ed 04/2014 : caiman.de

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spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Siebzehnte Etappe: Ein Don Quijote aus dem Fernen Osten
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Surreal statt Real
Rios Lebenshaltungskosten als Medienphänomen
THOMAS MILZ
[art. 2]
spanien: La Orotava
Bananen & Barock auf Teneriffa
BERTHOLD VOLBERG
[art. 3]
peru: Tambo Colorado - Erste Begegnung mit den Inkas
NIL THRABY
[art. 4]
helden brasiliens: ...und es ist Carnaval (2014)!
Bildergalerie
THOMAS MILZ
[kol. 1]
erlesen: Demenz, Alkohol und Pistolen
Das Gesetz des Stärkeren von Joaquín Guerrero Casasola
DIRK KLAIBER
[kol. 2]
traubiges: Genuss im Schlauch
Flor del Montgó Monastrell 2008
LARS BORCHERT
[kol. 3]
lauschrausch: Jarabedepalo - Somos
TORSTEN EßER
[kol. 4]

[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Etappen [17] [16] [15] [14] [13] [12] [11] [10] [9] [8] [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Siebzehnte Etappe: Ein Don Quijote aus dem Fernen Osten
 
14. Juni 2013 um 6 Uhr verlassen wir die Herberge des Heiligen Geistes und wandeln noch etwas verschlafen durch die Gassen von Carrión de los Condes. Und da verweilen wir länger als uns lieb ist, denn irgendwo hinter der Plaza Mayor hatten die Bewohner offenbar keine Lust mehr, die üblichen gelben Pfeile als Wegweiser für die Pilger an Hauswände zu pinseln. Wir drehen eine unfreiwillige Ehrenrunde. Als wir zum Ortsausgang kommen, sehen wir links wieder die Kirche, die neben unserer Pilgerherberge liegt: wir sind im Kreis gegangen. Und wir sind nicht die einzigen. Wir treffen noch zwei orientierungslose Kleingruppen von Pilgern, die einen aus Freiburg, die anderen aus den USA, sonst ist niemand unterwegs, nur Pilger stehen in Kastilien so früh auf.

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Inzwischen fällt das Licht der aufgehenden Sonne durch die Gassen, in die wir nun zurück gehen, um endlich auf dem richtigen Weg hinaus zu finden. Immer noch keine gelben Pfeile oder Muscheln in Sicht. "Anscheinend wollen die, dass wir hier bleiben", meint Cayetana, meine andalusische Begleiterin, in gereiztem Ton. Noch ein Umweg, dann gelangen wir endlich durch Zufall auf den Weg, der Richtung Westen aus Carrión heraus führt.

Im Morgenlicht das erste Monument des Tages: ein Kilometer hinter Carrión erheben sich direkt am Camino die prächtige Fassade und der originelle, verschnörkelte  Glockenturm des Klosters San Zoilo. Es wird auch das letzte Monument für heute bleiben, denn nun folgt ein Gewaltmarsch durch weitgehend baumlose Felder, um eine der ödesten Etappen des ganzen Jakobswegs zu absolvieren. Auf einer Strecke von fast 27 Kilometern wird es nur zwei Ortschaften geben, ansonsten unter gleißender Sonne liegende Leere. Sehr mürrisch hat Cayetana heute früh auf meinen Befehl hin noch eine dritte 1,5-Liter Flasche Wasser eingepackt, so dass jeder von uns allein viereinhalb Kilo Wasser schleppt. Aber bis zum ersten der zwei Dörfchen sind es allein schon 18 Kilometer, ohne jede Einkaufsmöglichkeit und ohne Brunnen. Diese gnadenlosen Fakten haben auch Cayetanas Respekt vor dieser Etappe gesteigert, mir scheint, sie hat ein wenig Angst davor. Während der ersten zwei Stunden marschiert sie tapfer und erstaunlich diszipliniert und leert nur eine Wasserflasche.

