ed 08/2014 : caiman.de

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spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Einundzwanzigste Etappe: Die Etappe des Grauens nach Hospital de Órbigo
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Magie im Maracanã
Impressionen zum 4. Stern
THOMAS MILZ
[art. 2]
peru: Peruanische Paradenposse
NIL THRABY
[art. 3]
macht laune: Buddy-Bären sagen Adeus
THOMAS MILZ
[kol. 1]
hopfiges: Montseny Lupulus aus Katalonien
LARS BORCHERT
[kol. 2]
lauschrausch: Brasilien ohne Samba
TORSTEN EßER
[kol. 3]

[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Etappen [21] [20] [19] [18] [17] [16] [15] [14] [13] [12] [11] [10] [9] [8] [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Einundzwanzigste Etappe: Die Etappe des Grauens nach Hospital de Órbigo
 
19. Juni 2013: Noch am Vorabend hatte ich meine junge Begleiterin Cayetana ermahnt, dass wir heute trotz der schlechten Wettervorhersage (Regen!) besonders früh von León aufbrechen sollten. Denn Ziel ist es, an diesem Tag die mit fast 38 Kilometern längste Etappe hinter uns zu bringen, um so am Folgetag im schönen Astorga etwas mehr Zeit und Muße zu haben. Doch die längste Etappe sollte zur Etappe des Grauens werden.

Noch ohne jede Vorahnung, wie furchtbar dieser Tag werden würde, quälen wir uns aus dem bequemen Hotelbett und schaffen es tatsächlich, kurz nach sechs Uhr mit geschultertem Rucksack an der Kirche San Isidoro vorbei zu ziehen.

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Schon diesem Aufbruch fehlt die Euphorie, denn es regnet. Allerdings ist es zunächst nur Nieselregen, der uns beim Verlassen des Stadtzentrums von León begleitet, so dass wir die Regencapes im Rucksack lassen und nur die Kapuzen unserer Pullis überwerfen. Man glaubt kaum, wieviel Zeit es in Anspruch nehmen kann, eine so kleine Großstadt wie León zu verlassen. Hinter der glanzvollen Altstadt versteckt sich nach Westen ein Industriegürtel nach dem anderen. Fast acht Kilometer wandern wir durch Beton-Galerien und Fabrikhallen-Avenidas. "Voll romantisch hier!", ist denn auch der bissige Kommentar Cayetanas. Endlich – der Regen hat aufgehört, aber der Himmel bleibt dämmerig-grau – stehen wir vor der Kirche Virgen del Camino, die den westlichen Ortsausgang von León markiert.

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Schön ist sie nicht, diese letzte Kirche der Stadt. Ein Betonbunker aus den 60er Jahren mit allenfalls interessanten Portalfiguren aus Bronze von José María Subirachs. Innen überrascht der Tempel allerdings mit einem kolossalen Barockaltar, der aus einer alten Kirche hier hinein verpflanzt wurde. Der brutale Kontrast Barock-Beton ist in dieser Form wohl einzigartig und hat einen gewissen Reiz.

Nach zwei weiteren Kilometern sieht man überhaupt keine Spuren menschlicher Zivilisation mehr und wandert so einsam als wäre man auf dem Mond. Vor uns türmt der Himmel unerbittlich Sturmwolken auf, lässt einen kurzen, aber heftigen Regenschauer auf uns niederprasseln und wir müssen gegen eiskalten Wind ankämpfen. "Jetzt verstehe ich langsam", schreit meine Begleiterin gegen den Wind an, "warum man sagt, in Kastilien gibt es neun Monate Winter. In Andalusien haben wir jetzt schon 40 Grad und hier auf der Meseta ist es sogar Ende Juni kälter als in Deutschland!" In der Tat durchdringt der eisige Wind Textilien und Haut und lässt die Knochen frösteln.

Eine Eisenbahnlinie (Richtung Santiago!) durchschneidet das graugrüne Nichts. Wir steigen eine kleine Brücke hoch, um sie zu überqueren. Beim Aufstieg präsentiert sich die Brückenwand wie ein multikulturelles Potpourri, bei dem die einzelnen hier verewigten Kommentare irgendwie den Nationalcharakter der Sprachen symbolisieren, in denen sie geschrieben wurden. Die spanische Inschrift romantisch-leidenschaftlich: "Sueña lo que te atreves a soñar / Se lo que quieras ser / Ve donde quieras ir / VIVE!” (Träume, was Du wagst zu träumen / Sei das, was Du sein willst / Geh dorthin, wohin Du willst / LEBE!). Die Franzosen äußern sich mal wieder pseudo-philosophisch: "Il n`ya pas de chemin / Le chemin se fait en marchant" (Es gibt keinen Weg / Der Weg ergibt sich beim Gehen). Und die deutsche Sprache fragt desillusionierend prosaisch "Warum liegt hier eigentlich Stroh?" Da halten wir es lieber mit demjenigen, der ein Herz in den gelben Pfeil gemalt hat.

