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[art_5] Mexiko: Leben im Umsteigebahnhof
Tijuanas Kampf gegen sein Negativimage
 
Im Zentrum Tijuanas riecht es überall nach gebratenem Fleisch. Zwielichtige Männer mit Kapuzen wickeln Geschäfte in den kleinen Gassen hinter der Kirche ab. Polizeisirenen jaulen und verrostete Autos knattern über schlaglochübersäte Kreuzungen. Neben Kinderfilmen hängen Porno-DVDs in den Schaufenstern. US-Amerikanische Besucher torkeln nachts von Bar zu Bar. Während die Türsteher des Strip-Clubs "Gentlemen‘s Club Hong Kong" sich mit einem Minderjährigen und dessen gefälschtem Ausweis herumärgern, bildet sich dahinter eine Menschenschlange aller Altersklassen.

Besonders in den ersten Jahren nach der Gründung Tijuanas waren die Straßen stets mit US-Amerikanern gefüllt. Tijuana entwickelte sich ab 1920 zur Stadt, als in den USA durch die Prohibition das Trinken von Alkohol generell verboten wurde. Viele Kalifornier, vor allem Einwohner San Diegos, reisten in die schnell wachsende Nachbarstadt, in der bald danach auch das erste Spielkasino entstand. Im Gegensatz zu den USA war Glücksspiel in Mexiko offiziell erlaubt. Die Amerikaner amüsierten sich und ließen ihr Geld in der aufblühenden Kleinstadt. Noch immer trägt Tijuana den Stempel einer heruntergekommenen Partyhochburg.

Torremolinos
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Manu Chao  bringt es 1998 mit "Welcome to Tijuana, Tequila, Sexo, Marihuana" auf den Punkt. Tequila, Sex und Marihuana sind in Tijuana leicht und billig zu bekommen. Und auch die ewigen Schlagzeilen um Morde und Drogenbosse, Korruption und Misshandlung von Seiten des Tijuana-Kartells kommen nicht von ungefähr. Doch Tijuana hat viel mehr zu bieten als Drogen und Kriminalität.

Kunst und Kultur gewinnen in der skurrilen Grenzstadt immer mehr an Ansehen. Tijuana wird für seine Ausstellungen, Museen, Lesungen und Graffitis geschätzt. Auch wenn San Diego in Sachen Museen noch die Nase vorne hat, sind Tijuanas Bemühungen um Weiterentwicklung erfolgreich. Tijuana wird innovativ: 3D-Produktionen und Animationsfilme, die in Mexiko viel Anklang finden, werden zukünftig auch vor Ort produziert. Ein kleines Hollywood soll aus der Stadt mit dem tristen Image werden. Zudem sind kleinere Ausstellungen und sogenannte Straßenkunst stark im Kommen. Das ist schon an der berühmten Partymeile "Avenida Revolución" zu erkennen, die von oben bis unten mit Graffiti besprüht wurde.

Dort zeigt sich Tijuana in seinen unterschiedlichen Facetten. An der Ecke Calle Octava und Avenida Revolución, kurz "Revu", reiht sich Souvenirshop an Souvenirshop. Es wird mit Tequila, Sombreros, Mariachi-Figuren und bunten Masken von mexikanischen Ringern, den sogenannten "Luchadores", geworben. Bezahlt werden kann, wie fast überall in Tijuana, mit Pesos oder Dollars. Wer die "Revu" weiter entlangläuft, trifft auf Saloons und Kantinen mit Schwingtüren wie sie in den alten Western-Schinken zu sehen waren. Diverse Diskotheken in den oberen Etagen werben mit günstigen Preisen pro Eimer voller Bierflaschen. Weiter unten schallt "Wouldn’t it be nice" von den Beach Boys aus einem US-Diner mit roten Plastikpolstern im 50er-Jahre Stil, in dem neben mexikanischen Burritos auch Milchshakes und Hamburger angepriesen werden. Auf dem Gehweg unterhält sich ein älterer Mann mit dem rauchenden Verkäufer eines Tacostandes, an dem eine Tafel mit Werbung für den Strip-Club an der Ecke lehnt. Eine kleine, untersetzte Frau versucht währenddessen, den Herren Taschenlampen zu verkaufen. Das ist das Tijuana der Touristen. Für viele Mexikaner, die sich auf der Durchreise in die USA befinden, ist die Stadt selbst jedoch völlig nebensächlich.

