Blockaden, bei denen häufig nur wenige Menschen in Gesellschaft einiger explosiver Gasflaschen auf der Straße stehen, in Bolivien ein allseits beliebtes Mittel, um gegen korrupte Bürgermeister, Koka-Verbote oder die oft wechselnden Präsidenten zu demonstrieren.

Erneut einige Stunden später landen wir also nach ruhigem, blockadefreien Flug in Santa Cruz, wo uns wiederum Schwüle und subtropische Wärme empfangen. Der Körper ist inzwischen von den Temperatur- und Sauerstoffschwankungen leicht benebelt. Wir nehmen einen Micro (Kleinbus), mit einem riesigen auf der Heckscheibe aufgeklebten Jesus, um vom Flughafen ins Stadtzentrum zu fahren. Bei einer Tankstelle hält das Gefährt und ein alter Bekannter steigt ein: blitzende Augen und dünner Oberlippenbart, der Witzeerzähler von der Hinfahrt. Auch diesmal hat er wieder seine Gesundheitspillen dabei. Ich nehme ihm drei ab: eine rote für die Wärme, eine blaue für den Sauerstoff und eine grüne für den wunderschönen Wald.

Text + Fotos: Lennart Pyritz

Weitere Veröffentlichungen des Autors:
www.spektrumdirekt.de/madagaskar
www.primate-sg.org/PDF/NP14.2.alouatta.bolivia.pdf

Lennart Pyritz hat am Reiseführer über Bolivien mitgewirkt, den ihr im Reise Know-How Verlag voraussichtlich ab April 2008 erhaltet.

Titel: Bolivien Kompakt
Verlag: Reise Know-How
Erscheint voraussichtlich im April 2008


[druckversion ed 04/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]






[kol_1] Grenzfall: Argentiniens Steaknotstand

Es zischt und brutzelt. Dazu gesellen sich ein wunderbarer Duft und eine unbändige Vorfreude auf ein einfaches, wie leckeres Essen. Etwa zehn Kilo Fleisch liegen auf dem offenen Rost, daneben eine Flasche Wein für den Grillmeister und in der Luft ein derartig verlockender Asado-Geruch, dass es den Pawlow in uns weckt und wir beinahe unweigerlich zu sabbern beginnen. Zumindest im übertragenen Sinne.

Ich erinnere mich gerne an mein letztes argentinisches Asado. Herrlich! Auf einer Insel mitten im Tigredelta mit vielen netten Leuten, wunderbarem Wein und noch wunderbarerem Fleisch begannen wir das Neue Jahr mehr als gebührend. Es sind schöne Erinnerungen und ich hoffe, dass sich diese Erinnerungen wiederholen werden.

So kurz vor meiner Rückkehr nach Buenos Aires im April beschleicht mich jedoch das dumpfe Gefühl, dass ich mein viel geliebtes Steak vielleicht erst wieder in Deutschland beim Argentinier bekommen könnte.

"Käse und Fleisch gibt’s gerade nicht mehr. Vielleicht wird’s ja wieder, wenn Du angekommen bist." Aus dem Munde von Ernesto Contte klingt das geradezu lapidar. Der Wurstverkäufer meines Chinos, so werden die kleinen Supermärkte hier genannt, nimmt es mit argentinischer Gelassenheit. Aber ich traue mich am Telefon gar nicht weiter nachzufragen, weil ich befürchte, dass seine gute Stimmung schlagartig dahin sein könnte, wenn er darüber nachsinnt, dass er die nächsten Tage, ja vielleicht Wochen, sein Steak nicht bekommen wird. Kaum einer in Argentinien will aus eigenen Stücken vegetarisch leben. Umso schlimmer, wenn das dann gezwungener Maßen geschieht.

Turbulente Zeiten sind – mal wieder, möchte man sagen – angebrochen. Etwa 14 Millionen Menschen leben in der Hauptstadt Buenos Aires und fürchten vor allem um ihr geliebtes Fleisch. Sogar Hamsterkäufe soll es schon gegeben haben.

