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[art_3] Peru: Peruanische Paradenposse
 
Sonntag. Sonntag ist Paradetag. Etwas überrascht begegnen wir in Ica Menschenmassen in der Straße, die säuberlich aufgereiht auf ihren Auftritt warten. Frühlingsanfang. Das hier ist keine normale Parade, aber auch nicht - wie ich naiver Weise dachte - ein Frühlingsumzug, ein Fest zum Anfang der sonnenreichen Jahreszeit.



Wie wir im Verlauf der Reise feststellen, ist jeden Sonntag Paradetag in Peru. Nicht nur in großen Städten, sondern auch noch in den verschlafensten Nestern wird sonntags fleißig die Nationalhymne gesungen. Und an der Parade nehmen viele Leute teil. Heute ist es natürlich besonders voll, denn schließlich ist der Frühling ja die Jahreszeit, um auf die Straße zu gehen.

Die erste Gruppe, der wir begegnen, ist eine Abteilung Frauen mittleren Alters, die eher asiatisch gekleidet sind. Ein genaueres Hinsehen verrät uns, dass es sich um eine Gruppe von Tai-Chi-Anhängerinnen handelt, die gleich auf den plaza de armas marschieren werden, um dort ihren Verein zu repräsentieren. Später sehen wir sie militärisch quadratisch angeordnet auf dem Platz ein paar Übungen machen.

Neben den Tai-Chi-Frauen gibt es eine große Anzahl Schüler, die mit weißen Handschuhen, Lackschuhen, Rock-Bluse-V-Ausschnitt-Pullover im Gleichschritt marschieren. Oder die Belegschaft einer Fabrik, die sogar versucht, im Stechschritt über den Platz zu kommen, ohne dabei auf die Nase zu fallen.

Die Feuerwehr, religiöse Minderheiten, Universitäten und selbstverständlich fehlt auch das unvermeidliche Militär nicht, stellt sogar den Rahmen, gibt den Takt an.

In Cuzco wird die Fahne Perus gehisst. Ein paar Militärs tragen sie auf den Armen als handele es sich um einen Toten. Ausgewählte Honoratioren bekommen zackig das Recht oder die Ehre erteilt, am Strang zu ziehen und die weiß-rote Pracht sich entfalten zu lassen.

Danach - schließlich ist Cuzco Q’osqo und damit neben dem "Nabel der Welt" die ehemalige Hauptstadt des letzten großen präkolonialen Imperiums – erhebt sich auch die bunte Inka-Flagge des Tahuantinsuyo (das Reich der vier Gebiete) mit einer identischen Zeremonie in den Himmel.

Mehr Soldaten, mehr Honoratioren, mehr Hände an dem Mützenschirm.

Anschließend fallen Salutschüsse. "(Wir kämpfen) bis zur letzten Kugel", wird brüllend Admiral Grau, der große Kriegsheld Perus aus dem Pazifikkrieg gegen Chile, zitiert.

Ich mag keine Paraden. Außerdem frage ich mich, ob die Zeit, die die Schüler dafür verwenden, den Stechschritt einzustudieren, ob die Farbe, mit der die Paradestreifen auf den Straßen wie zu schmale Autospuren markiert sind, nicht sinnvoller eingesetzt werden könnte. Dass Alberto Fujimori - der derzeitig letzte Diktator Perus - die Paraden eingeführt hat, macht sie mir nicht sympathischer. Schließlich war er es auch, der während der letzten großen Choleraepidemie an einem vermeintlich beliebigen Straßenstand Ceviche essen ging, um zu zeigen, dass peruanischer Fisch auf peruanische Art und Weise zubereitet, unmöglich ungesund sein kann. Niemand hat ihm je einen Prozeß machen können wegen der vielen Menschen, die danach an Cholera starben, weil sie ihren Herrscher nachahmten, aber offensichtlich nicht seinen Stand erwischten.

Den Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus mag man darin sehen, dass der eine schlicht ein Ausdruck des Wohlfühlens, der Identifikation mit einem Stückchen Erde und seiner Kultur ist, während der andere stets mit einem Vergleich endet: besser/größer/schöner/... als die <Lieblingsfeinde>, wobei <Lieblingsfeinde> zu ersetzen ist - möglichst durch die Angehörigen eines Nachbarlandes.

