ed 03/2008 : caiman.de

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[art_4] Bolivien: Von Flussdelfinen und schwimmenden Bussen

Im teils schwer zugänglichen östlichen und nördlichen Tiefland Boliviens liegen riesige Sumpf- und Waldgebiete mit einer in ihrer atemberaubenden Diversität vielfach unerforschten Flora und Fauna. Ein Reisebericht aus der Pampa und von den Wasserwegen des grünen Nordens. – Teil 1 (Teil 2)

Amazonasdelfin, Río Yacuma
Überquerung des Río Mamoré

Wir verlassen Boliviens rasant wachsendes wirtschaftliches Zentrum, die subtropische Millionenmetropole Santa Cruz de la Sierra im Tiefland am Rande der Cordillera Oriental, gegen sieben Uhr abends. Es soll nach Norden gehen, ins tropische Bolivien, wo wir in die sagenhafte Welt an den Ufern des kleinen Río Yacuma eintauchen wollen. "Es un zoológico natural. Tienes que verlo", so die einstimmige bolivianische Meinung, ein natürlicher Zoo; ohne Zäune und Mauern, aber voller Tiere. Ein Muss für jeden naturbegeisterten Reisenden.

Ein zart orangefarbener Abendhimmel würde zu versonnenen Blicken aus den Fenstern der Flota Trinidad, unseres Überlandbusses, einladen. Würde - wären da nicht die geschätzten 20 Getränkehändler, Maiskolbenverkäufer und Süßigkeitendealer, die sich gerne auch mal zu dritt nebeneinander durch den engen Mittelgang des Busses quetschen, um den in ihren fleckigen Polstersesseln gefangenen Reisenden die eine oder andere kulinarische Spezialität unter die Nase zu halten. Als der Fahrer zum dritten Mal den Motor aufheulen lässt, leert sich der Bus, und wir heben ab - zumindest dem Geräuschpegel nach zu urteilen.

Kreuzungen, Geschäfte, bunte Markstände und Palmen gesäumte Mittelstreifen ziehen draußen vorüber. Der Geruch der überall brennenden Holzfeuer erfüllt den Innenraum, für Momente auch immer wieder Hupkonzerte und Musikfetzen, meist stampfende Cumbia-Rhythmen, die momentan schwer en vogue sind. An einer Tankstelle hält der Bus noch einmal an und entlässt den letzten an Bord gebliebenen fliegenden Händler hinaus in die pulsierende Dämmerung: einen etwa 40-jährigen cruceño mit blitzenden Augen und dünnem Oberlippenbart, der zuvor zwei – vom Publikum mit höflichem Lachen quittierte – Witze erzählt und dann neben einem selbstgebundenen Buch seiner Späße auch Kaugummis und quietschbunte Pillen gegen Rheuma und andere Leiden feilgeboten hat. Als das Orange des Himmels nur mehr zu erahnen ist, liegt das Stadtzentrum hinter und noch zwölf nächtliche Fahrstunden bis nach Trinidad vor uns.

Die Heilige Dreifaltigkeit und der Kokainhandel
Trinidad - Hauptstadt des Departamento Beni, 90 000 Einwohner, nur 14° südlich des Äquators im Amazonasbecken am Fluss Arroyo San Juan gelegen. Ursprünglich wurde die Stadt 1686 als jesuitische Missionsstation mit dem Namen La Santísima Trinidad, Die Heiligste Dreifaltigkeit, am Río Mamoré gegründet. Knapp 100 Jahre später zwangen allerdings Überschwemmungen und Seuchen die Dreifaltigkeit zu einer Umsiedlung an den heutigen Standort.

Eine zweifelhafte internationale Aufmerksamkeit wurde Trinidad zuletzt 1991 zuteil, als Einheiten der US-amerikanischen Anti-Drogenbehörde DEA (Drug Enforcement Administration) die Stadt kurzzeitig besetzten, um den florierenden Kokainhandel zu sprengen. Seit damals bestehen hier angeblich noch vereinzelt Ressentiments gegen Touristen und US-amerikanische Reisende.

Bei unserer Ankunft verhält sich allenfalls das Wetter abweisend. Es ist drückend schwül, und als wir aus dem Bus steigen, beginnt es erst nieselig und kurz darauf heftig zu regnen. Ein typischer tropischer Morgen.
Plaza General José Ballivián in Trinidad

Nach kurzem Suchen im vor warmer Feuchtigkeit dampfenden Busbahnhof finden wir eine Transportgesellschaft, die Busverbindungen nach Rurrenabaque, eine Kleinstadt nahe des Río Yacuma, unterhält, zumindest manchmal. "Depende del tiempo" – das hängt vom Wetter ab, sagt der kleine, rundliche Ticketverkäufer und schielt lächelnd mit einem vagen Kopfnicken gen tropfenden Himmel. Frühestens aber gehe es am Mittag los.