Wie kommt es zu dieser Knappheit im Land der mächtigen Pampa und der herrlichen Steaks?
Die Antwort ist recht einfach und, wer hätte es gedacht, es geht natürlich um das liebe Geld. Ertragreich waren die letzten Jahre für den gesamten Agrarsektor. Denn auch in Übersee ist die Nachfrage nach argentinischem Fleisch enorm. Jetzt will auch die – inzwischen feminine – Kirchner-Regierung in noch höherem Maße profitieren, um, so heißt es im offiziellen Jargon, mit den Mehreinnahmen die Armut des Landes zu mindern. Man darf nicht vergessen, dass knapp die Hälfte der argentinischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt.

Das wiederum ist den Bauern und den vier Agrarverbänden – weitgehend bestehend aus Mittel- und Oberschicht – herzlich egal. Sie wollten nicht auf ihre Mehreinnahmen verzichten und beschlossen kurzerhand, gegen eine Erhöhung der Abgaben auf die Straße zu gehen und den Lebensmittelnachschub zu unterbrechen. Das Wort "Raub" fällt in diesem Zusammenhang besonders häufig. In Buenos Aires selbst äußern sich solche Proteste immer recht lautstark. Cacerolazos nennt man die Demos auf den Straßen, an denen die Demonstranten Kochlöffel auf Töpfe schwingen und das Trommelfell arg malträtieren. Señora Kirchner konnte das in den vergangen Tagen gleich des Öfteren vor ihrem rosaroten Rathaus hören. Verständnis bringt sie für ihre Kritiker aber weniger auf. Sie lasse sich nicht erpressen. Die landesweiten Straßensperren nennt sie "Blockaden des Überflusses", die ganz und gar nicht notwendig seien.

Bei einer erhöhten Nachfrage nach knappen Gütern aber, das wissen auch die Inhaber der Supermärkte, können die Preise schon mal ein bisschen steigen. Bei Fleisch wurde teilweise bis zu 70 Prozent aufgeschlagen, wie mir Ernesto erklärt. Das ist dann selbst den hartgesottenen Fleischfressern ein Dorn im Auge, die es eher verschmerzen können, keine Butter im Regal zu finden.

Verheerende Auswirkungen haben die Straßenblockaden auf andere Sektoren beispielsweise Obst und Gemüse. Am letzten Märzwochenende trafen insgesamt 230 Lkws mit Lebensmitteln auf dem Mercado Central ein. Aufgrund der Blockaden mit erheblicher Verspätung. Kein Wunder also, dass sich der Großteil der Lebensmittel in stark verdorbenem Zustand befand und entsorgt werden musste. Lediglich die Bauern aus dem nahen Umland schaffen es, verderbliche Güter rechtzeitig in die Hauptstadt zu bringen. Tomaten, Zwiebeln und Paprika, um nur einige zu nennen, sind derzeit etwa doppelt so teuer wie bei einer normalen Lebensmittelversorgung aus dem Inland.

Die Fronten der streitenden Parteien scheinen sich unterdessen zu verhärten. Kirchner selbst, als Interessensvertreterin aller Argentinier, hat sich offensichtlich auf eine harte Haltung gegenüber den Bauern eingelassen und wird nicht so schnell davon abrücken. Die Bauern indes fühlen sich durch die rigide Haltung gehörig unter Druck gesetzt und monieren, dass der Staat seine Autorität in zu großem Maße ausnutzt, um ihnen das Leben zu erschweren. Durch das Limitieren der Lebensmittel im ganzen Land zeigen sie jetzt Zähne in der Hoffnung, bei der aufgebrachten Bevölkerung Gehör zu finden.

Wie wohl die ganze Sache ausgehen mag?
Wahrscheinlich äußerst argentinisch: nach dem ersten großen Aufruhr, wo es weniger um Fakten geht, dafür um so mehr um Emotionen, wird man sich irgendwann an einen Tisch setzen und das Problem konstruktiv in Angriff nehmen.


Es wird zu einem Kompromiss kommen – und das hoffentlich schnell. Denn nicht nur die Argentinier werden sich freuen, wenn die Regale wieder gefüllt sind, sondern auch ich.