Gegen das erstere Gefühl gibt es sicherlich nicht nur nichts einzuwenden, sondern es ist im Gegenteil sehr bedauerlich, dass es in unseren Breiten aufgrund des Kulturverlustes mehr und mehr abhanden kommt.

Zum Teil ist das eine notwendige Entwicklung, denn die Mobilität bedingt einen gewissen Verlust der kulturellen Wurzeln.

Noch dazu ist es speziell in Deutschland den rechten Kräften gelungen, das ureigene Zusammengehörigkeitsgefühl soweit zu politisieren, dass die schlichte Beschäftigung mit autochthoner Kultur bereits als politisches Statement aufgefasst werden muss.

Das ist in Peru natürlich anders, da dort die Bösen von außen kamen. In Peru kann man sich an den Traditionen und der Landschaft erfreuen, sich zu einem Teil ihrer erklären, ohne gleich politisch fragwürdig zu werden.

Das soll aber nicht heißen, dass etwa besagte sonntägliche Paraden vollkommen unschuldig wären. Zum Teil sicherlich ein einfach wieder aufgekommenes und so wichtiges Selbstbewusstsein, zum anderen aber auch nicht wenig martialisch. Man sollte nicht vergessen, dass der letzte Krieg, den Peru geführt hat - mit Ecuador - nicht allzu lange her ist. Ansonsten hat sich uns die Schönheit Icas leider nicht erschlossen. Hier gibt es das einzige nennenswerte Weinanbaugebiet Perus, ein großes Museum mit vielen interessanten Exponaten, aber wir haben uns in Ica nicht besonders wohl gefühlt. Das liegt sicherlich auch an der Größe Icas und daran, dass das einzige noch funktionierende Kino nur noch Pornofilme zeigt. Der Rentabilität halber sicherlich.

Abends verirren wir uns in einen chifa, der zwar sehr preiswert ist, aber Zweifel aufkommen lässt, ob wir das auch gesund und munter überstehen. Chifas sind peruanisch-chinesische Restaurants, von denen man vielleicht annehmen könnte, dass sie "normale" China Restaurants wären, aber das ist weit gefehlt.

Peru ist - aus derselben Motivation heraus wie Deutschland - ein Vielvölkerland, allerdings bereits etwas länger. Vor allem die Chinesen, die seit rund 150 Jahren hier ansässig sind, haben es geschafft, sich komplett in die peruanische Bevölkerung zu integrieren. Und die Küche der chifas - ein neudeutsch Crossover der traditionellen chinesischen mit der peruanischen - ist so sehr in die peruanische integriert, dass sie zum Bestandteil des Nationalstolzes geworden ist. Der chaufa-Reis ist eine billige Ergänzung des nationalen Speisezettels. Wie ich später noch berichten werde, ist Reis Bestandteil eines jeden Essens in Peru, mit einigen sehr wenigen Ausnahmen. Reis gibt es zwar schon länger in Peru, aber das Wissen um den geordneten und ertragreichen Anbau kam erst, nachdem die coolies nicht mehr nur als Sklaven auf den Guano-Inseln gehalten wurden. Peru verdankt somit den Chinesen nicht nur eine Bereicherung der Küche, sondern sogar einen Hauptbestandteil der täglichen Kost.

Und sie haben es den Chinesen mit einer anfangs zögerlichen, heute jedoch vollzogenen Integration gedankt. Viele Peruaner haben deutlich asiatische Züge, vor allem natürlich im Norden und hier in Ica, wo es die größten Einwanderungswellen gegeben hat.

Info: Asiatische Immigration in Peru
1849 hatte der Großgrundbesitzer und Politiker Domingo Elías eine großartige Idee, wie die billige Arbeitskraft der ehemaligen schwarzen Sklaven zu ersetzen sei: er brachte Chinesen ins Land und erreichte sogar, dass der Staat Importeuren der billigen Handlanger eine Prämie zahlte. Über 100. 000 Chinesen wurden so ins Land gebracht, um auf den Guano-Inseln, Zucker- und Baumwollplantagen, aber auch im Dschungel zu arbeiten, wo die einheimische Bevölkerung sich strikt und ziemlich gewalttätig weigerte, auf den Plantagen zu arbeiten. Die Geschichte der Chinesen in Peru ist eine von äußerster und kaltblütiger Grausamkeit und eine der Sklaverei in einem Land, das diese offiziell abgeschafft hatte. Halb nackt, ohne Sonn- und Feiertage, mit Knebel-Verträgen von bis zu 8 Jahren Dauer, zum Teil nicht einmal freiwillig nach Peru gekommen, wurden die Einwanderer von den peruanischen Impresarios ausgebeutet. Etwa 50 Jahre später, 1899 erreichten die ersten knapp 800 Japaner den großen Hafen Perus, Callao. Sie hatten etwas mehr Glück als ihre chinesischen Nachbarn. Und wie diese beeinflussten sie die Küche des Landes. Dass Sushi und ceviche beide aus rohem Fisch bestehen, ist kein Zufall.

