ed 11/2010 : caiman.de

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brasilien: Tötet die Mächtigen!
29. São Paulo Biennale - Aufregung um die Werke Gil Vicentes
THOMAS MILZ
[art. 1]
druckversion:

[gesamte ausgabe]


spanien: Ein Hoch auf Torremolinos
BERTHOLD VOLBERG
[art. 2]
peru: Inkas im Outdooroutfit
ROBERT GAST
[art. 3]
bolivien: Lithium
Was ein Salzsee mit Elektroautos zu tun hat
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 4]
mexiko: Leben im Umsteigebahnhof
Tijuanas Kampf gegen sein Negativimage
ANNIKA WACHTER
[art. 5]
brasilien: Evangelicos für Gottes Abgesandte
Umschwung in der Präsident/innen-Stichwahl 2010
THOMAS MILZ
[art. 6]
pancho: Nah am Brötchen
DIRK KLAIBER
[kol. 1]
erlesen: Bücher zu Lateinamerika
TORSTEN EßER
[kol. 2]




[art_1] Brasilien: Tötet die Mächtigen!
29. São Paulo Biennale - Aufregung um die Werke Gil Vicentes
 
Aufregung auf der diesjährigen São Paulo Biennale. Wer die großzügig geschwungene Rampe ins oberste Stockwerk des von Stararchitekt Oscar Niemeyer konzipierten Biennale-Gebäudes hinaufgeht, sieht sich Auge in Auge mit 10 etwa 1,5 mal 2 Meter großen Kohlezeichnungen des brasilianischen Künstlers Gil Vicente. Auf der "Inimigo" (Feind) getauften Bilderreihe ermordet der Künstler gleich reihenweise führende Persönlichkeiten des Weltgeschehens, darunter Brasiliens (Noch-) Präsident Luiz Inacio Lula da Silva, Großbritanniens Königin Elizabeth II. und Papst Bendikt XVI. Protest gegen die Provokation kam von der brasilianischen Anwaltskammer und der katholischen Kirche, doch noch immer hängen die Bilder an den Wänden des Betonbaus. Und der Verursacher freut sich über die willkommene Werbung.



Sowohl die Anwaltskammer als auch das Erzbistum, beide mit Sitz in São Paulo, taten in den letzten Tagen ihren Protest gegen die Bilder kund. Während die Anwaltsvereinigung besonders den angedeuteten Mord an Lula kritisierte, empörte sich die katholische Kirche gegen die auf Papst Benedikt XVI. gerichtete Waffe. "Die katholische Gemeinschaft ist traurig und fühlt sich angegriffen durch die Respektlosigkeit gegenüber Papst Benedikt XVI., der die Welt bereist, um seine Botschaft von Gerechtigkeit und Frieden zu verkünden", heisst es in der Stellungnahme des Erzbistums. "Gewalt gegen den Papst zu suggerieren oder sich diese vorzustellen, bereitet [uns] Traurigkeit und Empörung."

Die Anwaltskammer forderte die Kuratoren auf, die umstrittenen Werke von der Ausstellung auszuschließen. Doch der Aufruf stieß bei den Organisatoren auf taube Ohren. Was folgte, war eine in den Medien breit angelegte Diskussion über Meinungsfreiheit und darüber, was denn genau Kunst sei und was unter dem Deckmantel der Kunst erlaubt sei. Der Künstler selbst bekundet ob der Aufregung gemischte Gefühle. "All dies ist schlecht für die Biennale, weil es die Aufmerksamkeit von der Biennale selbst ablenkt", so Gil Vicente. "Für mich jedoch war dies eine wunderbare Werbung. Und zudem vollkommen kostenlos! Die Anwaltskammer jedenfalls kann sich meiner ewigen Dankbarkeit sicher sein!"



Bevor die Bilderreihe nach São Paulo kam, wurde sie bereits in mehreren Städten Brasiliens ausgestellt, doch erst hier führte sie zum "Eklat": in São Paulo überschattete die Aufregung um Vicentes Werke die Eröffnung der Biennale am letzten Wochenende. Wohl auch deshalb, weil wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen der überaus populär aus dem Amt scheidende Präsident Lula da Silva von Vicente das Messer an die Kehle gesetzt bekommt. "Diese Arbeiten sind die Früchte meiner Entrüstung über die Art und Weise, wie diese Typen die Welt führen", erklärt Vicente, die seit 2005 entstandenen Werke. Die dargestellten Personen hätten allesamt ihre Macht missbraucht, um sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen, so der aufgebrachte Künstler.

"[Kofi] Annan ließ Bush mit der UNO umspringen, wie er wollte, deshalb verdient er, dass sein Porträt Teil dieser Serie ist." Während der ehemalige UNO-Generalsekretär Annan, der ehemalige brasilianische Gouverneur Jarbas Vasconcelos und sein Nachfolger Eduardo Campos, George W. Bush, Brasiliens ehemaliger Präsident Fernando Henrique Cardoso, Queen Elizabeth II., Papst Benedikt XVI., Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad und Israels ehemaliger Premier Ariel Sharon mit einer Pistole niedergestreckt werden, wird Lula mit einem Messer bedroht. Der Mord an dem gefesselten Staatsmann sei das erste Bild der Serie gewesen. Danach, so der Künstler, kam ihm die Idee, die Waffengattung ein wenig zu variieren.



Gefragt, wieso die Bilder den Moment kurz vor den Morden zeigen, erklärt er: "Ich wollte kein Blut in meinen Bildern. Deshalb zeige ich lieber den Moment vor der Tat." Dass der Papst mit in die Bilderreihe aufgenommen wurde, habe nichts mit einer generellen Ablehnung der Religionen an sich zu tun. "Ich bin nicht gegen Religion. Aber ich bin gegen die Kirche, die die Macht hat, positiven Einfluss zu nehmen, aber das Gegenteil tut", so der Künstler. Der 1958 geborene Vicente lebt und arbeitet in Recife, im Nordosten Brasiliens. Dorthin reiste er dann auch nach der Eröffnung der Biennale , nicht ohne die Kunstwelt São Paulos verdutzt zurück zu lassen. Die 29. Biennale in São Paulo hat ihre Tore für alle Neugierigen noch bis zum 12. Dezember geöffnet.

Text + Fotos: Thomas Milz

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[art_2] Spanien: Ein Hoch auf Torremolinos
 
Das ehemalige Fischerdorf, 12 Kilometer westlich von Málaga gelegen, genießt nicht gerade den besten Ruf als Urlaubsparadies. In den 60er Jahren avancierte Torremolinos zum Touristenzentrum der Costa del Sol und es begann ein Bauboom, durch den die an vielen Stellen spektakuläre Steilküste kilometerweit mit Hoteltürmen und Appartment-Anlagen zubetoniert wurde. Man erntete schließlich den zweifelhaften Ruhm, in dieser Gemeinde die zweitgrößte Anzahl an Touristenbetten innerhalb Spaniens zur Verfügung zu stellen.

Torremolinos
Torremolinos
Torremolinos

Viel Unschönes ist seitdem über Torremolinos gesagt worden, manche nannten den Ort schon das "Benidorm Andalusiens". In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Bevölkerung dieser wuchernden Urbanisation dazu noch sprunghaft von 26.000 auf 65.000 Einwohner angestiegen und in den Sommermonaten wird diese Zahl durch fremde Sonnenanbeter locker verdoppelt. Aber so schlimm wie das Mittelmeer-Manhattan bei Alicante ist es hier bei weitem nicht.

Torremolinos ist besser als sein Ruf: hier wird für jeden Geschmack etwas geboten. Zum einen hat der Massentourismus auch Vorteile gebracht. Denn er hat für eine perfekte Infrastruktur gesorgt. Für alle, die aus dem Strand Dolce Vita die Flucht in die Kultur antreten wollen, gibt es sehr gute Verkehrsanbindungen an die attraktivsten Städte Andalusiens: Granada, Antequera, Ronda, Sevilla. Außerdem eignet sich Torremolinos hervorragend als Ausgangsbasis für Bergwanderungen in der Sierra de Mijas, die in nur 10 Kilometer Entferung liegt, der Sierra de Ronda oder im Karstgebirge El Torcal, beides erreicht man nach ca. 50 Kilometern.