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Dass Tijuana die meistbesuchte Stadt der Welt ist (wenn man dem Graffiti in der Avenida Revolución glaubt), liegt nicht etwa an der Schönheit der Stadt, sondern an der Grenze zu San Diego, der US-Amerikanischen Stadt auf "der anderen Seite", wie die "Tijuanensen" gerne sagen. Der Grenzübergang San Ysidro gilt als einer der meistfrequentierten der Welt und im Radio kommen halbstündlich im Anschluss an die Nachrichten die aktuellen Wartezeiten an der Grenze. Eine Stunde ist dabei auch für Pendler nichts Außergewöhnliches. Um "auf die andere Seite" zu gelangen, ist ein bisschen Warten das kleinste Übel. Ein einmaliges Touristenvisum gibt es für Mexikaner nicht. In die USA einzureisen ist nur mit einem Zehn-Jahres Visum möglich, das viel Geld kostet und jederzeit ohne Angebe von Gründen wieder eingezogen werden kann. So kommt es, dass viele Mexikaner, die in den USA Dollars verdienen wollen, als "Wetbacks" illegal einreisen. Wer geschnappt wird, wird direkt an die Grenze nach Tijuana zurückgeschickt, meist ohne Geld.

Für viele der dort lebenden Menschen ist Tijuana nichts weiter als eine Durchgangsstation. Man fühlt sich wie auf einem Umsteigebahnhof, wenn man durch die Straßen der 1,5 Millionen-Einwohner-Stadt wandert. Niemand legt Wert auf ein angenehmes Lebensumfeld oder kümmert sich um die Folgen seines Handelns: Müll wird in die Ecken geworfen und was kaputt geht, bleibt eben kaputt. Man bleibt ja ohnehin nicht lange genug, um sich einrichten zu müssen, sollen sich die Nächsten halt darum kümmern.

Viele der Einwohner sind gescheiterte USA-Einwanderer, die letztendlich in Tijuana eine Arbeit gefunden haben oder denen das Geld für die Heimreise oder einen weiteren teuren Einreiseversuch fehlt. Andere arbeiten offiziell in den USA, aber bevorzugen, der Mietpreise oder der Familie wegen, Tijuana als Wohnort. Allerdings zeigt sich, dass immer mehr Menschen hier leben, einfach weil sie die Grenzstadt mögen.

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Nach und nach entwickelte sich in Tijuana eine völlig neue Selbstsicherheit. Heute sind die Einwohner stolz auf ihre Stadt. Viele tragen Buttons, T-Shirts und Aufkleber mit dem Slogan "Yo Amo Tijuana", Ich liebe Tijuana. Andere ziehen diverse kulturelle Spektakel, wie die "Tijuana Innovadora 2010" (http://www.tijuanainnovadora.com/) und die "Tequila Expo" auf. Beide Events erfreuen sich großer Beliebtheit. Besonders viel Einsatz zeigen junge Tijuanensen für das Projekt "Pa‘ Bailar Tijuana", Tanz für Tijuana (www.pabailartijuana.com). Zeitgleich tanzen hierfür in Flashmob-Manier Junge und Alte, Männer und Frauen auf den großen öffentlichen Plätzen der Stadt einen zuvor sorgfältig einstudierten Tanz. Nach dem großen Erfolg der Premiere im Oktober 2010 soll das Spektakel jetzt jedes oder jedes zweite Jahr wiederholt werden.

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Ziel ist die Schaffung eines Zusammengehörigkeitsgefühls und die Erkenntnis, dass es sich lohnt aus dem kalten Umsteigebahnhof Tijuana ein wirkliches Zuhause zu machen.

Text + Fotos: Annika Wachter

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Die Autorin auf Tour – absolut lesens- und schauenswert!
Annika & Roberto sind mit dem Fahrrad nach Süd-Ost Asien unterwegs
Ihren Blog zum Trip "Tasting Travels – tasting the cultures of the world" findet ihr unter:
www.tastingtravels.com


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