Entgegen unserer Erwartungen überleben wir allerdings den chifa ohne Probleme und brechen so am übernächsten Morgen Richtung Nazca auf. Man hat uns gesagt, dass colectivos (also Sammeltaxis in Form von großen, alten, lauten und stinkenden amerikanischen Straßenkreuzern) die Strecke für wenig Geld und in knapp zwei Stunden hinter sich bringen würden.

An der Haltestelle ist eine Karosse faszinierender als die andere. Aber das Beste sind die Geräusche. Wenn eines der original 50er Jahre Autos den Motor startet, dann klingt das wie eine mittelgroße Cessna - ohne zu übertreiben. Wir suchen uns einen der vielen combis aus und werfen unser Gepäck in den Kofferraum, in den mühelos zwei erwachsene Personen passen würden. Während wir gelassen auf die Abfahrt warten, unterhalten wir uns mit dem Fahrer und einigen seiner Freunde. Natürlich wollen sie wissen, woher wir kommen, wie lange wir schon in Peru sind, was wir gesehen haben und vor allem, wie es uns gefällt. Es macht uns keine Mühe, begeistert von dem zu erzählen, was wir bisher gesehen haben. Wir haben uns die beiden Plätze auf der durchgehenden Vorderbank reserviert, um besser sehen zu können. Hinten quetschen sich noch vier weitere Leute in den Wagen, ein Chinese will nicht, weil alle anderen Frauen sind. Als Santos, der Fahrer, losfährt, muss er beim Schalten zwischen den Beinen meiner Begleiterin hindurch greifen, um an den Schaltknüppel zu kommen.

Auf der Strecke erzählt uns der Fahrer Santos von der Landschaft, zeigt uns das ein oder andere Bemerkenswerte und fragt uns nach unserem Beruf. Auch unser Gehalt will er wissen und versetzt uns damit in eine peinliche Lage. Die Gehälter, aber auch die Preise, in Peru sind von einer so anderen Größenordnung, dass wir es nicht wagen, die Wahrheit zu sagen. Was würde das auch bewirken? Wir nennen ein viel zu kleine Hausmarke, fügen aber sofort hinzu, dass die Preise in Europa viel höher seien als hier. Wir nennen ein paar Kennziffern, wie Wohnung, Brot und andere Grundnahrungsmittel.

Aber nicht nur uns, sondern auch Santos ist natürlich bewusst, dass wir aus viel reicheren Gefilden kommen. Er erzählt uns von seinem Verdienst und seiner Arbeit und es ist unzweifelhaft, dass uns das Schicksal mit dem Geburtsland wenigstens finanziell viel mehr Glück beschert hat als ihm.

Natürlich hat das wenig mit Lebensglück oder ähnlichen Transzendenzen zu tun, aber es lebt sich sicherlich ruhiger, wenn man weiß, dass es im ärgsten der Fälle immer noch das soziale Netz gibt. In Peru lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.

Wir fahren durch eine Landschaft, die an Kargheit sicherlich ihresgleichen sucht. Keinerlei Pflanze ist zu sehen, nicht einmal ein Kaktus. Nur Dünen, Sand und gelegentlich karge Felsen liegen links und rechts der Straße. Wir durchqueren ein paar Dörfer, die jeweils an einer Art Oase liegen, aber das Grün ist sehr knapp, das Wasser sicherlich noch mehr. Die vorherrschende Farbe ist das Gelb des Sandes. Auf gut ausgebauten und asphaltierten Straßen begegnen wir einem nackten Mann, der offensichtlich verwirrt am Rand der Fahrbahn steht. Santos lacht und erzählt uns, dass dieser Mann ein ständiger Begleiter dieser Strecke ist. "Er ist so verrückt", kichert unser Fahrer.

Text + Fotos: Nil Thraby

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