Torremolinos Torremolinos Torremolinos

Und zum anderen muss man in dieser Touristenhochburg auf nichts verzichten. Das Hotel- und Restaurantangebot ist riesig, da ist für jede Vorliebe etwas dabei, vom ortsüblichen "pescaíto frito" bis zur französischen Haute Cuisine und der deutschen Bratwurst - und preisgünstiger als auf den Inselgruppen der Balearen oder Kanaren.

Ideal für einen munteren Strandurlaub ist Torremolinos allemal. Der 7 Kilometer lange Strand ist sauber und sehr gepflegt, durchsetzt mit kleinen Palmenoasen (z.B. entlang der Playa de Bajondillo) und zwischen Hotelklötzen und Appartmentblöcken kann man durchaus noch romantische Winkel und schöne alte Villen wie den 1925 von Antonio Navajas erbauten Palast im Neomudéjarstil entdecken. Dieser Prachtbau ist ein Relikt aus einer Zeit als es das Wort Massentourismus noch nicht gab und Reisen an die Sonnenküste das Privileg von ein paar reichen Engländern waren. Einigen gefiel es hier so gut, dass sie für immer blieben. Dabei würde diese Stadt an der Costa del Sol gar nicht mehr existieren, wenn es nach den Engländern gegangen wäre.

Torremolinos
Torremolinos
Torremolinos

Aber der Reihe nach, schließlich begann die Geschichte von Torremolinos mit den Römern, die an dieser Bucht auf dem Weg von Gades (Cádiz) nach Malaca (Málaga) eine Siedlung gründeten, von der eine kleine Nekropolis an der Plaza de Cantabria zeugt. Dann folgten die Araber, die hier während des gesamten Mittelalters (712 - 1492) herrschten. Aus dieser Epoche stammt das einzige wirklich alte Baudenkmal, der arabische Festungsturm, der um 1300 errichtet wurde und später dem ganzen Ort seinen Namen geben sollte: Torremolinos, der "Turm der Mühlen" - denn Jahrhunderte lang war der Turm umgeben von zahlreichen Getreidemühlen.

Kurioserweise taucht der Name erst offiziell auf, nachdem das Städtchen ausradiert worden war. Im Jahre 1704, während des Spanischen Erbfolgekriegs, kam die Stunde Null von Torremolinos: der englische Admiral George Rooke ließ den ganzen Ort niederbrennen und dem Erdboden gleichmachen (bis auf den arabischen Turm, der das Inferno überstand). - Ob die zahlreichen englischen Touristen, die heute hier durch die Gassen schlendern, wohl von der Zerstörung Torremolinos durch ihren Landsmann wissen?

Torremolinos
Torremolinos
Torremolinos

Ein paar Jahrzehnte blieb dieser Küstenabschnitt unbesiedelt bis in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder Häuser und Mühlen gebaut wurden. Die Lage an der Steilküste, die wie ein Balkon über dem Mittelmeer thront, war zu verlockend. Um 1900 gab es vereinzelt erste Touristen, in den 20er und 30er Jahren öffneten die ersten Hotels, aber richtig entdeckt wurde Torremolinos in den goldenen 50er Jahren als viele Hollywood-Stars hier Urlaub machten (Ava Gardner, Orson Wells, Marlon Brando u.a.). Nach den Berühmtheiten kamen die Massen und der Bauboom setzte ein - mit den bekannten und sichtbaren Folgen. Eine Begleiterscheinung war das schillernde Nachtleben, das sich nirgendwo im Franco-Spanien so liberal entfalten konnte wie hier bis das hemmungslose Treiben dem altersschwachen Diktator 1971, im "Jahr des Zorns", zuviel wurde und es zahlreiche brutale Razzien gegen Hippies, Homosexuelle und Drogensüchtige in den Bars von Torremolinos gab.

Torremolinos
Torremolinos
Torremolinos

Heute geht es in dieser mediterranen Touristenhochburg wieder deutlich toleranter zu. Für alle, die keine Angst vor großen Menschenansammlungen haben, ist Torremolinos ein wunderbares Beobachtungsfeld, denn es gibt wenige Orte, wo so gegensätzliche Menschentypen auf engsten Raum nebeneinander leben oder liegen - nicht nur am Strand. Da sieht man Großfamilien beim Picknick, Omas unterm Sonnenschirm mit Sandburgen bauenden Enkeln davor und schwule Bodybuilder-Paare direkt daneben. Lärmende Strand-Fußballer dribbeln mitten hindurch. Friedlich unter der Sonne Andalusiens vereint, feiern alle den Sommer, das Meer und die Jugend - die momentane oder die längst vergangene.

An den Stränden von Torremolinos geht alles, nur sind sie nicht unbedingt zur Meditation geeignet. Die kilometerlange Strandpromenade lädt zum eifrigen Sonnenuntergangsjoggen mit Meerblick ein und wer vom Schwimmen und von ausgiebigen Abend-Gelagen noch nicht müde genug ist, für den hält die andalusische Party-Metropole ein temperamentvolles Nachtleben bereit. So strömen um Mitternacht viele vom Bajondillo-Strand die steile Treppe zum Ortszentrum hinauf und auf dem Rückweg wird so manch einer, durch ein paar Mojitos in euphorisierten Zustand versetzt, auf dieser steilen Treppe mit besonders glatten Stufen gestürzt sein. Aber das Meeresrauschen und der Kaffeeduft, der bei Sonnenaufgang aus der ersten Bar strömt, lassen den Schmerz schnell vergessen.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Empfehlungen:

Torremolinos
Torremolinos
Torremolinos

Hostal und Restaurant GUADALUPE
Calle Peligro 15 (Playa Bajondillo)
29620 Torremolinos
Tel-Fax: 0034-952-381937
www.hostalguadalupe.com
In einem der ganz wenigen Altbauten direkt an der Strandpromenade wird in einfachen Zimmern richtiges Urlaubsgefühl vermittelt. Von den stets gut gelaunten Besitzern, die beim Servieren im Restaurant auch mal spontan (und gut) singen, immer hilfsbereit und als Entertainer agieren und ihr Restaurant mit viel schöner Keramik und Musik aus aller Welt zu einem sehr gemütlichen Lokal gemacht haben. Mittags und abends bieten sie hier ein günstiges und gutes Komplett-Menü an (besonders zu empfehlen die Seehecht-Medaillons, das "Paté de la Casa", Schweinefilet mit Malaga-Soße sowie die Linsen und andere Eintopfgerichte).

Bodega Quitapenas (Restaurant):
An der steilen Treppe gelegen, wo alle vorbei kommen auf dem Weg vom Strand ins Nachtleben und mit unübersehbarem Reklameschild ausgestattet, bietet dieses typisch andalusische Restaurant mit schöner Terrasse vor allem schmackhafte und preiswerte Fischgerichte in großen Portionen und eine sehr kleine, aber gut sortierte, Weinkarte. Besonders zu empfehlen sind die "Tartitas de camarones" (frittierte Reibekuchen mit eingebackenen Flusskrebsen), Backfisch (Bacalao) und die ganze Palette des "Pescaíto frito" (frittierte Fischspezialitäten). Sehr freundliche Kellnerinnen.

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[art_3] Peru: Inkas im Outdooroutfit
 
Der Wecker klingelte um 3:30 Uhr, zur unmenschlichsten aller Stunden. Mit müden Augen verließen wir unser Hostal in Aguas Caliente und folgten ein paar Bahngleisen, die in die pechschwarze Nacht führten. Erst nachdem wir fast von einem Zug überfahren worden waren, bemerkten wir, dass der richtige Weg doch nicht auf den Schienen lag. Orientierungslos und schlaftrunken blickten wir zum tosenden Urubamba hinunter, der ein Dutzend Meter unter uns durch das Tal floss. Da sahen wir sie: Gruppen von Leuchtkegeln in der Dunkelheit, die geschwinden Schrittes auf einer asphaltierten Straße am Fluss entlang eilten.



