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[art_6] Brasilien: Evangelicos für Gottes Abgesandte
Umschwung in der Präsident/innen-Stichwahl 2010
 
Als der Kandidatin Dilma Rousseff im ersten Wahlgang am 3. Oktober gut drei Prozent zur absoluten Mehrheit fehlten, machten Experten sofort die evangelikalen Pfingstsekten als Hauptverantwortliche aus. Deren Anhänger hätten sich im letzten Moment von Dilma ab- und der Grünen Marina Silva zugewandt, die - anders als Lulas Kandidatin für das Präsidentenamt - ja selber einer Pfingstgemeinde angehöre. Zudem schadeten Dilma Gerüchte über ihre angeblichen Positionen zur Abtreibung und zur Homo-Ehe. - Dass Dilma am Abend des 31. Oktober aber doch noch als Siegerin aus den Stichwahlen hervor gehen konnte, verdankt sie nicht zuletzt einer gewichtigen und stimmgewaltigen Kampagne bei den Pfingstlern. Erinnerungen an einen Umschwung.

"Gott hat das Krebsleiden aus ihrem Körper gerissen. Bedarf es eines überzeugenderen Beweises?" Fragend schaut Benedita da Silva in den mit gut 200 Pastoren besetzten Saal. Teresopolis, ein schmuckes Touristenstädtchen hoch in den Bergen über Rio de Janeiro. Noch 10 Tage bis zur Stichwahl am 31. Oktober. In einem schicken Hotel trifft sich die regionale Führung der in Brasilia regierenden Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT) von Staatschef Luiz Inacio Lula da Silva mit den lokalen Führern der wichtigsten Pfingstkirchen, den Evangelicos. Für Lulas Kandidatin Dilma Rousseff will man unter den Gläubigen um Stimmen bitten und Zweifel an ihrer Position zur Abtreibung und zur Homo-Ehe aus dem Weg räumen.

Dilma Rousseff

Luiz Inacio Lula da Silva


In Teresopolis, immerhin eine Hochburg der PT und der Evangelicos, hat Dilma im ersten Wahlgang überraschend schlecht abgeschnitten. Gut 19.000 Stimmen hat sie hier erhalten. Ihr PT-Kollege, der für das Parlament kandidierte, bekam doppelt so viele. In den letzten Wochen vor der Wahl sorgten Gerüchte über Rousseffs angebliche Pro-Abtreibungshaltung für Unruhe bei den Wählern. Und auch der Homo-Ehe soll sie positiv zugeneigt sein. Nichts als von der Opposition gestreute Verleumdungen, versichert man den Zuhörern. Gift sei das trotzdem für ihre Wahlchancen gewesen, meinen viele.

Doch jetzt wird gegengesteuert. Eigens aus Rio ist Benedita da Silva angereist, eine im wahrsten Sinne gewichtige Vertreterin der PT im Bundesland Rio de Janeiro, den sie einst als erste afro-brasilianische Gouverneurin regierte. Zuerst stimmt das bekennende Mitglied der Pfingstkirche Assembleia de Deus ein Gospellied an, dann verteidigt sie leidenschaftlich die zutiefst christlichen Überzeugungen der einstigen bekennenden Stalinistin Dilma.

Benedita da Silva


Diese war im letzten Jahr von einem schweren Krebsleiden heimgesucht worden, ihre Kandidatur stand auf der Kippe. Jetzt sei sie geheilt und stärker als jemals zuvor im Glauben verankert, so Benedita. Gott sei Dank!, ruft sie in die Menge. Bedarf es eines überzeugenderen Beweises dafür, dass sie eine Vorbestimmte sei, eine Abgesandte Gottes für die schwere Aufgabe, Brasiliens soziale Krebsgeschwüre zu heilen?

Organisiert wurde das Treffen von Marcelo Crivella, dem wiedergewählten Senator Rio de Janeiros. Crivella ist einer der Führer der "Universal-Kirche vom Reich Gottes" (Igreja Universal do Reino de Deus), Brasiliens einflussreichster Pfingstkirche, die von seinem Onkel Edir Macedo Ende der 70er Jahre gegründet wurde. Einst ein leidenschaftlicher Gegner Lulas, schlug sich Macedo im Wahlkampf 2002 auf die Seite des bekennenden Katholiken Lula. Dafür wählte dieser seinen Vize-Präsidenten Jose Alencar aus den Reihen der Universal aus, die ihm mit Millionen Stimmen an den Urnen dankte.