Wir wollen die Stunden bis zur Weiterfahrt nutzen und fahren mit einem der verbeulten, grün-weißen Taxis ins Stadtzentrum. Inzwischen hat es aufgehört zu regnen, aber die tief am Himmel hängende Wolkendecke bleibt grau und geschlossen. Auch Trinidad ist wie die meisten anderen bolivianischen Städte schachbrettartig aufgebaut. Eine Besonderheit der Stadt sind die offenen, parallel zu den Straßen verlaufenden und mittelalterlich anmutenden Abwasserkanäle, die vor den Hauszugängen von kleinen Betonbrücken überspannt werden. In der Mitte des urbanen Schachbrettes ist ein Feld ausgespart - die für südamerikanische Städte obligatorische plaza. Neben Palmen und blühenden Büschen fällt ein Springbrunnen ins Auge: Aus der Mitte eines mit grün-angelaufenen Jaguarköpfen verzierten Bassins ragt eine Stele empor, an deren Fuß sich abwechselnd lebensgroße, metallene Figuren von mit Pfeil und Bogen bewaffneten Ureinwohnern und Flussdelfinen befinden. Ein Vorbote dessen, was uns außerhalb von Trinidad erwartet.

Gegen zwölf Uhr mittags sind wir zurück am Busbahnhof. Unser Ticketmann begrüßt uns mit einem breiten Grinsen und breitet die Arme aus. Er habe die Fahrkarten bereits ausgestellt. Innerhalb der nächsten Stunde erwarte man den Bus. Zeit ist relativ, das gilt auch in Trinidad. Wahrscheinlich ist sie hier sogar etwas relativer als anderswo, aber wir bezahlen die 150 Bolivianos (etwa 15 Euro) für die Passage schon einmal und setzen uns zum Warten auf unsere Rucksäcke. Vier Stunden und genau so viele Zwischennachfragen später biegt unsere flota um die Ecke. Sie trägt den eigenwilligen Namen Vaca Díez, Kuh Zehn. Der Ursprung des Namens ist auch auf Nachfrage beim Fahrer nicht eindeutig ergründbar. Wahrscheinlich beziehe sich der Name auf die gleichnamige Provinz im Departamento Beni. Vielleicht gehöre das Busunternehmen aber auch dem bolivianischen Senatspräsidenten, Großgrundbesitzer und Erdöllobbyisten Hormando Vaca Díez aus Santa Cruz, einem reaktionären Widersacher des im Dezember 2005 gewählten ersten Präsidenten aus den Reihen der indígenas, Evo Morales Ayma.

Auf jeden Fall könnte der Bus dasselbe Alter wie der Politiker haben, rostfleckig, verbeult und windschief wie er vor uns steht. Im Innenraum riecht es nach Urin und mate de coca, ein Tee aus den Blättern des Kokastrauches Erythroxylum coca, der an den Osthängen der Anden wächst und dessen Kultivierung seit Jahrzehnten Gegenstand erbitterter Querelen zwischen bolivianischen Bauern, Regierungsbehörden und internationalen Drogenfahndern ist.

Das Schiebefenster klemmt und bald gesellt sich der Geruch nach nasser Wolle und Schweiß hinzu. Nur zwei Händler machen uns Reisenden ihre Aufwartung und verkaufen Erdnüsse in kleinen Papiertüten und neongrüne Brause. Als wir schaukelnd auf eine Erdpiste am Rande des Stadtzentrums abbiegen, beginnt es erneut zu regnen.
Kathedrale, Trinidad

Rinder, Reis und ein badender Bus
Bereits nach einigen Minuten Fahrt endet die städtische Bebauung und der Bus rumpelt abwechselnd durch kleine Dörfer und vorbei an Reisfeldern und sumpfig-grünen Wiesen, auf denen Rinder grasen. Rinder und Reis, zwei wichtige Ertragsquellen im Agrarland Beni. Unser nächstes Etappenziel liegt etwa 300 Kilometer westlich von Trinidad: Rurrenabaque, eine Kleinstadt am Ufer des Río Beni, der die Grenze zum Departamento La Paz bildet. Der eigentümliche Name der Stadt, die meist kurz Rurre genannt wird, geht auf die Sprache der Tacana-Ureinwohner zurück und bedeutet übersetzt in etwa "Wasserlauf der Enten". Einige Kilometer hinter Trinidad verschlechtert sich die Qualität der Straße plötzlich rapide, der Bus hüpft und schaukelt, wird zusehends langsamer und kommt schließlich ganz zum Stehen. Vor uns mündet die Straße mit einigen morschen Holzpfählen direkt in den Río Mamoré. Nach kurzem Warten legt ein schiefes, motorisiertes Holzfloß an dem vorsintflutlichen Kai an. Alle Passagiere müssen aussteigen, dann wird der Bus behutsam auf die schwankenden Bohlen manövriert. Schließlich dürfen auch wir die Bretter betreten und das Floß legt ab. Begleitet vom monotonen Tuckern des Dieselmotors gleiten wir stromaufwärts über die gemächlich dahin fließenden Wassermassen, während am Ufer halb zerfallene Schiffswracks grüßen und Kinder mit übermütigem Lachen platschend von Pfahlbauten in den Fluss springen. Hinter einer schmalen Reihe von Bäumen, die beiderseits den Fluss säumen, liegt eine endlose, sumpfige Ebene, aus der nur hier und da einige Sträucher und Gehölz aufragen.