Wenig später befanden auch wir uns auf der Straße und konnten kaum glauben, dass wir sie zunächst nicht gefunden hatten. Alle paar Meter wurden wir von Menschen in stylischen Outdoorklamotten überholt, die mit ihren Stirnlampen und Wanderstöcken eher zu die Olympischen Spiele als zu einer Nachtwanderung zu passen schienen. Instinktiv fragten wir uns, was diese Menschen hier eigentlich machten, so mitten in der Nacht in diesem tropisch anmutenden Nebelwaldtal. Wahrscheinlich wollten sie genau wie wir ein bisschen wie die Inkas sein, wie diese über steile Stufen auf Berge kraxeln, Natur erleben und Pachamama huldigen. Und da das Tal, das wir durchquerten, kein gewöhnliches und die Ruine, zu der wir aufsteigen wollten, keine unbekannte war, befanden wir uns in Begleitung einer Menge anderer Leute. Tausende um genau zu sein. Schließlich war das da oben auf dem Berg das weltberühmte Machu Picchu, das vermutlich in Wahrheit ganz anders hieß, aber eben von Archäologen irgendwann mal  Machu Picchu getauft wurde. Die Berühmtheit dieser am besten erhaltenen Ruine der Inkas und die fünftausend Touristen, die die Anlage jeden Tag besuchen, waren dann auch der Grund für unser frühes Aufstehen gewesen. Etwas naiv hatten wir gehofft, damit den Massen zuvorkommen zu können.

Nachdem wir zwanzig Minuten am Ufer des Urubamba entlang gegangen waren, kamen wir an eine Brücke. Auf der anderen Seite des Flusses begann der Aufstieg zur Ruine. Die Uhr zeigte 4:15. Zu unserem Erstaunen sahen wir, dass sich eine Menschentraube vor der Brücke versammelt hatte - all jene Übereifrigen, die uns überholt hatten. Nun erfuhren wir auch den Grund, warum ihr Marsch hier ein vorläufiges Ende gefunden hatte: Vor kurzem war ein Tor an der Brücke installiert worden, das erst gegen 5:00 Uhr seine Pforten öffnet.

Der erste Touristenbus aus dem Tal fährt um 5:30 Uhr los und braucht 25 Minuten bis zu den Toren Machu Picchus. Selbige öffnen sich um Punkt 6:00 Uhr. Für den Aufstieg benötigte man etwa eine Stunde. Das neue Tor am Fluss sollte also wohl sicherstellen, dass die eifrigen Wanderer nach den bequemen Busreisenden ankommen. Passenderweise konnte man mit den Busreisenden sechs Dollar verdienen - und mit den Wanderern nichts. Leicht verärgert über diese Schikane waren wir verwirrt, dass niemand um uns herum diese Einsicht zu teilen schien. Stattdessen wurden Parolen wie "Let the race begin! High Five!" ausgetauscht.



Man mag sich fragen: warum überhaupt die Eile? Die Antwort lässt sich in zwei Wörtern zusammenfassen: Wayna Picchu. Auf diesen Gipfel, der einige hundert Meter über der Ruine von Machu Picchu thront, dürfen täglich nur 400 Leute steigen - eben jene, die zuerst das Gelände betreten. Deswegen das frühe Aufstehen. Deswegen die Menschen mit ausgeklügelter Wanderausrüstung. Deswegen unser verstärkter Unmut über die Sabotage des Busboykotts.

4:55 Uhr schließlich wurde das Tor an der Brücke geöffnet. Mehrere hundert Sportfanatiker stürmten durch das Nadelöhr - und verwandelten sich größtenteils innerhalb weniger Minuten in schnaufende Schweissmonster, die offenbar ihre Kräfte überschätzt hatten. Uns Heidelberger erinnerte das Spektakel etwas an den Gang zur Thingstätte in der Walpurgisnacht, nur mit weniger Betrunkenen und mehr fanatischen US-Amerikanern.

Etwas entnervt stiegen wir also schließlich doch noch antike Stufen hinauf, die in den steilen Hang des Nebelwaldes gehauen waren. Um uns herum Menschen, die immer stiller wurden, je weiter wir stiegen. Auf halber Strecke lichtete sich das Feld und wir fühlten uns fast allein - bis auf das Klacken der Wanderstöcke auf den Stufen unter uns. Über unseren Köpfen funkelten die letzten Sterne und hinter uns verdunkelte ein riesiger Bergfelsen den Himmel, an dem bald die Sonne aufgehen sollte. Wie ein stummer Riese schien er über dem noch schlafenden Urubamba-Tal zu wachen.

Als wir gegen 5:55 Uhr am Tor von Machu Picchu ankamen, dämmerte es bereits. Durchgeschwitzt reihten wir uns in eine Schlange ein und atmeten gerade durch, als der erste Bus um die Ecke bog. Noch ehe die Busreisenden ausgestiegen waren, bekamen wir unseren Wayna-Picchu-Stempel auf unsere Eintrittskarte. Nummer 33 und Nummer 34! Das frühe Aufstehen hatte sich doch gelohnt, wir hatten es geschafft - ohne Wanderstöcke, Stirnlampe oder Touristenbus.



Machu Picchu in der Morgenröte entschädigte schließlich für die Strapazen der letzten Stunden. Gegen 6:00 Uhr befanden wir uns sozusagen allein auf der riesigen Anlage. Wir konnten uns vorstellen, wie hier vor fünfhundert Jahren das Leben erwacht war, Inkas aus ihren nach Osten ausgerichteten Fenstern geblickt und den Tag willkommen geheißen hatten.

Um 7:00 Uhr dann bestiegen wir den Wayna Picchu über steile Stufen, die zu einer irreal hoch gelegenen Wachanlage führten, auf der einst Inka-Wachposten ins 800 Meter tiefer gelegene Flusstal gespäht hatten. Spätestens jetzt hatte uns der Zauber der Ruinen in seinen Bann gezogen. Wir waren uns sicher, dass das hier beeindruckender war, als alle zuvor besichtigten Inka-Ruinen (Pisac, Ollantaytambo) zusammen.

Wir verbrachten den Rest des Tages auf der Anlage. Zwischen 10:00 Uhr und 13:00 Uhr wurde diese durchaus erwartungsgemäß von sinntflutartigen Touristenströmen überschwemmt. Wir nutzten die Zeit für ein Mittagsschläfchen in einer abgelegenen Ecke. Als wir uns nachmittags an den Abstieg machten, waren wir zwar kaputt, aber fasziniert von dieser Stätte, die uns kurz in eine Welt versetzt hatte, die so weit von unserer entfernt zu sein schien wie der Mond.

Zurück in unsere Welt katapultierte uns dann aber Aguas Caliente: Sonnenverbrannte Touristenscharen in Flipflops, die breitbeinig eine enge Fußgängerzone entlang schritten und von allen Seiten von laut auf Englisch werbenden Restaurantbesitzern bedrängt wurden. Ob sie nicht das Abendmenu für US-$ 7 wollten - Happy Hour, Happy Hour! Nachdem wir uns am Tag zuvor in eines der Restaurants hatten locken lassen und schlecht gegessen hatten, suchten wir verzweifelt nach einer Alternative zur überteuerten Massenabfertigung.

Die Inkagötter schienen unseren Hilferuf erhört zu haben, denn wir entdeckten einen kleinen Markt, an dessen Seite eine versteckte Treppe in den zweiten Stock führte. In einer Oase der Ruhe aßen hier die Einheimischen an Markständen. Den Teller mit Reis, Gemüse und Lammfleisch bereitete eine nette Marktfrau innerhalb von fünf Minuten zu. Es war das kulinarische Highlight meines Peru-Aufenthalts.