Text: Andreas Dauerer

[druckversion ed 04/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_2] Hopfiges: Venezuela muss Ice und Light
Bierpuncherei als Kulturverfall

"Jung, huiuiuiui. Ich muss rasen."
Die Bedeutung dieser allmorgendlichen Worte hatte ich zwar schnell verstanden, ihre Relevanz aber nicht erkannt.
Für die damals 65–Jährige zählten der Frühstückskaffee – immer die gleiche Sorte, nicht zu schwach, auf keinen Fall aber zu stark –, die Frühstückszigarette – eine leichte Sorte wegen der Gesundheit – und ausreichend Bier – Hauptsache Kölsch, weil frisch und bekömmlich – zu den wichtigsten Dingen des täglichen Lebens. Die erste Tasse Kaffee begleitete das halbe Brötchen mit Erdbeermarmelade und das hart gekochte Ei, wobei das Eigelb immer in den Müll wanderte. Die zweite Tasse gehörte zur Zigarette. Meist folgte schon dem ersten Zug ein glückliches: "Jung, huiuiuiui. Ich muss se ausmachen."

Blieb das morgendliche "Jung, huiuiuiui. Ich muss rasen" aus, dann hatte Gertrud den ganzen Tag Beschwerden: "Jung, ich han ping."

Um 10.30 Uhr, nach dem Aufsetzen der Kartoffeln, folgte unser Ritual des ersten Biers zum Kniffelspiel. Je nachdem, ob ein huiuiuiui–Tag oder nicht, lautete Gertruds Ansage: "Jung, krich uns flott zwei Bier, die hammer uns verdient" oder "Jung, krich uns flott zwei Bier, ich han Not. Und sieh zu, dat ich beim Kniffeln gewinne, sonst hammer Stress."



Zivijahre heißen nicht umsonst Lehrjahre. Man lernt das Leben neu begreifen. Und so weiß ich heute, dass wenig im Leben über einen guten Kaffee und einen ausreichend Vorrat an nach Reinheitsgebot gebrautem Bier im Kühlschrank geht. Ach ja, und zu einer Zigarette morgens, wenn’s denn Not tut, sage ich auch nicht nein.

Venezuela
Wurde ich gefragt, warum nach Venezuela reisen, so hatte ich bislang spontan geantwortet, weil zu jeder Tageszeit an jeder Ecke ein hervorragender Kaffee wie auch ein wirklich gutes Bier erhältlich ist. Bis in das letzte Andendorf hinein wird der selbst kultivierte Kaffee in Gaggia–Espressomaschinen gebrüht. Er kann sich durchaus mit italienischem Kaffee messen. Auch das Bier kann sich sehen lassen. Immer und überall erhält man ein 0,22 Fläschchen Polar oder Regional. Größe, Temperatur, Geschmack und Alkoholgrad dem durchweg tropischen Temperaturen angepasst: Leicht, süffig, kalt und mit zwei Schlücken vernichtet.

Heute sage ich in Bezug auf Warum Venezuela?: Anakonda und Kaiman in Los Llanos, Seilbahn in den Anden, Tafelberge und Karibik. Und es gibt guten Kaffee und manchmal auch ein gutes Bier. Aber – seufz – nur noch manchmal.



Was ist geschehen?
Schuld sind die Mexikaner, die ihre widerliche Brühe, weltweit salonfähig gemacht haben. Durchsichtige Flaschen sind heute der Renner. Zu Beginn standen da, wo heute – bleiben wir ruhig in Deutschland – Hinz und Kunz gold in die Regale drängeln, ein paar vereinzelte Corona–Flaschen. Schön gesondert vom Bier fristeten sie ihr Dasein, damit das chemikalienverseuchte Zeug nicht auf den feinen Sud überschwappte.

Doch die Jahre vergingen, das Reinheitsgebot fiel, und Biermixgetränke wie auch Bierähnliches gehören heute mindestens genauso zum gutsortierten Sortiment in der Getränkeabteilung wie das gute alte Bier.