Am anderen Ufer erwartet uns eine aufgeweichte Schlammpiste. Es hat in den letzten Tagen des Öfteren geregnet und der Bus schlittert auf den aufgeweichten Bodenschichten wie auf Eis. Erste Horrorgeschichten machen die Runde. Er habe schon mal fünf Tage für den Weg nach Rurre gebraucht, erzählt ein älterer Mann mit feinen Gesichtszügen und grauem, breitkrempigen Hut. Vielleicht solle man sich lieber in einem Dorf ein Pferd nehmen, damit käme man schneller voran. "Madre mía! Wenn es dunkel wird, kommen die Mücken", sagt eine Frau, zieht bedeutungsschwanger die Augenbrauen empor und beginnt schon mal prophylaktisch damit, sich mit einem Tuch gegen die Blutsauger zu umwedeln. Ein kleiner US-Amerikaner mit weißem Rauschebart und blauem Jeanshemd spricht uns auf Englisch an: Ja, mit den Mücken müsse man hier leben. Für ihn sei das kein Problem, er sei auf dem Weg an die Grenzen der Zivilisation. Er wolle sich an einem kleinen Zufluss des Río Beni eine Holzhütte bauen, dort nach den Geboten Gottes leben und so viele der ansässigen Ureinwohner wie möglich bekehren. Ein Missionar auf Geisterfahrt. Unvermittelt unterbricht der Busfahrer alle Gespräche, indem er den Lautstärkeregler des Kassettendecks voll aufdreht. Scheppernd und knarzend dröhnt der von oben verordnete Gute-Laune-Cumbia Smash Hit durch unsere Kuh Zehn: Dame más gasolina – Gib mir mehr Sprit! Vielleicht eine Art Busfahrergebet.

Piste Trinidad-Rurrenabaque nach Regen
Straßenszene, Rurrenabaque

Unbeirrt schlittern wir voran. Abwechselnd dem rechten Straßenrand entgegen, dann – nach vielkehligem Protest der diesseits im Bus Sitzenden – auf den linken zu, und wieder von vorn. Unmittelbar jenseits der Piste beginnt morastiges Feld, vereinzelt auch flache Seen und Tümpel, in denen sich Brillenkaimane (Caiman yacare) suhlen und weiße Schmuckreiher (Egretta thula) staksen. Mehrmals steht der Bus quer zur Straße, so dass alle männlichen Passagiere aussteigen müssen, um ihn mit einem am Heck angebrachten Seil wieder parallel zum Straßenrand auszurichten. Natürlich geht dieses ungleiche Tauziehen nicht ohne einsinkende Knöchel, Stürze und Rutschpartien vonstatten. Nachdem wir eine besonders heikle Schlammschlacht erfolgreich geschlagen haben und uns noch glücklich in den Armen liegen, platzt ein Reifen. Wieder müssen alle Passagiere hinaus in die inzwischen herein gebrochene Nacht und zu den tatsächlich erwachten Mücken. Nach zwei Stunden ist das Reserverad aufgezogen, nach weiteren zwei Stunden platzt auch dieses und wird durch ein zweites Reserverad ersetzt. Das Spiel wiederholt sich noch einmal in den Mittagsstunden des nächsten Tages und der Reifen muss geflickt werden. Der Busfahrer und sein Gehilfe, die inzwischen abwechselnd seit 24 Stunden am Steuer sitzen, halten sich nur noch mit Hilfe von Kokablättern wach, die sie klein gekaut und mit Bikarbonat als Katalysator zu einer grünen Paste vermischt in ihren Backen lagern.

Heute scheint die Sonne und das Umland ist hügeliger und bewaldeter als gestern. In der Ferne hört man die hohen Rufe von Springaffen (Callicebus) und das durchdringend-anschwellende "ut-ut-ut-utututututut-kräähh" des Weißbrust-Ameisenwürgers Taraba major. Nach einem zähen Kampf mit den abgenudelten Radmuttern liegt unser Busfahrer unter dem Gefährt und stöhnt: "Quiero morir" – "Ich will sterben." Man nimmt ihm den Wunsch ab.


Text + Fotos: Lennart Pyritz

Weitere Veröffentlichungen des Autors:
www.spektrumdirekt.de/madagaskar
www.primate-sg.org/PDF/NP14.2.alouatta.bolivia.pdf

Lennart Pyritz hat am Reiseführer über Bolivien mitgewirkt, den ihr im Reise Know-How Verlag voraussichtlich ab April 2008 erhaltet.

Titel: Bolivien Kompakt
Verlag: Reise Know-How
Erscheint voraussichtlich im April 2008


[druckversion ed 04/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]


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