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In der schweigenden Steppe klagt Cayetana immer lauter über die Schmerzen, die ihre Monsterblase an der linken Ferse verursacht. Sie macht mir Sorgen, denn ihr Gang ist nicht mehr andalusisch-dynamisch, sondern zunehmend humpelnd. In Chozas de Abajo, einem Nest, das übersetzt "Die Hütten von unten" heißt (da wundert einen nichts mehr... Und es gibt natürlich auch die Chozas de Arriba) passiert es dann. Cayetana schreit auf vor Schmerz. Die riesige Blase an ihrer linken Ferse ist geplatzt. Sie schleppt sich noch bis zu einer Bank am Wegesrand und meint, ihr Schuh sei voll Flüssigkeit. Vorsichtig zieht sie ihn aus. Die Socken sind getränkt mit einem Blut-Wasser Gemisch. Es gibt nur noch ein Blasenpflaster, das aber nicht geeignet ist für die offene Wunde, die jetzt an ihrem Fuß klafft. Notdürftig decken wir sie mit etwas Mullbinde ab, haben aber nichts zum Desinfizieren dabei. (Irgendwas vergisst man immer!) Und natürlich passiert so etwas mitten im Nirgendwo, meilenweit entfernt von jeder Apotheke oder gar Arztpraxis. Ohne zu wissen, was ich damit anrichte, erwähne ich die reale Gefahr einer Blutvergiftung, denn die offene Wunde ist groß und die schlammverschmierten Schuhe und Socken nicht gerade keimfrei. In einer Panikattacke kippt Cayetana ein halbes Fläschchen ihres Parfüms auf die Blasenwunde und schreit so laut vor Schmerz, dass gleich drei ältere Damen beim Haus gegenüber aus dem Fenster schauen. Und diese rigorose medizinische Behandlung hat zur Folge, dass Cayetanas Spuren durch die kastilische Steppe noch mindestens drei Tage nach Chanel Nr. 5 duften.

Weiter geht’s und das zunächst erstaunlich gut, denn wenn eine Blase geplatzt ist, sind die Schmerzen beim Gehen weniger heftig als vorher. Nur die Angst vor der Blutvergiftung begleitet uns die nächsten Stunden. Nach fast 22 Kilometern erreichen wir um 12 Uhr mittags den ersten größeren Ort: Villar de Mazarife, 450 Einwohner, 3 Pilgerherbergen, ein vor lauter Storchennestern kaum sichtbares Kirchlein.

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Man mag es kaum glauben, aber an einem 19. Juni in Spanien sind wir völlig durchgefroren. Schräg gegenüber der Kirche stürzen wir uns in die erste Pilgerherberge (Cayetana: "Bloß raus aus diesem Wind!"). Und das ist eine gute Wahl. Wir bestellen heißen Tee und Rotwein zum Aufwärmen. Das reicht aber nicht. Obwohl in Spanien erst drei Stunden später Zeit fürs Mittagessen ist und die Dorfbewohner beim morgendlichen Kaffee + Cognac an der Bar sitzen, wage ich die Wirtin zu fragen, ob sie trotz der frühen Stunde schon irgendwas Warmes zum Essen anbieten kann. Die gutmütige Frau (man sollte sie blitzartig heilig sprechen) stemmt die Hände in die Hüften und verkündet mit breitem Grinsen: "Alles ist fertig: Mittagsmenü komplett – Linsensuppe, Lammeintopf, Pudding." Ein Festessen! Auch Cayetana langt beim Lammeintopf zu meinem Erstaunen tüchtig zu. "Ich dachte, Du wärst Vegetarierin geworden?", versuche ich, sie in Verlegenheit zu bringen. "Heute nicht", gibt sie fauchend zurück (und murmelt dann noch, es sei eben zu kalt für vegetarische Kost).

Angesichts des widrigen Wetters und Cayetanas Blasenwunde biete ich ihr eine Planänderung an: Statt bis Hospital de Órbigo (weitere 16 Kilometer) durchzumarschieren, könnten wir einfach hier bleiben. Sie überlegt einen Moment, dann siegt wie erwartet ihr andalusischer Stolz. "Kommt nicht in Frage, ich will diese elenden Felder ein für allemal hinter mich bringen!"

Zehn Minuten später stehen wir wieder im Sturm. Angewidert blickt Cayetana auf den endlosen Feldweg, der sich gnadenlos geradewegs bis zum Horizont erstreckt, und bemerkt nach kurzer Meditation: "Dein Landsmann, dieser Hape Kerkeling, von dem Du mir erzählt hast, ist diese Strecke hier garantiert mit dem Taxi gefahren. Sowas gehört verboten! Wer das macht, verdient am Ende keine Pilgerurkunde! Das sollten die in Santiago besser kontrollieren, denn das ist ungerecht uns gegenüber, die wir uns hier Meter für Meter abquälen." "Na na", entgegne ich, "Du bist doch sonst nicht so streng. .."  Statt zu antworten, marschiert meine Begleiterin stur und noch leicht humpelnd voran.