So gedachten wir der Inka, die einst 500 Meter über unseren Köpfen Kartoffeln und Kochbananen verspeist hatten, und dabei unsere Sorgen wahrhaftig für die von Marsmenschen gehalten hätten.

Text + Fotos: Robert Gast

[druckversion ed 11/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]





[art_4] Bolivien: Lithium
Was ein Salzsee mit Elektroautos zu tun hat
 
Mitten auf dem gleißenden Weiß des Salar de Uyuni stehen ein paar Kegel aus Maschendraht, die mit orangefarbener Plastikfolie verkleidet sind. Auf der Spitze der Kegel drehen sich Räder klappernd im Wind. Im Innern der Kegel wird durch Schläuche Salzlauge nach oben gepumpt, die von den Rädern über die Kegel verteilt wird. An denen läuft sie nach unten, wobei das Wasser zum Großteil verdunstet. Übrig bleibt eine konzentrierte Salzlauge mit dem begehrten Lithium des Sees. Die ungewöhnliche Konstruktion ist der ganze Stolz des bolivianischen Projektleiters, des Bergbauingenieurs Jaime Claros: "Das Ganze begann an einem lauen Sommerabend in einem Garten in Freiberg bei Dresden. Ich saß gemeinsam mit Professor Wolfgang Voigt bei einem Glas Wein und plötzlich kam uns die Idee, wie man die Salzlauge eindampfen kann, um an das Lithium zu kommen."

Die Lithiumforschung am Salar de Uyuni ist ein gemeinsames Projekt der Universitäten Thomas Frias im bolivianischen Potosi und der Technischen Universität Freiberg bei Dresden. Beide Institutionen arbeiten seit über 40 Jahren immer wieder zusammen. Mit dem Forschungsprojekt am Salar de Uyuni ist die Partnerschaft zwischen den beiden Universitäten noch einmal intensiviert worden. Seit 2008 fliegt der Chemiker Professor Wolfgang Voigt regelmäßig nach Bolivien. Doch die Arbeitsbedingungen in dem Entwicklungsland erleichtern nicht unbedingt seine Forschung: "Man muss sich sehr genau überlegen, was man mitnimmt an den Salar, denn dort gibt es eigentlich nichts."

Die dem Salzsee am nächsten gelegene Stadt ist Uyuni. Ein kleiner, grauer, trostloser Ort mit gerade einmal 12.000 Einwohnern, der seine relative Größe und seinen Bekanntheitsgrad primär den Touristen verdankt, die von hier aus den Salar besuchen. Das Klima hier ist rau: Der Salar liegt auf einer Höhe von 3.600 Metern über dem Meeresspiegel in den Anden. Er ist fast fünf Mal so groß wie das Saarland. Eine wunderschöne, riesige, weiße Salzwüste, in der weit und breit keine Menschenseele lebt, wo es kein Trinkwasser gibt und kein Mobiltelefon funktioniert. Wer hier forschen will, muss in der Lage sein, mit wenig auszukommen.

Die Wissenschaftler haben nicht nur mit organisatorischen Problemen, sondern auch mit technischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Ziel ist die Erforschung der bis zu 120 Meter dicken Salzkruste, doch in Bolivien jemanden zu finden, der in der Lage ist bis zu solchen Tiefen zu bohren, ist nahezu unmöglich: "Wir haben zu Beginn mit einer einheimischen Bohrmannschaft und bolivianischem Gerät gearbeitet, doch nach zwei Wochen waren wir genau einen halben Meter tief. Zum Glück haben wir dann durch die Universität Freiberg ein Bohrgerät aus Deutschland bekommen, mit dem wir die entsprechenden Probebohrungen durchführen konnten."

Bei der Lithiumgewinnung gilt es zudem noch einen ganz anderen Punkt zu beachten: Die Rechte der ansässigen Landbevölkerung.

Heute sind Abgesandte der umliegenden Dörfer zu der kleinen Forschungsstation auf den Salar gekommen. Es sind einfache Bauern, die von Lamazucht und Kartoffelanbau leben. Sie tragen die typische Landestracht: Die Frauen weit schwingende Röcke, lange Zöpfe und Bowlerhüte, die Männer haben sich in Ponchos gehüllt. Jaime Claros erklärt ihnen, warum das Lithium so wertvoll ist und wie die zur Gewinnung installierten Kegel funktionieren.

Cirlaco Mamani Soliz ist Dorfvorsteher einer der anliegenden Gemeinden. Als Zeichen seiner Würde trägt er einen Beutel mit Cocablättern um den Hals. Er betrachtet die orangenen Kegel mit einer gewissen Ehrfurcht – und mit ein wenig Stolz: "Wir sind die Eigentümer des Salzsees, und wir können das auch mit Dokumenten belegen. Wir werden es nicht erlauben, dass sich andere hier bereichern. Das ist das, was ich dazu zu sagen habe."

Die Wissenschaftler versuchen, die Dorfbewohner in das Forschungsprojekt einzubeziehen, da gerade die indigene Bevölkerung Boliviens dafür bekannt ist, sich mit Hilfe von Streiks und Straßenblockaden zur Wehr zu setzen, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen. So etwas kann schnell das ganze Land und erst recht ein kleines Forschungsprojekt lahm legen. Deshalb werden die Dorfgemeinschaften bald jeweils eigene, vergleichbare Anlagen bekommen, mit denen sie im Auftrag der Universität Potosi die Salzlauge eindampfen sollen – und so etwas Geld verdienen können. "Das Konzentrat bringen wir dann in unser Labor an der Uni in Potosi, wo wir experimentieren, wie wir aus der Salzlauge qualitativ hochwertiges Lithium gewinnen können", so ein Sprecher der Universität.

Die Salzlauge in großen Fässern nach Potosi zu bringen ist ein aufwendiges Unterfangen. Die Stadt liegt zwar nur 200 Kilometer vom Salar de Uyuni entfernt, doch auf der schlechten Straße dauert die Fahrt rund sechs Stunden – wenn nicht, wie meistens, noch eine Reifenpanne dazu kommt.

An der Tomas Frias Universität in Potosi wird eine Technologie entwickelt, mit der das Lithium von den anderen Stoffen, die in der konzentrierten Salzlauge enthalten sind, getrennt werden kann. Das kleine Labor ist denkbar einfach: Keine Fenster, Holzboden, ein großer Tisch und im Regal ein halbes Dutzend Glasgefäße.

"Dass man wie in Deutschland einfach eine Vitrine zur Verfügung hat, von der man weiß, dass dort 20 sofort verwendbare Gefäße stehen, ist ein Luxus, den wir hier nicht haben. Die Anzahl ist begrenzt, man muss sich schon absprechen und zur Not die Gefäße halt auch mal selber auswaschen." Julia Schmitt lernte schnell, dass im Zweifel auch mal ein Marmeladenglas statt eines Erlenmeierkolbens zum Einsatz kommen kann. Die zierliche 25-Jährige studiert Angewandte Naturwissenschaften an der Technischen Universität Freiberg. In Deutschland hat sie unter anderem gelernt, wie Inhaltstoffe in einer Lösung bestimmt werden. Dieses Wissen sollte sie als Austauschstudentin in Potosi an die bolivianischen Kommilitonen weiter geben: "Angedacht waren zwei Monate. Nur, dass wir die ersten anderthalb Monate damit verbrachten, die Rahmenbedingungen zu schaffen, statt uns direkt an die Arbeit machen zu können, damit hatten wir nicht gerechnet." Denn dem Labor fehlte es nicht nur an Apparaturen und Gefäßen, sondern auch an Chemikalien.