Über den weiten Umweg von Kontinenten erreichte die mexikanischen Punchereien dann auch Venezuela: Die beiden großen Brauereien sprangen auf den hippen Zug auf und brachten neben ihrem klassischen Polar bzw. Regional – beide werden heute La negra genannt – Light–, Ice– und weitere Varianten auf den Markt. Das war ja erstmal gar nicht weiter schlimm. Dann aber passierte Unglaubliches: Das Verständnis des Begriffes Bier erweiterte sich, sortierte sich und setzte sich anschließend neu zusammen. Und heute unterscheidet kaum noch ein Venezolaner, was er gerade trinkt: Bier ist Bier oder La negra ist Polar, Light ist Polar, Ice ist Polar oder La Negra ist Ice, Ice ist Light. Bestellt man heute una Polar am Kiosk, in der Bar oder einem Restaurant, weiß man nicht, was kommt: irgendetwas mit dem Namen Polar im Namen halt.



Das aber war ja noch gar nicht das Schlimmste. Heute wird einem auf die Order ¡La Negra! meist geantwortet: !No! La Azul (eine weitere light–Variante) oder ¡Sólo light! (es gibt nur light) oder ¡Pura Ice! (es gibt nur Ice). Und wenn dir das im dritten Laden passiert, guckst du nicht mehr nur blöd, sondern verzweifelt. Fällt der Blick dann noch auf die vom Polar Ice zermürbten Gestalten, fallen dir unweigerlich Gertruds Beschwerden ein: "Jung ich han Ping." Und dann ergreift dich die Panik und du flehst, dass dir auch ohne den Genuss von Bier am nächsten Morgen ein Huiuiuiui beschieden sein wird.

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 04/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: hopfiges]





[kol_3] Helden Brasiliens: Wenn Marketing über Eitelkeit siegt

Manchmal kann eine simple, intuitive Handlung, die Willenskraft eines "Alles wird gut werden" jedwede Vernunft übertrumpfen...

Vila Madalena, São Paulo. Ein kleines blau gestrichenes Eckhäuschen beherbergt ein überschaubares "Boteco", eine Mischung aus Bar und Imbiss (mit allem Respekt, versteht sich!). Seit kurzem ist das Etablissement in der Gegend zum Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit geworden. Und zwar immer dann, wenn der Besitzer sich aus freiem Willen einen Wikingerhelm mit den zwei typischen Ochsenhörnern aufsetzt. Und sich damit freiwillig als "Gehörnter" zu erkennen gibt.

Autohupen, Schreie, Gelächter, ein einfaches "Hallo, mein Freund" - all dies Resultat einer simplen Handlung.

Kindlich, inkonsequent, intelligent, inkoherent? Aber es funktioniert!


Herr Nelson, gemeinhin "der Gehörnte" oder "der, dem Hörner aufgesetzt wurden", erlangt in diesen Tagen in der Gegend zunehmende Berühmtheit. Der zweifache Vater teilt sich die Arbeit im Imbiss mit seiner Frau Rose. Die schwört, ihm keine Hörner aufgesetzt zu haben. Nach hartnäckigem und doch zwecklosem Nachbohren öffnet Herr Nelson dann schließlich doch noch sein Herz.

"Nicht etwa meine Frau hat mir Hörner aufgesetzt, sondern meine Geliebte..." Noch mehr Gelächter dröhnt aus den Kehlen der an der Theke sitzenden Gäste. "Von der Geliebten Hörner aufgesetzt zu bekommen, tut doppelt weh", weiß einer von ihnen beizutragen. Währenddessen lächelt die ebenfalls am Tresen sitzende angebliche Geliebte still in sich hinein. Rose hingegen stört sich erst gar nicht an den Ausführungen des Ehemannes.

Könnte es sein, dass es sich bei dem Ganzen um nichts weiteres als um einen einfachen Marketingtrick des weisen Herrn Nelson handelt? Wer weiß, schließlich kennt ihn bereits jetzt das ganze Viertel. Danach wird er wohl in der ganzen Stadt zur Attraktion, und wo dies alles letztlich enden wird, kann so wohl keiner voraussehen...

Die bewusste oder unbewusste Handlung eines Geschäftsmannes - doch man kann sagen, dass dieser sehr wohl weiß, was er da tut. Denn schließlich funktioniert es ja.