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Ein Gewaltmarsch durch eine Landschaft der Trostlosigkeit, windgepeitschte graue Steppe. Der permanente Sturm zerrt an den Nerven. Irgendwann höre ich Cayetana voll Wut vor mir schreien: "Kann endlich mal irgendwer diesen Wind abstellen?!" Unterwegs treffen wir auf ein Pilger-Paar, das am Wegesrand neben einen Erdhügel geduckt auf die nächste Windstille zu warten scheint. Die Sturmböen sind ab und zu so heftig, dass man fürchtet, in der nächsten Sekunde in die Luft gewirbelt und zurück Richtung Osten katapultiert zu werden. Irgendwann auf Kilometer 35 oder 36 in diesem Nirgendwo hält Cayetana plötzlich an, dreht sich herum zu mir und konstatiert mit anklagendem Blick: "Es reicht! Ich hab keinen Bock mehr! In Astorga nehm ich den Zug und fahre nach Hause…"

Dann kramt sie ihr grellrotes Regencape hervor und wirft es über. "Aber es regnet doch gar nicht mehr…", sage ich und schaue sie mit fragendem Blick an. Cayetana starrt vorwurfsvoll zurück und brüllt dann fast hysterisch gegen den tosenden Wind: "Ich zieh mir das knallrote Teil jetzt an für den Fall, dass ich hier gleich tot umfalle, dann sieht und findet man mich mit dieser Farbe leichter aus der Luft, falls irgendwer einen Helikopter schickt, um meinen Leichnam zu bergen."

Aber dann kommen wir doch noch einigermaßen lebendig nach einer gefühlten Ewigkeit kurz vor sechs Uhr abends in Hospital de Órbigo an - und haben mit 38 Tageskilometern einen neuen persönlichen Rekord aufgestellt. Nach Überquerung der längsten Brücke des Jakobswegs (ca. 300 Meter) sind wir am Ziel und dort erwartet uns in der Herberge San Miguel ein Engel.

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Eine liebenswerte Brasilianerin, die freiwillig in dieser Pilgerherberge arbeitet, rettet Cayetana mit Desinfektionsspray und Spezialpflastern vor einer Blutvergiftung und ist auch sonst die gute Seele des Hauses.

San Miguel ist keine gewöhnliche Herberge, sondern auch eine Art Kunstgalerie: alle Räume sind dekoriert mit z.T. sehr interessanten Gemälden, die besonders Pilgerweg-Motive und Pilgergedanken visualisieren.

In dieser Nacht träumt Cayetana, ihr rotes Regencape hätte Flügel und sie flöge damit über die endlose kastilische Hochebene und landete auf einer Lichtung in den grünen Wäldern Galiziens.

Text und Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links: Etappe von León über Villar de Mazarife nach Hospital de Órbigo: 38 Kilometer

www.redalberguessantiago.com
www.turismocastillayleon.com

Unterkunft und Verpflegung:
Unterkunft / Verpflegung in Villar de Mazarife: Private Pilgerherberge "Tío Pepe", C. Iglesia 2 (schräg gegenüber der Dorfkirche). Tel. 987-390517 und mobil 696-005264. Heizung, Restaurant, Internet. Freundliche Aufnahme, deftiges und gutes Essen. Übernachtung 8 Euro Herberge, Einzel-/Doppelzimmer 25/50 Euro.

Unterkunft in Hospital de Órbigo: Private Pilgerherberge "San Miguel", C. Álvarez Vega 35, Tel. 987-388285 oder 609-420931: Küche, Waschmaschine und Kunstgalerie. Eine der schönsten Herbergen des Camino mit wunderbarer Betreuung, medizinischem Beistand und kunstvollen Gemälden in Treppenhaus und Zimmern, die z.T. von Pilgern gemalt wurden.

Verpflegung in Hospital de Órbigo: Restaurant "Los Ángeles": Pilgermenü (3 Gänge inkl. Wein) für 9 Euro. Insgesamt gut, nur die Forellensuppe ist nicht zu empfehlen, da sie eher eine feste Konsistenz aufweist und vor allem aus matschigem Brot besteht (Brot, das mit der Brühe gekocht wurde) – allerdings warnt der Kellner auch davor, dass diese Suppe eigentlich nicht flüssig sei.

Kirchen:
Moderne Kirche "Virgen del Camino" (westliches Industriegebiet von León): Betonbau von 1968 mit nicht schönen aber interessanten Bronzeskulpturen von José Maria Subirachs. Innen ebenfalls modern, aber mit gigantischem Barockaltar, der aus einer alten Kirche "adoptiert" wurde. Geöffnet: 8.30 Uhr  - 20.00 Uhr.

Dorfkirche von Villar de Mazarife mit Storchenbesetzter Glockenwand (meist geschlossen, in Bar Tío Pepe nach Schlüssel fragen).

Kirche San Juan Bautista in Hospital de Órbigo: spätbarock (18. Jahrhundert). Geöffnet abends ca. 18.00 Uhr - 20.00 Uhr.

[druckversion ed 08/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_2] Brasilien: Magie im Maracanã
Impressionen zum 4. Stern

Rio de Janeiro vibrierte vor Spannung, und wir vibrierten mit. Bereits am Morgen lieferten sich deutsche und argentinische Schlachtenbummler an der Copacabana Gesangswettbewerbe, zündeten Böller, brachten sich in Stimmung. Etwas Großes lag in der Luft, und das Lächeln der deutschen Fans kündigte es an: heute sollte unser Tag werden.
 

 
70.000 Argentinier waren in den letzten Tagen in die Stadt eingefallen, meldeten die Medien, dazu rund 10.000 deutsche Fans. Das Maracanã, der mythische Fußballtempel, war von tausenden Polizisten und Soldaten abgeriegelt, von den angekündigten Protesten gegen die FIFA war nichts zu sehen. In den frühen Morgenstunden hatte die Polizei zwei Dutzend Aktivisten verhaftet, um dem Protest den Wind aus den Segeln zu nehmen.