Hinzu kommen die üblichen Probleme eines Entwicklungslandes: Stromausfälle und Wasserknappheit. In Kürze wird die Universität Potosi ein Technikum, eine Art Groß-Labor, erhalten. Dieses soll dann mit finanzieller Hilfe aus Deutschland perfekt ausgestattet werden. Die Geräte werden zum Teil in Bolivien gefertigt, zum Teil kommen sie aus Deutschland.

Allen technischen und organisatorischen Problemen zum Trotz hat das Projekt erste Erfolge zu verzeichnen. So zeichnet sich beispielsweise bei der Trennung des Lithiums von den übrigen Salzen ab, dass es dem Team gelingen könnte, ein neues Verfahren zu entwickeln, welches anschließend zum Patent angemeldet werden könnte: "Von allen Forschungsprojekten, die es am Salar de Uyuni gibt, sind wir am weitesten. Und das liegt einfach daran, dass die Universität Thomas Frias aus Potosi und die Technische Universität Freiberg gemeinsam an dem Projekt arbeiten. Und diese Zusammenarbeit wird auch in Zukunft stattfinden", so der Projektleiter.

Bis allerdings das obige Verfahren soweit verfeinert sein wird, dass damit Lithium im großen Stil gewonnen werden kann, wird es noch eine Weile dauern. Und ganz gewiss werden noch eine ganze Reihe weiterer Schwierigkeiten auftreten, mit denen niemand gerechnet hat. Da ist es gut, dass das Forscherteam die technische Versiertheit der Deutschen und das Improvisationstalent der Bolivianer in sich vereinigt.

Text + Fotos: Katharina Nickoleit

Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den Ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

Titel: Bolivien Kompakt
Autorin: Katharina Nickoleit
252 Seiten
ISBN 978-3-89662-364-5
Verlag: Reise Know-How
2. Auflage 2009

[druckversion ed 11/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_5] Mexiko: Leben im Umsteigebahnhof
Tijuanas Kampf gegen sein Negativimage
 
Im Zentrum Tijuanas riecht es überall nach gebratenem Fleisch. Zwielichtige Männer mit Kapuzen wickeln Geschäfte in den kleinen Gassen hinter der Kirche ab. Polizeisirenen jaulen und verrostete Autos knattern über schlaglochübersäte Kreuzungen. Neben Kinderfilmen hängen Porno-DVDs in den Schaufenstern. US-Amerikanische Besucher torkeln nachts von Bar zu Bar. Während die Türsteher des Strip-Clubs "Gentlemen‘s Club Hong Kong" sich mit einem Minderjährigen und dessen gefälschtem Ausweis herumärgern, bildet sich dahinter eine Menschenschlange aller Altersklassen.

Besonders in den ersten Jahren nach der Gründung Tijuanas waren die Straßen stets mit US-Amerikanern gefüllt. Tijuana entwickelte sich ab 1920 zur Stadt, als in den USA durch die Prohibition das Trinken von Alkohol generell verboten wurde. Viele Kalifornier, vor allem Einwohner San Diegos, reisten in die schnell wachsende Nachbarstadt, in der bald danach auch das erste Spielkasino entstand. Im Gegensatz zu den USA war Glücksspiel in Mexiko offiziell erlaubt. Die Amerikaner amüsierten sich und ließen ihr Geld in der aufblühenden Kleinstadt. Noch immer trägt Tijuana den Stempel einer heruntergekommenen Partyhochburg.

Torremolinos
Torremolinos
Torremolinos

Manu Chao  bringt es 1998 mit "Welcome to Tijuana, Tequila, Sexo, Marihuana" auf den Punkt. Tequila, Sex und Marihuana sind in Tijuana leicht und billig zu bekommen. Und auch die ewigen Schlagzeilen um Morde und Drogenbosse, Korruption und Misshandlung von Seiten des Tijuana-Kartells kommen nicht von ungefähr. Doch Tijuana hat viel mehr zu bieten als Drogen und Kriminalität.

Kunst und Kultur gewinnen in der skurrilen Grenzstadt immer mehr an Ansehen. Tijuana wird für seine Ausstellungen, Museen, Lesungen und Graffitis geschätzt. Auch wenn San Diego in Sachen Museen noch die Nase vorne hat, sind Tijuanas Bemühungen um Weiterentwicklung erfolgreich. Tijuana wird innovativ: 3D-Produktionen und Animationsfilme, die in Mexiko viel Anklang finden, werden zukünftig auch vor Ort produziert. Ein kleines Hollywood soll aus der Stadt mit dem tristen Image werden. Zudem sind kleinere Ausstellungen und sogenannte Straßenkunst stark im Kommen. Das ist schon an der berühmten Partymeile "Avenida Revolución" zu erkennen, die von oben bis unten mit Graffiti besprüht wurde.

Dort zeigt sich Tijuana in seinen unterschiedlichen Facetten. An der Ecke Calle Octava und Avenida Revolución, kurz "Revu", reiht sich Souvenirshop an Souvenirshop. Es wird mit Tequila, Sombreros, Mariachi-Figuren und bunten Masken von mexikanischen Ringern, den sogenannten "Luchadores", geworben. Bezahlt werden kann, wie fast überall in Tijuana, mit Pesos oder Dollars. Wer die "Revu" weiter entlangläuft, trifft auf Saloons und Kantinen mit Schwingtüren wie sie in den alten Western-Schinken zu sehen waren. Diverse Diskotheken in den oberen Etagen werben mit günstigen Preisen pro Eimer voller Bierflaschen. Weiter unten schallt "Wouldn’t it be nice" von den Beach Boys aus einem US-Diner mit roten Plastikpolstern im 50er-Jahre Stil, in dem neben mexikanischen Burritos auch Milchshakes und Hamburger angepriesen werden. Auf dem Gehweg unterhält sich ein älterer Mann mit dem rauchenden Verkäufer eines Tacostandes, an dem eine Tafel mit Werbung für den Strip-Club an der Ecke lehnt. Eine kleine, untersetzte Frau versucht währenddessen, den Herren Taschenlampen zu verkaufen. Das ist das Tijuana der Touristen. Für viele Mexikaner, die sich auf der Durchreise in die USA befinden, ist die Stadt selbst jedoch völlig nebensächlich.

Torremolinos Torremolinos Torremolinos

Torremolinos
Torremolinos
Torremolinos

Dass Tijuana die meistbesuchte Stadt der Welt ist (wenn man dem Graffiti in der Avenida Revolución glaubt), liegt nicht etwa an der Schönheit der Stadt, sondern an der Grenze zu San Diego, der US-Amerikanischen Stadt auf "der anderen Seite", wie die "Tijuanensen" gerne sagen. Der Grenzübergang San Ysidro gilt als einer der meistfrequentierten der Welt und im Radio kommen halbstündlich im Anschluss an die Nachrichten die aktuellen Wartezeiten an der Grenze. Eine Stunde ist dabei auch für Pendler nichts Außergewöhnliches. Um "auf die andere Seite" zu gelangen, ist ein bisschen Warten das kleinste Übel. Ein einmaliges Touristenvisum gibt es für Mexikaner nicht. In die USA einzureisen ist nur mit einem Zehn-Jahres Visum möglich, das viel Geld kostet und jederzeit ohne Angebe von Gründen wieder eingezogen werden kann. So kommt es, dass viele Mexikaner, die in den USA Dollars verdienen wollen, als "Wetbacks" illegal einreisen. Wer geschnappt wird, wird direkt an die Grenze nach Tijuana zurückgeschickt, meist ohne Geld.

Für viele der dort lebenden Menschen ist Tijuana nichts weiter als eine Durchgangsstation. Man fühlt sich wie auf einem Umsteigebahnhof, wenn man durch die Straßen der 1,5 Millionen-Einwohner-Stadt wandert. Niemand legt Wert auf ein angenehmes Lebensumfeld oder kümmert sich um die Folgen seines Handelns: Müll wird in die Ecken geworfen und was kaputt geht, bleibt eben kaputt. Man bleibt ja ohnehin nicht lange genug, um sich einrichten zu müssen, sollen sich die Nächsten halt darum kümmern.

