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[art_2] Brasilien: Magie im Maracanã
Impressionen zum 4. Stern

Rio de Janeiro vibrierte vor Spannung, und wir vibrierten mit. Bereits am Morgen lieferten sich deutsche und argentinische Schlachtenbummler an der Copacabana Gesangswettbewerbe, zündeten Böller, brachten sich in Stimmung. Etwas Großes lag in der Luft, und das Lächeln der deutschen Fans kündigte es an: heute sollte unser Tag werden.
 

 
70.000 Argentinier waren in den letzten Tagen in die Stadt eingefallen, meldeten die Medien, dazu rund 10.000 deutsche Fans. Das Maracanã, der mythische Fußballtempel, war von tausenden Polizisten und Soldaten abgeriegelt, von den angekündigten Protesten gegen die FIFA war nichts zu sehen. In den frühen Morgenstunden hatte die Polizei zwei Dutzend Aktivisten verhaftet, um dem Protest den Wind aus den Segeln zu nehmen.



Die Außenhülle des Maracanã verziert mit riesigen Bannern, die das größte Sportereignis der Welt ankündigten: The Final – Germany vs Argentina. „Stell Dir vor, die ganze Welt schaut gerade auf diesen Ort“, raunte mir ein Kollege zu als wir das Stadion betraten. Bis zu fünf Hubschrauber kreisten gleichzeitig über der Arena, ihr Knattern hoch oben im blauen Himmel.

Aus dem riesigen Rund schallten argentinische Fangesänge schon eine Stunde vor dem Finale, auch hier auf den Tribünen waren die argentinischen Fans deutlich in der Mehrheit, auch wenn viele Brasilianer ihre klare Sympathie für die deutsche Elf sichtbar machten.



Viele hatten Flamengo-Trikots an, die den schwarz-roten Hemden der Nationalelf so ähnlich sehen. „Flamengo und Deutschland, das sind Brüder“, rief mir ein Brasilianer zu, auf mein deutsches Trikot in Rot-Schwarz zeigend.

Kurz vor dem Finale hatte Lukas Podolski noch ein Foto getwitter, auf dem das deutsche Leibchen und das Flamengo-Shirt gemeinsam über der Brüstung seines Hotel-Balkons hingen: „Stehen wir zusammen oder nicht?“, postete er auf Portugiesisch darunter.



Gerade einmal vier Tage war es her, dass die deutsche Elf dem brasilianischen Gastgeber seine empfindlichste Niederlage in der WM-Geschichte beigebracht hatte. Brasilien hatte den Zuschlag für die WM 2014 erhalten, um das 100-jährige Bestehen des brasilianischen Fußballverbands zu ehren. Und ausgerechnet bei diesem Anlass fügte Deutschland der Selecão die höchste Niederlage in 100 Jahren zu.
 
Man hätte also eigentlich erwarten könne, dass die Brasilianer sich auf die Seite ihrer argentinischen Nachbarn schlagen würden, so wie es Brasiliens verletzter Stürmerstar Neymar tat. Doch zu tief saß wohl jener Schmähgesang, den die Argentinier über das brasilianische Ausscheiden gegen Deutschland anstimmten: „Na, wie fühlt Ihr Euch jetzt, Brasilianer?“, hallte es vier Tage lang durch das Land.



„Sollte Argentinien gewinnen, werden wir uns den Rest unseres Lebens lang anhören müssen, dass sie im Maracanã siegten, während Brasilien mit 1 zu 7 nach Hause geschickt wurde,“ gab ein Taxifahrer am Vortag des Finals zu bedenken. Klare Sache, den Deutschen gönnt man es.
 


Vor dem Eingang des São Januário Stadions von Vasco da Gama hatten sich am Samstag einige Hundert Brasilianer eingefunden, die das Abschlusstraining der deutschen Mannschaft sehen wollten. Sie trugen deutsche Fahnen und stimmten „Alemanha“ Sprechchöre an. Drinnen spielten sich Bastian Schweinsteiger und die in schwarze Anzüge gehüllten Sicherheitsbeamten des Stadions munter die Bälle zu, Trainer Löw wuchtete entspannt einen Volley nach dem anderen ins leere Tor.

Auf der Pressekonferenz kurz zuvor hatte er noch mit einem argentinischen Medienvertreter gescherzt, der ihn fragte, ob er schon eine Liste mit den möglichen argentinischen Elfmeterschützen bereit habe, so wie 2006 in jenem legendären Viertelfinale. Löw hatte kurzentschlossen einen Zettel hochgehoben und gegrinst.



Tiefenentspannt, so das Stichwort.
 
Und so war es auch am Endspieltag. Khedira verletzt sich beim Aufwärmen. Tiefenentspannt, kein Problem. Kramer spielt dafür, Kramer? Tiefenentspannt, kein Problem. Kramer muss nach 30 Minuten raus. Tiefenentspannt, kein Problem. Argentinien kommt gefährlich vors Tor. Kein Problem. Schließlich räumte Boateng alles ab, was vors deutsche Tor kam.
 


Eigentlich war während des Turniers immer klar, dass Deutschland gewinnt. Zu tiefenentspannt war ich. Und das bin ich sonst nie. Okay, gegen Algerien bin ich streckenweise verzweifelt, doch danach war alles klar: Deutschland macht es, gegen Frankreich, gegen Brasilien und auch jetzt, gegen Argentinien.

 

Warum ich dann trotzdem wie ein kleiner Junge weinte als Mario Götze in der 113. Minute jenes unglaubliche Tor schoss, weiß ich auch nicht. Das gehört wohl dazu zum Fußball. Lange noch stand ich mit den deutschen Fans in jener Kurve, vor der die deutschen Spieler mit dem Pokal herumtrollten. Dann verschwanden sie einer nach dem anderen im Kabinengang, als letzter Lukas Podolski, der sich den Pokal lässig über die Schulter schwang. Hinter ihm her flitzte sein kleiner Sohn, der Papas FIFA-Medaille freudig durch die Luft schwang.



Der Rest der Nacht war nur noch Party am deutschen „Tor“-Kiosk am Strand von Leme. Irgendwann mitten in der Nacht schwang ein freudiger Gesang über den Strand. „So ein Tag, so wunderschön wie heute...“ Wir schauten uns an und wussten, dass wir einem einmaligen Ereignis beiwohnen durften.
 
So etwas wird es nie wieder geben.



Text + Fotos: Thomas Milz

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