Die Außenhülle des Maracanã verziert mit riesigen Bannern, die das größte Sportereignis der Welt ankündigten: The Final – Germany vs Argentina. „Stell Dir vor, die ganze Welt schaut gerade auf diesen Ort“, raunte mir ein Kollege zu als wir das Stadion betraten. Bis zu fünf Hubschrauber kreisten gleichzeitig über der Arena, ihr Knattern hoch oben im blauen Himmel.

Aus dem riesigen Rund schallten argentinische Fangesänge schon eine Stunde vor dem Finale, auch hier auf den Tribünen waren die argentinischen Fans deutlich in der Mehrheit, auch wenn viele Brasilianer ihre klare Sympathie für die deutsche Elf sichtbar machten.



Viele hatten Flamengo-Trikots an, die den schwarz-roten Hemden der Nationalelf so ähnlich sehen. „Flamengo und Deutschland, das sind Brüder“, rief mir ein Brasilianer zu, auf mein deutsches Trikot in Rot-Schwarz zeigend.

Kurz vor dem Finale hatte Lukas Podolski noch ein Foto getwitter, auf dem das deutsche Leibchen und das Flamengo-Shirt gemeinsam über der Brüstung seines Hotel-Balkons hingen: „Stehen wir zusammen oder nicht?“, postete er auf Portugiesisch darunter.



Gerade einmal vier Tage war es her, dass die deutsche Elf dem brasilianischen Gastgeber seine empfindlichste Niederlage in der WM-Geschichte beigebracht hatte. Brasilien hatte den Zuschlag für die WM 2014 erhalten, um das 100-jährige Bestehen des brasilianischen Fußballverbands zu ehren. Und ausgerechnet bei diesem Anlass fügte Deutschland der Selecão die höchste Niederlage in 100 Jahren zu.
 
Man hätte also eigentlich erwarten könne, dass die Brasilianer sich auf die Seite ihrer argentinischen Nachbarn schlagen würden, so wie es Brasiliens verletzter Stürmerstar Neymar tat. Doch zu tief saß wohl jener Schmähgesang, den die Argentinier über das brasilianische Ausscheiden gegen Deutschland anstimmten: „Na, wie fühlt Ihr Euch jetzt, Brasilianer?“, hallte es vier Tage lang durch das Land.



„Sollte Argentinien gewinnen, werden wir uns den Rest unseres Lebens lang anhören müssen, dass sie im Maracanã siegten, während Brasilien mit 1 zu 7 nach Hause geschickt wurde,“ gab ein Taxifahrer am Vortag des Finals zu bedenken. Klare Sache, den Deutschen gönnt man es.
 


Vor dem Eingang des São Januário Stadions von Vasco da Gama hatten sich am Samstag einige Hundert Brasilianer eingefunden, die das Abschlusstraining der deutschen Mannschaft sehen wollten. Sie trugen deutsche Fahnen und stimmten „Alemanha“ Sprechchöre an. Drinnen spielten sich Bastian Schweinsteiger und die in schwarze Anzüge gehüllten Sicherheitsbeamten des Stadions munter die Bälle zu, Trainer Löw wuchtete entspannt einen Volley nach dem anderen ins leere Tor.

Auf der Pressekonferenz kurz zuvor hatte er noch mit einem argentinischen Medienvertreter gescherzt, der ihn fragte, ob er schon eine Liste mit den möglichen argentinischen Elfmeterschützen bereit habe, so wie 2006 in jenem legendären Viertelfinale. Löw hatte kurzentschlossen einen Zettel hochgehoben und gegrinst.



Tiefenentspannt, so das Stichwort.
 
Und so war es auch am Endspieltag. Khedira verletzt sich beim Aufwärmen. Tiefenentspannt, kein Problem. Kramer spielt dafür, Kramer? Tiefenentspannt, kein Problem. Kramer muss nach 30 Minuten raus. Tiefenentspannt, kein Problem. Argentinien kommt gefährlich vors Tor. Kein Problem. Schließlich räumte Boateng alles ab, was vors deutsche Tor kam.
 


Eigentlich war während des Turniers immer klar, dass Deutschland gewinnt. Zu tiefenentspannt war ich. Und das bin ich sonst nie. Okay, gegen Algerien bin ich streckenweise verzweifelt, doch danach war alles klar: Deutschland macht es, gegen Frankreich, gegen Brasilien und auch jetzt, gegen Argentinien.

 

Warum ich dann trotzdem wie ein kleiner Junge weinte als Mario Götze in der 113. Minute jenes unglaubliche Tor schoss, weiß ich auch nicht. Das gehört wohl dazu zum Fußball. Lange noch stand ich mit den deutschen Fans in jener Kurve, vor der die deutschen Spieler mit dem Pokal herumtrollten. Dann verschwanden sie einer nach dem anderen im Kabinengang, als letzter Lukas Podolski, der sich den Pokal lässig über die Schulter schwang. Hinter ihm her flitzte sein kleiner Sohn, der Papas FIFA-Medaille freudig durch die Luft schwang.



Der Rest der Nacht war nur noch Party am deutschen „Tor“-Kiosk am Strand von Leme. Irgendwann mitten in der Nacht schwang ein freudiger Gesang über den Strand. „So ein Tag, so wunderschön wie heute...“ Wir schauten uns an und wussten, dass wir einem einmaligen Ereignis beiwohnen durften.
 