Viele der Einwohner sind gescheiterte USA-Einwanderer, die letztendlich in Tijuana eine Arbeit gefunden haben oder denen das Geld für die Heimreise oder einen weiteren teuren Einreiseversuch fehlt. Andere arbeiten offiziell in den USA, aber bevorzugen, der Mietpreise oder der Familie wegen, Tijuana als Wohnort. Allerdings zeigt sich, dass immer mehr Menschen hier leben, einfach weil sie die Grenzstadt mögen.

Torremolinos
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Nach und nach entwickelte sich in Tijuana eine völlig neue Selbstsicherheit. Heute sind die Einwohner stolz auf ihre Stadt. Viele tragen Buttons, T-Shirts und Aufkleber mit dem Slogan "Yo Amo Tijuana", Ich liebe Tijuana. Andere ziehen diverse kulturelle Spektakel, wie die "Tijuana Innovadora 2010" (http://www.tijuanainnovadora.com/) und die "Tequila Expo" auf. Beide Events erfreuen sich großer Beliebtheit. Besonders viel Einsatz zeigen junge Tijuanensen für das Projekt "Pa‘ Bailar Tijuana", Tanz für Tijuana (www.pabailartijuana.com). Zeitgleich tanzen hierfür in Flashmob-Manier Junge und Alte, Männer und Frauen auf den großen öffentlichen Plätzen der Stadt einen zuvor sorgfältig einstudierten Tanz. Nach dem großen Erfolg der Premiere im Oktober 2010 soll das Spektakel jetzt jedes oder jedes zweite Jahr wiederholt werden.

Torremolinos
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Ziel ist die Schaffung eines Zusammengehörigkeitsgefühls und die Erkenntnis, dass es sich lohnt aus dem kalten Umsteigebahnhof Tijuana ein wirkliches Zuhause zu machen.

Text + Fotos: Annika Wachter

[druckversion ed 11/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: mexiko]

Die Autorin auf Tour – absolut lesens- und schauenswert!
Annika & Roberto sind mit dem Fahrrad nach Süd-Ost Asien unterwegs
Ihren Blog zum Trip "Tasting Travels – tasting the cultures of the world" findet ihr unter:
www.tastingtravels.com





[art_6] Brasilien: Evangelicos für Gottes Abgesandte
Umschwung in der Präsident/innen-Stichwahl 2010
 
Als der Kandidatin Dilma Rousseff im ersten Wahlgang am 3. Oktober gut drei Prozent zur absoluten Mehrheit fehlten, machten Experten sofort die evangelikalen Pfingstsekten als Hauptverantwortliche aus. Deren Anhänger hätten sich im letzten Moment von Dilma ab- und der Grünen Marina Silva zugewandt, die - anders als Lulas Kandidatin für das Präsidentenamt - ja selber einer Pfingstgemeinde angehöre. Zudem schadeten Dilma Gerüchte über ihre angeblichen Positionen zur Abtreibung und zur Homo-Ehe. - Dass Dilma am Abend des 31. Oktober aber doch noch als Siegerin aus den Stichwahlen hervor gehen konnte, verdankt sie nicht zuletzt einer gewichtigen und stimmgewaltigen Kampagne bei den Pfingstlern. Erinnerungen an einen Umschwung.

"Gott hat das Krebsleiden aus ihrem Körper gerissen. Bedarf es eines überzeugenderen Beweises?" Fragend schaut Benedita da Silva in den mit gut 200 Pastoren besetzten Saal. Teresopolis, ein schmuckes Touristenstädtchen hoch in den Bergen über Rio de Janeiro. Noch 10 Tage bis zur Stichwahl am 31. Oktober. In einem schicken Hotel trifft sich die regionale Führung der in Brasilia regierenden Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT) von Staatschef Luiz Inacio Lula da Silva mit den lokalen Führern der wichtigsten Pfingstkirchen, den Evangelicos. Für Lulas Kandidatin Dilma Rousseff will man unter den Gläubigen um Stimmen bitten und Zweifel an ihrer Position zur Abtreibung und zur Homo-Ehe aus dem Weg räumen.

Dilma Rousseff

Luiz Inacio Lula da Silva


In Teresopolis, immerhin eine Hochburg der PT und der Evangelicos, hat Dilma im ersten Wahlgang überraschend schlecht abgeschnitten. Gut 19.000 Stimmen hat sie hier erhalten. Ihr PT-Kollege, der für das Parlament kandidierte, bekam doppelt so viele. In den letzten Wochen vor der Wahl sorgten Gerüchte über Rousseffs angebliche Pro-Abtreibungshaltung für Unruhe bei den Wählern. Und auch der Homo-Ehe soll sie positiv zugeneigt sein. Nichts als von der Opposition gestreute Verleumdungen, versichert man den Zuhörern. Gift sei das trotzdem für ihre Wahlchancen gewesen, meinen viele.

Doch jetzt wird gegengesteuert. Eigens aus Rio ist Benedita da Silva angereist, eine im wahrsten Sinne gewichtige Vertreterin der PT im Bundesland Rio de Janeiro, den sie einst als erste afro-brasilianische Gouverneurin regierte. Zuerst stimmt das bekennende Mitglied der Pfingstkirche Assembleia de Deus ein Gospellied an, dann verteidigt sie leidenschaftlich die zutiefst christlichen Überzeugungen der einstigen bekennenden Stalinistin Dilma.

Benedita da Silva


Diese war im letzten Jahr von einem schweren Krebsleiden heimgesucht worden, ihre Kandidatur stand auf der Kippe. Jetzt sei sie geheilt und stärker als jemals zuvor im Glauben verankert, so Benedita. Gott sei Dank!, ruft sie in die Menge. Bedarf es eines überzeugenderen Beweises dafür, dass sie eine Vorbestimmte sei, eine Abgesandte Gottes für die schwere Aufgabe, Brasiliens soziale Krebsgeschwüre zu heilen?

Organisiert wurde das Treffen von Marcelo Crivella, dem wiedergewählten Senator Rio de Janeiros. Crivella ist einer der Führer der "Universal-Kirche vom Reich Gottes" (Igreja Universal do Reino de Deus), Brasiliens einflussreichster Pfingstkirche, die von seinem Onkel Edir Macedo Ende der 70er Jahre gegründet wurde. Einst ein leidenschaftlicher Gegner Lulas, schlug sich Macedo im Wahlkampf 2002 auf die Seite des bekennenden Katholiken Lula. Dafür wählte dieser seinen Vize-Präsidenten Jose Alencar aus den Reihen der Universal aus, die ihm mit Millionen Stimmen an den Urnen dankte.

Senator Marcelo Crivella


Für Crivella ist die Allianz zwischen der Arbeiterpartei und den Evangelicos eine natürliche Konsequenz der gesellschaftlichen Entwicklung des Landes, des Aufstiegs Millionen armer Familien in die Mittelschicht. Die Evangelicos hätten eine Botschaft, die dem historischen Moment Brasiliens viel besser entspräche als die Position der stets den Status-Quo verteidigenden katholische Kirche, so Crivella. "Das Land hat immenses Potential und eine großartige Perspektive für die Zukunft und wir Evangelicos sind stets bemüht, durch ständiges Lernen unseren Lebensstandard zu verbessern."

Als die jetzige Opposition Brasilien regierte, wuchs die Ungleichheit immens an, so der Senator. "Unter Präsident Lula haben wir diese verringert, 20 Millionen Menschen aus der Armut geholt und Einkommen umverteilt - das ist das Brasilien das Dilma sich wünscht." Dumm wäre es da natürlich, wenn vom politischen Gegner gestreute Unwahrheiten über Dilmas religiöse Überzeugungen die perfekte Allianz stören würden.