Senator Marcelo Crivella


Für Crivella ist die Allianz zwischen der Arbeiterpartei und den Evangelicos eine natürliche Konsequenz der gesellschaftlichen Entwicklung des Landes, des Aufstiegs Millionen armer Familien in die Mittelschicht. Die Evangelicos hätten eine Botschaft, die dem historischen Moment Brasiliens viel besser entspräche als die Position der stets den Status-Quo verteidigenden katholische Kirche, so Crivella. "Das Land hat immenses Potential und eine großartige Perspektive für die Zukunft und wir Evangelicos sind stets bemüht, durch ständiges Lernen unseren Lebensstandard zu verbessern."

Als die jetzige Opposition Brasilien regierte, wuchs die Ungleichheit immens an, so der Senator. "Unter Präsident Lula haben wir diese verringert, 20 Millionen Menschen aus der Armut geholt und Einkommen umverteilt - das ist das Brasilien das Dilma sich wünscht." Dumm wäre es da natürlich, wenn vom politischen Gegner gestreute Unwahrheiten über Dilmas religiöse Überzeugungen die perfekte Allianz stören würden.

Für den Soziologen Edin Sued Abumanssur entspringt dieses Bündnis zum einen dem politischem Kalkül des bekennenden Katholiken Lula. "Die Universal ist viel näher an Lulas politischer Basis als die Katholiken, sowohl im Kongress als auch in der Gesellschaft. Und Lula nutzt das sehr geschickt aus, schließlich ist er ja nicht dumm", so Abumanssur, der an der katholischen Universität São Paulo Religionswissenschaften lehrt. "Lula sieht das Potential, das diese Kirchen haben."

Dilma Rousseff
zum Aufkleben


Aber nicht nur Lula und Dilma profitieren von der Allianz, meint Abumanssur. "Die Universal will aktiv an der Regierung beteiligt sein. Das garantiert, dass Universalgründer Edir Macedo nicht ins Gefängnis geht oder die Kirche vom Fiskus geschröpft wird." Denn seit Jahren ermittelt ausgerechnet die Staatsanwaltschaft in Oppositionskandidat Jose Serras heimischen Bundesstaat São Paulo wegen diverser Vergehen gegen die Universal und ihre Führer, darunter Edir Macedo. (Der Prozess wurde zwei Wochen vor der Stichwahl der Staatsanwaltschaft São Paulo entzogen, da diese nicht zuständig sei. Ab sofort soll die Bundesjustiz der Hauptstadt Brasilia sich um den Fall kümmern, der nun erneut komplett aufgerollt werden muss.)

"Das garantiert zudem, dass der TV-Sender Rede Record in der Hand von Edir Macedo bleibt", so Abumanssur in Anspielung auf das von Universal aufgebaute Medienimperium aus TV- und Radiosendern. Im Kongress liege der Fokus der Aktivitäten der den Pfingstkirchen angehörenden Parlamentarier deshalb in der Kommission, die die Sendelizenzen für Radios und Fernsehsender vergibt.

In Teresopolis geht die Kundgebung nach einem fürstlichen Buffet zu Ende. Den Anwesenden ist klar, dass es bei der Unterstützung für Dilma Rousseff um die Verteidigung christlicher Glaubensinhalte gegen den Neo-Liberalismus der Opposition geht. Diese Botschaft soll nun von jedem Einzelnen in seine Gemeinde hineingetragen werden. Es gibt viel zu tun in den letzten Tagen vor der Wahl, doch auch viel Grund zur Hoffnung auf einen satten Stimmenzuwachs bei der Stichwahl am Sonntag. Hatte doch Senator Crivella in Teresopolis im ersten Wahlgang doppelt so viele Stimmen bekommen wie Dilma Rousseff. Die Allianz könnte also reiche Früchte tragen.

Text, Interviews + Fotos: Thomas Milz

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