So etwas wird es nie wieder geben.



Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 08/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]






[art_3] Peru: Peruanische Paradenposse
 
Sonntag. Sonntag ist Paradetag. Etwas überrascht begegnen wir in Ica Menschenmassen in der Straße, die säuberlich aufgereiht auf ihren Auftritt warten. Frühlingsanfang. Das hier ist keine normale Parade, aber auch nicht - wie ich naiver Weise dachte - ein Frühlingsumzug, ein Fest zum Anfang der sonnenreichen Jahreszeit.



Wie wir im Verlauf der Reise feststellen, ist jeden Sonntag Paradetag in Peru. Nicht nur in großen Städten, sondern auch noch in den verschlafensten Nestern wird sonntags fleißig die Nationalhymne gesungen. Und an der Parade nehmen viele Leute teil. Heute ist es natürlich besonders voll, denn schließlich ist der Frühling ja die Jahreszeit, um auf die Straße zu gehen.

Die erste Gruppe, der wir begegnen, ist eine Abteilung Frauen mittleren Alters, die eher asiatisch gekleidet sind. Ein genaueres Hinsehen verrät uns, dass es sich um eine Gruppe von Tai-Chi-Anhängerinnen handelt, die gleich auf den plaza de armas marschieren werden, um dort ihren Verein zu repräsentieren. Später sehen wir sie militärisch quadratisch angeordnet auf dem Platz ein paar Übungen machen.

Neben den Tai-Chi-Frauen gibt es eine große Anzahl Schüler, die mit weißen Handschuhen, Lackschuhen, Rock-Bluse-V-Ausschnitt-Pullover im Gleichschritt marschieren. Oder die Belegschaft einer Fabrik, die sogar versucht, im Stechschritt über den Platz zu kommen, ohne dabei auf die Nase zu fallen.

Die Feuerwehr, religiöse Minderheiten, Universitäten und selbstverständlich fehlt auch das unvermeidliche Militär nicht, stellt sogar den Rahmen, gibt den Takt an.

In Cuzco wird die Fahne Perus gehisst. Ein paar Militärs tragen sie auf den Armen als handele es sich um einen Toten. Ausgewählte Honoratioren bekommen zackig das Recht oder die Ehre erteilt, am Strang zu ziehen und die weiß-rote Pracht sich entfalten zu lassen.

Danach - schließlich ist Cuzco Q’osqo und damit neben dem "Nabel der Welt" die ehemalige Hauptstadt des letzten großen präkolonialen Imperiums – erhebt sich auch die bunte Inka-Flagge des Tahuantinsuyo (das Reich der vier Gebiete) mit einer identischen Zeremonie in den Himmel.

Mehr Soldaten, mehr Honoratioren, mehr Hände an dem Mützenschirm.

Anschließend fallen Salutschüsse. "(Wir kämpfen) bis zur letzten Kugel", wird brüllend Admiral Grau, der große Kriegsheld Perus aus dem Pazifikkrieg gegen Chile, zitiert.

Ich mag keine Paraden. Außerdem frage ich mich, ob die Zeit, die die Schüler dafür verwenden, den Stechschritt einzustudieren, ob die Farbe, mit der die Paradestreifen auf den Straßen wie zu schmale Autospuren markiert sind, nicht sinnvoller eingesetzt werden könnte. Dass Alberto Fujimori - der derzeitig letzte Diktator Perus - die Paraden eingeführt hat, macht sie mir nicht sympathischer. Schließlich war er es auch, der während der letzten großen Choleraepidemie an einem vermeintlich beliebigen Straßenstand Ceviche essen ging, um zu zeigen, dass peruanischer Fisch auf peruanische Art und Weise zubereitet, unmöglich ungesund sein kann. Niemand hat ihm je einen Prozeß machen können wegen der vielen Menschen, die danach an Cholera starben, weil sie ihren Herrscher nachahmten, aber offensichtlich nicht seinen Stand erwischten.

Den Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus mag man darin sehen, dass der eine schlicht ein Ausdruck des Wohlfühlens, der Identifikation mit einem Stückchen Erde und seiner Kultur ist, während der andere stets mit einem Vergleich endet: besser/größer/schöner/... als die <Lieblingsfeinde>, wobei <Lieblingsfeinde> zu ersetzen ist - möglichst durch die Angehörigen eines Nachbarlandes.

Gegen das erstere Gefühl gibt es sicherlich nicht nur nichts einzuwenden, sondern es ist im Gegenteil sehr bedauerlich, dass es in unseren Breiten aufgrund des Kulturverlustes mehr und mehr abhanden kommt.

Zum Teil ist das eine notwendige Entwicklung, denn die Mobilität bedingt einen gewissen Verlust der kulturellen Wurzeln.

Noch dazu ist es speziell in Deutschland den rechten Kräften gelungen, das ureigene Zusammengehörigkeitsgefühl soweit zu politisieren, dass die schlichte Beschäftigung mit autochthoner Kultur bereits als politisches Statement aufgefasst werden muss.

Das ist in Peru natürlich anders, da dort die Bösen von außen kamen. In Peru kann man sich an den Traditionen und der Landschaft erfreuen, sich zu einem Teil ihrer erklären, ohne gleich politisch fragwürdig zu werden.