Für den Soziologen Edin Sued Abumanssur entspringt dieses Bündnis zum einen dem politischem Kalkül des bekennenden Katholiken Lula. "Die Universal ist viel näher an Lulas politischer Basis als die Katholiken, sowohl im Kongress als auch in der Gesellschaft. Und Lula nutzt das sehr geschickt aus, schließlich ist er ja nicht dumm", so Abumanssur, der an der katholischen Universität São Paulo Religionswissenschaften lehrt. "Lula sieht das Potential, das diese Kirchen haben."

Dilma Rousseff
zum Aufkleben


Aber nicht nur Lula und Dilma profitieren von der Allianz, meint Abumanssur. "Die Universal will aktiv an der Regierung beteiligt sein. Das garantiert, dass Universalgründer Edir Macedo nicht ins Gefängnis geht oder die Kirche vom Fiskus geschröpft wird." Denn seit Jahren ermittelt ausgerechnet die Staatsanwaltschaft in Oppositionskandidat Jose Serras heimischen Bundesstaat São Paulo wegen diverser Vergehen gegen die Universal und ihre Führer, darunter Edir Macedo. (Der Prozess wurde zwei Wochen vor der Stichwahl der Staatsanwaltschaft São Paulo entzogen, da diese nicht zuständig sei. Ab sofort soll die Bundesjustiz der Hauptstadt Brasilia sich um den Fall kümmern, der nun erneut komplett aufgerollt werden muss.)

"Das garantiert zudem, dass der TV-Sender Rede Record in der Hand von Edir Macedo bleibt", so Abumanssur in Anspielung auf das von Universal aufgebaute Medienimperium aus TV- und Radiosendern. Im Kongress liege der Fokus der Aktivitäten der den Pfingstkirchen angehörenden Parlamentarier deshalb in der Kommission, die die Sendelizenzen für Radios und Fernsehsender vergibt.

In Teresopolis geht die Kundgebung nach einem fürstlichen Buffet zu Ende. Den Anwesenden ist klar, dass es bei der Unterstützung für Dilma Rousseff um die Verteidigung christlicher Glaubensinhalte gegen den Neo-Liberalismus der Opposition geht. Diese Botschaft soll nun von jedem Einzelnen in seine Gemeinde hineingetragen werden. Es gibt viel zu tun in den letzten Tagen vor der Wahl, doch auch viel Grund zur Hoffnung auf einen satten Stimmenzuwachs bei der Stichwahl am Sonntag. Hatte doch Senator Crivella in Teresopolis im ersten Wahlgang doppelt so viele Stimmen bekommen wie Dilma Rousseff. Die Allianz könnte also reiche Früchte tragen.

Text, Interviews + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 11/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[kol_1] Pancho: Nah am Brötchen
 
Maria Josefa Hausmeister, was ist nur los mit dir? Wieder Unlust, wieder nicht arbeiten? Was? Du würdest ein Freudentänzchen wagen für ein Gläschen Wein? Ne ganze Flasche? – Ich bin so froh, dass ich du bin und bin wie ich bin, dass mir das Leistungslieschen nicht permanent im Nacken sitzt. Mein Leben ist so schön, einfach und friedvoll. Ich kann mich nur immer wieder selber loben. Ich bin mein vorbildlicher Schmetterling, meine inspirierende Gelassenheit, meine Lust auf Leben.

Seit ein paar Tagen höre ich, Maria Josefa Hausmeister geborene Guacamol, in mich hinein, ich lausche meiner internen Kommunikation. Ein Artikel hat mich darauf gebracht. Es war ein Artikel über den Zusammenhang des externen Kommunikationsverhaltens mit dem internen, publiziert in einer Wochenbeigabe einer spanischen Tageszeitung. Da ich für mich die Dinge des Lebens, um sie selber zu verstehen, auf ein Minimum herunter brechen muss, fasse ich den Inhalt wie folgt zusammen:

Besteht ein Problem in der Art und Weise wie ich nach außen kommuniziere, dann kann ich dies langfristig nur ändern, wenn ich meine interne Kommunikation umstelle.

Ich war gerade in Spanien angekommen und hatte mich direkt aufs Rad geschwungen, um nach Figueres zu fahren. Ich wollte ein paar Grundnahrungsmittel erwerben, die ich bei uns im Dorf nicht bekomme. Auf dem Rückweg, fast vor unserer Haustür stoße ich auf eine stattliche, platt gefahrene Schlange.

Hätte ich Angestellte – sagen wir mal ich wäre Köchin und meine zwei Assistentinnen bzw. Assistenten hießen Maria Daimler und Rudi Django Maria – dann würde ich die beiden von morgens bis abends loben: "Ach, das habt ihr aber wieder fein gemacht." Zumindest wäre dies so, wenn ich meine permanente interne Lobhudelei nach außen spiegelte: "Ist nicht wahr. Ihr habt heute zusammen zwei ganze Brote gebacken, dann habt ihr euch aber wirklich einen Tag im Saunaparadies verdient. Nehmt euch gleich morgen frei – und jetzt lad ich euch ein auf ein leckeres Gläschen katalonischen Cava."

Wenn ich eine Schlange wäre und mir aussuchen könnte, wo ich in Europa leben würde... Wärme hab ich gern, Fisch mag ich und vor allem Octopus. Hinterher einen Uzo! Also Griechenland. Oder? Özil spielt doch jetzt in Madrid und der macht doch diese Werbung für die streichzarte Schokoladencreme. Bin ich Fan von, also doch lieber Spanien.

"Maria Josefa Hausmeister!"
"Pancho!"
Maria Josefa stößt einen Freudenschrei aus. "Pancho. Mein Herz, mein Himmelsstürmer, mein Vanillesößchen."
Pancho lächelt, als ob es keinen sonnigeren Tag als diesen wolkenverhangenen geben könnte. "Ich habe deinen Worten gelauscht und du hast Gelüste geweckt, die Ewigkeiten verschollen waren." Pancho schmatzt zutiefst beseelt in die Luft: "Mein Favorit zu jeder Tageszeit als ich noch ein Teenager war und zu Hair - auf VHS - den guatemaltekischen Huipil getragen habe ... war ein geteiltes Brötchen ungleich bestrichen mit eiskalter, salziger Butter. Darüber dann Nutella, wobei die Butter an einigen Stellen, und zwar genau an denen, an denen sie besonders großzügig aufgetragen war - kalte Butter lässt sich ja kaum streichen, daher war sie eher geschnitten - durch die Nutella durchscheinen musste. Und als krönender Abschluss: scharfe, schmackhafte, frische, grüne Chilischoten in Ringe geschnitten - mit Kernen natürlich."



Angestellte habe ich keine, aber eine Reihe Beziehungen. Wenn ich nun meine äußere Kommunikation auf intern übertragen würde, müsste ich mich ununterbrochen mit Wühlmaus, Federstößchen, Krokanttaler, Schneeweißchen, Purpurschneckchen, Zartbitter, Flöckchenpower oder Schöner Himmel ansprechen.

Hey du bekacktes, unreflektiertes Zwillingsmädchen. Schon die Schlange, Maria Daimler, Rudi Django Maria und Pancho vergessen? Multipel durch Geburtstermin im Mai/Juni. Bleib du mal bei deinem innerkommunikativen Höhenflug und scharfen Schokobrötchen. Und lass schlummern, was platt gewalzt da vor der Haustür ruht. – Mein Leben ist so schön, einfach und friedvoll. Ich kann mich nur immer wieder selber loben. Ich bin mein vorbildlicher Schmetterling, meine inspirierende Gelassenheit, meine Lust auf Leben. Mein Kommunikationsverhalten ist verhalten, aber auf ein umgängliches Gerüst gestützt, bald 40 Jahre gewachsen rund um die verschiedenen Seelen meiner gefüllten Brust. Würde ich mir jeden Tag selbst zu hören, meiner inneren Kommunikation Aufmerksamkeit schenken und Kommunikations- und Verhaltensmuster lautstark nach außen kehren, dann wäre Schluss mit der Gesellschaftsfähigkeit.