São Paulo, Brasilien, Amen!

Text: Vagner Antonio und Thomas Milz
Fotos:
Thomas Milz

[druckversion ed 04/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





[kol_4] Lauschrausch: Mariachi vs. Spielzeugklavier

V.A.
Mariachi – The Sound of Hysteria & Heartache
Trikont / Indigo
Ob auf dem Zócalo von Oaxaca, in US-amerikanischen Bars in Cancún oder natürlich auf der Plaza Garibaldi in Mexico D.F., auf Schritt und Tritt verfolgen den Besucher die Klänge der Mariachi-Gruppen, die sich von einfachen, ländlichen Tanzkapellen im 19. Jahrhundert zum nationalen musikalischen Aushängeschild gewandelt haben. Sie spielen meistens mexikanische sones (jeder kennt "Cielito lindo"), rancheras, corridos oder boleros; auf Wunsch aber auch Opernarien und international bekannte Popsongs. Der spezifische Klang der Mariachi-Trompeten hat seit den 70er Jahren verstärkt Eingang ins internationale Musikrepertoire gefunden: von Rex Gildos "Fiesta Mexicana" (nicht auf der CD) über Mixe von Techno-DJs (Nortec Collective) bis zu den Mestizoklängen der rumänischen Band ZDOB SI ZDUB.


Und so finden sich auf dieser spannenden Compilation des österreichischen Journalisten Fritz Ostermayer die verschiedensten Verarbeitungsformen der mexikanischen "Nationalmusik", wie die lustige Rapversion von "El Mariachi" aus dem Film "Desperado" mit Antonio Banderas. Das Original bleibt allerdings unerreicht. Oder die elektronischen Experimente der Mexikaner Nortec Collective und Wakal oder des Japaners Kondo, die die Folklore jeweils auf ihre Art dekonstruieren. Die Indieband Calexico darf mit ihrer Interpretation ebenso wenig fehlen wie die Popsängerin Linda Ronstadt, die sich irgendwann ihrer mexikanischen Wurzeln besann, und eine Platte mit mexikanischer Folklore einspielte. Willy de Villes geniale Mariachiversion von Jimi Hendrix’ "Hey Joe" ist eine Perle dieses Albums und ein Tanzflächenfüller auf jeder Party.

Wie im echten mexikanischen Leben gibt es natürlich auch schrecklichen Kitsch auf dieser CD, etwa das vom Kinderstar Antonio Eugenio Martínez gesungene "Puno de Tierra", der Heintjes grausige Stimme noch um Längen schlägt. Verschiedene originale Mariachibands runden die Compilation ab, die die zahlreichen Facetten dieser populären Musik präsentiert.


Pascal Comelade
Mètode de Rocanrol
Because Records /Q-rious
Pascal Comelade könnte man als Musikclown bezeichnen, verwendet er doch häufig Spielzeuginstrumente zur Erzeugung seiner Kompositionen. Aber der südfranzösische Katalane ist ein ernsthafter Musiker, der seit 1975 diverse Film- und Theatermusiken komponiert hat. Insofern könnte er eine Quelle der Inspiration für Yann Tiersen ("Amelie") gewesen sein, dessen Stil seiner Musik ähnelt.

Pascal Comelade
Mètode de Rocanrol
Because Records /Q-rious

Sein aktuelles Album "Mètode de Rocanrol" sei "eine verzauberte Spieldose" heißt es im Waschzettel und das stimmt: Zwischen Kinderklavier, Karussellmusik, Spieldosen, Melodica und Akkordeon schimmern immer wieder Kompositionen durch, die denen von Eric Satie ähneln. Aber auch Tango-, Rumba- und Blues-Elemente finden Eingang in seine humorvollen und lebhaften, selten sentimentalen Stücke, zu denen sich wenig Vergleichbares auf dem Musikmarkt findet. Comelade hat Erfolg in Frankreich und noch größeren in Katalonien (wo er auch schon mit Lluís Llach aufgetreten ist), hoffentlich bald auch im Rest der Welt. Diesem außergewöhnlichen Hörerlebnis ist es zu gönnen.

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon

[druckversion ed 04/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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