Das soll aber nicht heißen, dass etwa besagte sonntägliche Paraden vollkommen unschuldig wären. Zum Teil sicherlich ein einfach wieder aufgekommenes und so wichtiges Selbstbewusstsein, zum anderen aber auch nicht wenig martialisch. Man sollte nicht vergessen, dass der letzte Krieg, den Peru geführt hat - mit Ecuador - nicht allzu lange her ist. Ansonsten hat sich uns die Schönheit Icas leider nicht erschlossen. Hier gibt es das einzige nennenswerte Weinanbaugebiet Perus, ein großes Museum mit vielen interessanten Exponaten, aber wir haben uns in Ica nicht besonders wohl gefühlt. Das liegt sicherlich auch an der Größe Icas und daran, dass das einzige noch funktionierende Kino nur noch Pornofilme zeigt. Der Rentabilität halber sicherlich.

Abends verirren wir uns in einen chifa, der zwar sehr preiswert ist, aber Zweifel aufkommen lässt, ob wir das auch gesund und munter überstehen. Chifas sind peruanisch-chinesische Restaurants, von denen man vielleicht annehmen könnte, dass sie "normale" China Restaurants wären, aber das ist weit gefehlt.

Peru ist - aus derselben Motivation heraus wie Deutschland - ein Vielvölkerland, allerdings bereits etwas länger. Vor allem die Chinesen, die seit rund 150 Jahren hier ansässig sind, haben es geschafft, sich komplett in die peruanische Bevölkerung zu integrieren. Und die Küche der chifas - ein neudeutsch Crossover der traditionellen chinesischen mit der peruanischen - ist so sehr in die peruanische integriert, dass sie zum Bestandteil des Nationalstolzes geworden ist. Der chaufa-Reis ist eine billige Ergänzung des nationalen Speisezettels. Wie ich später noch berichten werde, ist Reis Bestandteil eines jeden Essens in Peru, mit einigen sehr wenigen Ausnahmen. Reis gibt es zwar schon länger in Peru, aber das Wissen um den geordneten und ertragreichen Anbau kam erst, nachdem die coolies nicht mehr nur als Sklaven auf den Guano-Inseln gehalten wurden. Peru verdankt somit den Chinesen nicht nur eine Bereicherung der Küche, sondern sogar einen Hauptbestandteil der täglichen Kost.

Und sie haben es den Chinesen mit einer anfangs zögerlichen, heute jedoch vollzogenen Integration gedankt. Viele Peruaner haben deutlich asiatische Züge, vor allem natürlich im Norden und hier in Ica, wo es die größten Einwanderungswellen gegeben hat.

Info: Asiatische Immigration in Peru
1849 hatte der Großgrundbesitzer und Politiker Domingo Elías eine großartige Idee, wie die billige Arbeitskraft der ehemaligen schwarzen Sklaven zu ersetzen sei: er brachte Chinesen ins Land und erreichte sogar, dass der Staat Importeuren der billigen Handlanger eine Prämie zahlte. Über 100. 000 Chinesen wurden so ins Land gebracht, um auf den Guano-Inseln, Zucker- und Baumwollplantagen, aber auch im Dschungel zu arbeiten, wo die einheimische Bevölkerung sich strikt und ziemlich gewalttätig weigerte, auf den Plantagen zu arbeiten. Die Geschichte der Chinesen in Peru ist eine von äußerster und kaltblütiger Grausamkeit und eine der Sklaverei in einem Land, das diese offiziell abgeschafft hatte. Halb nackt, ohne Sonn- und Feiertage, mit Knebel-Verträgen von bis zu 8 Jahren Dauer, zum Teil nicht einmal freiwillig nach Peru gekommen, wurden die Einwanderer von den peruanischen Impresarios ausgebeutet. Etwa 50 Jahre später, 1899 erreichten die ersten knapp 800 Japaner den großen Hafen Perus, Callao. Sie hatten etwas mehr Glück als ihre chinesischen Nachbarn. Und wie diese beeinflussten sie die Küche des Landes. Dass Sushi und ceviche beide aus rohem Fisch bestehen, ist kein Zufall.

Entgegen unserer Erwartungen überleben wir allerdings den chifa ohne Probleme und brechen so am übernächsten Morgen Richtung Nazca auf. Man hat uns gesagt, dass colectivos (also Sammeltaxis in Form von großen, alten, lauten und stinkenden amerikanischen Straßenkreuzern) die Strecke für wenig Geld und in knapp zwei Stunden hinter sich bringen würden.

An der Haltestelle ist eine Karosse faszinierender als die andere. Aber das Beste sind die Geräusche. Wenn eines der original 50er Jahre Autos den Motor startet, dann klingt das wie eine mittelgroße Cessna - ohne zu übertreiben. Wir suchen uns einen der vielen combis aus und werfen unser Gepäck in den Kofferraum, in den mühelos zwei erwachsene Personen passen würden. Während wir gelassen auf die Abfahrt warten, unterhalten wir uns mit dem Fahrer und einigen seiner Freunde. Natürlich wollen sie wissen, woher wir kommen, wie lange wir schon in Peru sind, was wir gesehen haben und vor allem, wie es uns gefällt. Es macht uns keine Mühe, begeistert von dem zu erzählen, was wir bisher gesehen haben. Wir haben uns die beiden Plätze auf der durchgehenden Vorderbank reserviert, um besser sehen zu können. Hinten quetschen sich noch vier weitere Leute in den Wagen, ein Chinese will nicht, weil alle anderen Frauen sind. Als Santos, der Fahrer, losfährt, muss er beim Schalten zwischen den Beinen meiner Begleiterin hindurch greifen, um an den Schaltknüppel zu kommen.