Pancho, das ist ja köstlich. Kurz beansprucht die Süße der Schokoladen sämtliche Geschmacksknospen, da mischt sich schon die salzige Komponente unter, so dass das empfindsame Verkostungssystem erst gar keine Chance hat, Langeweile zu verspüren. Denn von der Zungenspitze aus dringt unweigerlich die Schärfe vor. Nie aber wird sie zu dominant, sondern ergänzt den spannungsgeladenen Tanz zu einem süß-salzig-scharfen Balsam für die verschiedenen Seelen.


Text + Foto: Dirk Klaiber

[druckversion ed 11/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: pancho]





[kol_2] Erlesen: Bücher zu Lateinamerika

Nikolaus Werz’ Einführung zu Lateinamerika liegt in einer zweiten, aktualisierten Fassung vor. Das Werk des Rostocker Universitätsprofessors für Vergleichende Regierungslehre ist in der Reihe "Studienkurs Politikwissenschaft" erschienen und richtet sich denn auch vornehmlich an Geschichts- und Politikstudenten. Es ist in 15 Kapitel unterteilt, da es sich an "die durchschnittliche Veranstaltungszahl eines Semesters anlehnt" und behandelt dort Themen wie Gesellschaftsstruktur, Populismus, Religion, Rechtsstaat, Parteien, Demokratie, Politische Kultur etc. (ich hätte mir ein Kapitel zur wichtigen Rolle der Medien gewünscht).

Nikolaus Werz
Lateinamerika: Eine Einführung
418 S., 24,90 €
Nomos, Baden-Baden, 2. Auflage, 2008



Politik steht im Zentrum der Betrachtung dieser Einführung, trotzdem gibt es zu Beginn eine landeskundliche Einführung, die meiner Meinung nach leider etwas zu kurz geraten ist, vor allem der Teil über die "Kultur" - einige der 22 Seiten des viel zu speziellen Kapitels über die Deutsche Lateinamerikaforschung hätten dafür eingespart eingespart werden können. Natürlich lässt sich darüber diskutieren, inwieweit Literatur, Film, Malerei, Musik etc. in einem politikwissenschaftlichen Werk erwähnt werden sollen, aber mit Einschränkungen spielen sie oft auch bei politischen Veränderungen eine essentielle Rolle, werden aber gerne vernachlässigt. Darüber hinaus sollten sich Lateinamerikaforscher fragen, wie das Interesse junger Menschen/Studenten an diesem Kontinent entsteht, wohl eher selten durch empirische Untersuchungen zu politischen Systemen...

Von diesem Defizit abgesehen, handelt es sich um eine sehr guten Überblick Lateinamerikas, seiner Geschichte und politischen Systeme, wobei die "großen" Staaten stärker gewichtet werden als die mittelamerikanischen oder Anden-Länder. Da es sich um ein Studienbuch handelt, findet sich am Ende eines jeden Kapitels ein didaktischer Teil mit vertiefenden Fragen, Literatur- und Filmtipps sowie Links; Tabellen und Grafiken im Text bieten, wo nötig, gute Überblicke.



Im Nomos-Verlag sind zwei weitere Werke zu Lateinamerika erschienen. In ihrer Festschrift für Prof. Andreas Boeckh aus der Reihe "Weltregionen im Wandel" vertiefen Patricia Graf, Thomas Stehnken und weitere Schüler und Weggefährten Boeckhs einzelne Aspekte des Kontinents.

Patricia Graf / Thomas Stehnken (Hrsg.)
Lateinamerika: Politk, Wirtschaft und Gesellschaft
244 S., 45 €
Nomos, Baden-Baden, 2008



Aus dem Themenspektrum der 14 Beiträge, das von der Erdölwirtschaft in Venezuela bis zur chilenischen Literatur reicht, möchte ich drei hervorheben, die zentrale Themen für einen möglichen "Wandel" des Kontinents zum Positiven behandeln: "Was hält moderne, komplexe Gesellschaften zusammen? Was befähigt sie dazu, sich kollektive Ziele zu setzen und diese erfolgreich zu verfolgen?", fragt Christian von Haldenwang zu Beginn seines Artikels. Und wer nun denkt, dass er über das Nationalgefühl schreibt, liegt weit daneben. Er beschäftigt sich mit den Steuersystemen Lateinamerikas, beschreibt ihren Zustand, ihre weitreichenden Defizite und deren Folgen für den internen Zusammenhalt der lateinamerikanischen Gesellschaften. Hartmut Sangmeister behandelt den "Technologischen Wandel und die internationale Wettbewerbsfähigkeit Lateinamerikas" und zeichnet ein eher düsteres Bild des Ist-Zustands dieses Kontinents, der dabei ist, den Anschluss an die Wissensgesellschaft zu verpassen. Sangmeister zeigt Alternativen auf, doch leider weckt die Lektüre der vielfältigen Herausforderungen in mir Zweifel, ob die Gesellschaften Lateinamerikas (heute) in der Lage sind, diese anzugehen. Was häufig an ihren Eliten liegt, womit wir beim dritten, wichtigen Beitrag wären: H.C.F. Mansilla hat sie zum Thema gewählt und nach der Lektüre seines Artikels haben die Zweifel eher zugenommen, ob der Kontinent (mit Ausnahme von Chile und Brasilien) es aus eigener Kraft schafft, eine bessere, vor allem gerechtere und ökologischere Zukunft zu gestalten. Die Eliten müssten diese Artikel lesen und verstehen, dann gäbe es mehr Hoffnung.



Auch der von Peter Birle herausgegebene Band befasst sich mit dem Wandel des Kontinents. In elf Beiträgen stellen deutsche Lateinamerika-Experten die Wandlungsprozesse kontinentübergreifend sowie in fünf Ländern dar. Dabei spielen wieder die Eliten eine wichtige Rolle, die - so die Analyse von Peter Thiery - nur in drei Ländern (Chile, Costa Rica, Uruguay) gelernt haben, Demokratie als Ziel an sich zu begreifen und sie nicht nur als Mittel auf dem Weg zur Macht zu sehen. Gleichwohl gilt auch dort noch, dass die demokratischen Institutionen durch Skandale etc. schnell aus dem Gleichgewicht gebracht werden können.

Peter Birle (Hrsg.)
Lateinamerika im Wandel
248 S., 39,90 €
Nomos, Baden-Baden, 2010



Ebenso wichtig wie ein funktionierendes Steuersystem ist zur Stabilisierung der Demokratie ein gesichertes staatliches Gewaltmonopol. In diesem Zusammenhang wecken die täglichen Schreckensmeldungen aus Mexiko keine großen Hoffnungen. Das gilt auch für die Prozesse der regionalen Integration, die Peter Birle analysiert. Schon Hartmut Sangmeister stellt in seinem Beitrag fest, dass die Integrationsbündnisse kaum zu einer Veränderung der traditionellen Wirtschaftsbeziehungen geführt haben. Birle konstatiert, dass es zwar einige Fortschritte bei der ökonomischen Integration gegeben habe, eine politische Integration aber nicht existiere, da lateinamerikanische Regierungen immer selbst die letzte Entscheidungsgewalt besitzen wollen. Die Länderartikel beschäftigen sich mit der politischen Situation in Bolivien, Brasilien, Chile, Mexiko und Venezuela, zumeist anhand der Analyse von Amtszeiten einzelner Präsidenten (Lula, Fox, Bachelet).

Beide Sammelbände vermitteln einen Eindruck von der aktuellen Situation in Lateinamerika und ergänzen sich gut. Thematische Überschneidungen bleiben nicht aus, halten sich aber in Grenzen. Einige Regionen - Mittelamerika, Andenstaaten, Karibik - kommen jedoch zu kurz, so dass dort eine ergänzende Lektüre notwendig ist. Und Paraguay scheint für fast alle Lateinamerika-Experten in Deutschland inexistent zu sein!

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 11/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





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