Auf der Strecke erzählt uns der Fahrer Santos von der Landschaft, zeigt uns das ein oder andere Bemerkenswerte und fragt uns nach unserem Beruf. Auch unser Gehalt will er wissen und versetzt uns damit in eine peinliche Lage. Die Gehälter, aber auch die Preise, in Peru sind von einer so anderen Größenordnung, dass wir es nicht wagen, die Wahrheit zu sagen. Was würde das auch bewirken? Wir nennen ein viel zu kleine Hausmarke, fügen aber sofort hinzu, dass die Preise in Europa viel höher seien als hier. Wir nennen ein paar Kennziffern, wie Wohnung, Brot und andere Grundnahrungsmittel.

Aber nicht nur uns, sondern auch Santos ist natürlich bewusst, dass wir aus viel reicheren Gefilden kommen. Er erzählt uns von seinem Verdienst und seiner Arbeit und es ist unzweifelhaft, dass uns das Schicksal mit dem Geburtsland wenigstens finanziell viel mehr Glück beschert hat als ihm.

Natürlich hat das wenig mit Lebensglück oder ähnlichen Transzendenzen zu tun, aber es lebt sich sicherlich ruhiger, wenn man weiß, dass es im ärgsten der Fälle immer noch das soziale Netz gibt. In Peru lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.

Wir fahren durch eine Landschaft, die an Kargheit sicherlich ihresgleichen sucht. Keinerlei Pflanze ist zu sehen, nicht einmal ein Kaktus. Nur Dünen, Sand und gelegentlich karge Felsen liegen links und rechts der Straße. Wir durchqueren ein paar Dörfer, die jeweils an einer Art Oase liegen, aber das Grün ist sehr knapp, das Wasser sicherlich noch mehr. Die vorherrschende Farbe ist das Gelb des Sandes. Auf gut ausgebauten und asphaltierten Straßen begegnen wir einem nackten Mann, der offensichtlich verwirrt am Rand der Fahrbahn steht. Santos lacht und erzählt uns, dass dieser Mann ein ständiger Begleiter dieser Strecke ist. "Er ist so verrückt", kichert unser Fahrer.

Text + Fotos: Nil Thraby

[druckversion ed 08/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]






[kol_1] Macht Laune: Buddy-Bären sagen Adeus

Am äußersten Ende der Copacabana, links bei Blick gen Meer, standen sie aufgereiht. 145 Bären, bunt bemalt mit Motiven aus aller Welt und mit erhobenen Händen, gerade so, als ob sie von Rios Strandpolizei beim Klauen erwischt worden wären, säumten sie für einige Wochen den Strand Leme.



Vor zwölf Jahren starteten die zwei Meter großen Bären ihre Welt-Tour am Brandenburger Tor, jetzt durften sie miterleben, wie Deutschland in Rio Weltmeister wurde. Rund 150.000 Besucher sollen sie seit Anfang Mai bewundert haben, eine gute Bilanz für die Organisatoren aus dem Deutschen Generalkonsulat in Rio.



Eigentlich wollte man sie direkt an der Copacabana platzieren, mitten rein, aber da hatte sich bereits die FIFA mit ihrem gigantischen Fan-Fest breit gemacht. So rückten die Bären nach Leme, und das war auch gut so.



Hier standen sie für die Völkerverständigung Spalier, ließen sich geduldig fotografieren, wurden niemals müde vom ewigen Begrapschen und Ansprechen.



Jetzt sind sie in Kisten verpackt irgendwo auf dem Atlantik unterwegs. Wir werden sie vermissen. Adeus!



Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 08/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]






[kol_2] Hopfiges: Montseny Lupulus aus Katalonien
 
Aldi hat in Figueres seinen Standort gewechselt und einen gigantischen Image-Wechsel vollzogen.

Vom spärlich sortimentierten Sparmarkt mit Aldi-Spar-Produkten hin zum Exklusiv-Diskounter mit erlesenen Markenprodukten bzw. Produkten en moda wie Beefeater Gin oder, um bei Alkoholika zu bleiben, Estrella Damm, der Biermarke Kataloniens, und Barceló Rum aus der Dominikanischen Republik. Viele Eigenprodukte gibt es jetzt im edlen Design und ein Novum in Katalonien ist die Auswahl an geräuchertem Lachs, die von Wildlachs bis Lachsforelle reicht.



Besonders angepriesen unter den Bieren wird ein Bier Namens Montseny in vier Versionen: Lupulus (Hopfen), Malta, Negra und Blat (Weizen). Um es dem Verkostenden einfach zu machen, gibt es ein Probierpaket, in dem alle vier Sorten enthalten sind + ein Glas.

In Anbetracht der 38 Grad heute hab ich mir das Lupulus ausgesucht und es noch einmal 5 Minuten ins Gefrierfach gelegt. – Macht man natürlich nicht. – Auf der Flasche wird sein typisch nationaler Charakter gepriesen. Ich denke sofort an das sehr gute Estrella Damm oder an Cruzcampo, muss erlichkeitshalber aber zugeben, dass ich in Bezug auf das Lupulus mehr als skeptisch gestimmt bin. In Spanien endeten schon einige Verkostungen, gerade neuerer Sorten am Markt, mit der traurigen Entsorgung von nicht Trinkbarem.

Das Flaschen-Design besticht nicht. Das Glas ist von geringer Qualität und der Aufdruck ein Aufkleber mit dem Versuch die Balance zu halten zwischen Aldi-Spar und Aldi-Nobel.

Der Schaum hält nicht lange und ist eher großbporigperlig. Das Bier ist unfiltriert und daher leicht naturtrüb. Es schwimmen Teilchen aus Hefe und Eiweiß umher, das ist aber gewollt und unbedenklich. Der Geruch ist hefig, erinnert an Zitrusfrüchte, was dem verwendeten Hopfen geschuldet, und etwas unfertigreif.

Ich muss mich zum ersten Schluck schon fast zwingen. Doch meine Zurückhaltung stellt sich als unbegründet heraus! Für die weltweit fortschreitende geschmackliche Vereinheitlichung ist das Montseny Lupulus heftig herb. Sehr angenehm herb und sehr lange anhaltend! Das Bier ist vollmundig und mit 5’4% vol. Alkohol stark. Letzteres ist auch der Grund, warum ich mir an diesem heißen Morgen nicht direkt ein zweites gönne.



Auf der Website der Brauerei findet sich zudem die Erklärung für das flockig trübe Äußere: Die Biere der kleinen Compañía cervecera del Montseny seien echte Handarbeit und reine Naturprodukte. Sie seien nicht pasteurisiert und unterlägen dem Deutschen Reinheitsgebot. Das Montseny Lupulus bezeichnen die Brauer als ÍBER ALE, als in der Tradition der alten Iberer gebraut. Die Zutaten Hopfen und Malz sind der Herstellung von Pilsener- oder Lager-Bieren entliehen.

Was mir noch nicht so richtig in die Birne will, ist der Verkauf der Montseny-Biere bei Aldi. Wie passt eine 2007 gegründete micro cervecería, die auf Spaß, Tradition und Handarbeit wert legt, zusammen mit dem gigantischen Discounter aus Deutschland, den ich immer noch mit Hansa-Pilz assoziiere? – Ich schätze, dass ich oben beschriebenen Image-Wandel erst noch realisieren muss.

Text: Dirk Klaiber

[druckversion ed 08/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: hopfiges]





[kol_3] Lauschrausch: Brasilien ohne Samba
 
Der Titel dieses 4-CD-Hörbuchs klingt etwas provokant, wird doch das Land stark mit dem Samba identifiziert. Aber Autor Krystof Wiernicki, der uns auch als Sprecher auf der Reise durch zwei Jahrhunderte brasilianische Musik begleitet, möchte nicht provozieren, sondern aufklären. Und das gelingt ihm mit Musikbeispielen von hierzulande meist unbekannten Komponisten auf anmutige Weise. Sei es ein chôro von José Guerra Vicente, ein Teil aus der Oper "La Gioconda" oder der "Dança negra" für Klavier von Mozart Camargo Guarnieri. In diesem Zusammenhang wird gleich das Phänomen erklärt, wieso Nachnamen wie Mozart oder Rossini in Brasilien zu Vornamen werden (was übrigens auch mit Politikernamen – Lenin – oder Städten – Washington – funktioniert).

Brasilien ohne Samba
Krystof Wiernicki
Onomato Verlag

Neben der Erklärung der Genres und ihrer Entstehung liefert Wiernicki bzw. der ein oder andere Experte noch gesellschaftliche Einordnungen und Anekdoten zur Musik. Wir hören, dass in Brasilien die in Deutschland so pedantisch beachtete Trennung von E- und U-Musik nicht bzw. kaum vorhanden ist, was sicher auch Heitor Villa-Lobos zu verdanken ist, der in seinen Kompositionen bereits die beiden Welten miteinander verknüpfte. Wiernicki erklärt mit sympathisch ruhiger Stimme (manchmal etwas zu undeutlich), dass "Tico tico no fubá" (1917) eines der meistgespielten brasilianischen Musikstücke ist, was die "valsas de esqunia" mit der Straßenecke zu tun haben oder dass der ab 1870 aufkommende chôro nach fünf Generationen unterteilt wird. Er stellt uns in einem ausführlichen Porträt die Komponistin Chiquinha Gonzaga vor, die als "Mutter der Populärmusik" gilt, weil sie neben ihren klassischen Kompositionen auch Stücke schrieb wie beispielsweise 1899 den Marsch "O abre alas", der noch heute das Eröffnungsstück des Karnevals ist und der hier aus dem Grammophon erklingt. CD Nr. 4 endet mit drei Komponisten der Bewegung "Musica Nova" (1963), die sich u.a. der elektroakustischen Musik widmeten. Allerdings findet sich davon leider kein Hörbeispiel, sondern nur Kompositionen, die der "Neuen Musik" zugerechnet werden können.

Ein ausführliches Booklet mit Komponisten und Interpreten (die Jahreszahlen der Kompositionen fehlen mir) ergänzt die akustische Reise durch Brasiliens unbekannte Musik.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

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