Während beim Kloster San Zoilo noch ein paar Baumgruppen die Landschaft auflockerten, wandern wir inzwischen durch eine öde Ebene, die sich bis zum Horizont erstreckt.

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Trotz der Sonne, die vom wolkenlosen Himmel brennt, ist es nicht heiß, denn der heftige Steppenwind ist kühl und so schwankt man ständig zwischen Trainingsjacke aus- und wieder anziehen.

Meine Begleiterin bemerkt in die Stille hinein: "Diese Landschaft ist so langweilig, dass man sich über jede einzelne Mohnblume freut. Und über jeden Hügel – so lange man ihn nur von weitem sieht und nicht hoch steigen muss." Cayetana hatte mir gestern Abend stolz von ihren zwei Blasen am linken Fuß erzählt.  Jetzt wird sie etwa einmal pro Stunde quengelig wegen der Schmerzen, aber insgesamt beißt sie in ungewohnter Selbstkontrolle die Zähne zusammen. Sie weiß, dass wir diesen Steppenmarathon so schnell wie möglich und ohne großes Selbstmitleid hinter uns bringen müssen. Durch die von orgelndem Wind erfüllte Weite schreiten wir voran und nähern uns einem Punkt auf dem Weg, der sich bald als menschliches Wesen entpuppt. Auf den ersten Blick sieht dieser Pilgerkollege aus wie viele: ausgestattet mit Pilgerstab, rotem Rucksack mit Trinkflasche und Strohhut. "Aber mit wem redet der?", flüstert Cayetana mir zu. Wir sind jetzt schon nah bei ihm. Es ist ein kleiner Koreaner, der sein Gesicht zu seltsamen Grimassen verzieht und auch sein Fortbewegungsstil ist bizarr: ein paar Schritte voran, dann zwei zurück, dabei macht er Täuschungsmanöver wie in einem Kung-Fu-Kampf. Er führt laute Selbstgespräche in einem wirren Gemisch aus Englisch, Spanisch und vermutlich Koreanisch und fuchtelt mit seinem Pilgerstab wild in der Luft herum, als ob er ein Schwert in den Händen halte. Vielleicht hält er sich für Don Quijote, der sich in einen Kampf gegen imaginäre Windmühlen am Horizont stürzen will. "Bloß schnell vorbei", raunt Cayetana zu mir, um eine Sekunde später dem blind um sich Schlagenden ein beherztes "Buen Camino" ins Gesicht zu brüllen, als sie an ihm vorbei hastet.

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Als wir uns nach ein paar Minuten nochmal umblicken, folgt uns dieser Don Quijote aus dem Fernen Osten, malt weiter Schwerthiebe mit seinem Stab in die Luft und stößt ab und zu laute Schreie in einem Kauderwelsch aus, in dem einzelne spanische Worte vorkommen. Cayetana macht eine Scheibenwischer-Geste und wir beeilen uns, den Abstand zu ihm zumindest konstant zu halten. "Der war ja total gestört! Verwechselt den Camino wohl mit einer Casting-Show für ne chinesische Quijote Verfilmung!" "Koreanische – ich glaub der Mann ist Koreaner", verbessere ich meine Freundin. "Na ist ja auch egal, jedenfalls ein Quijote aus dem Osten und ganz ohne Sancho Pansa…", entgegnet Cayetana. Wir bauen unseren Vorsprung aus. Dann ist wieder Schweigen über der Steppe.

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Nach zwei Dritteln des Weges wird die Weizenwüste abgelöst durch nackte, braune Äcker. Gerade als ich den interessanten Rundturm eines Kornspeichers fotografieren will, trampelt eine mit Skistöcken bewaffnete US-Amerikanerin in hektischem Eiltempo grußlos an uns vorbei. Auf das von Cayetana betont freundlich geschmetterte "Buen Camino!" zeigt sie keine Reaktion. Sie hat es vielleicht gar nicht gehört, denn sie absolviert ihren Marathon mit Kopfhörern. "Die spinnt wohl, die Alte, was bildet die sich ein?!", platzt es aus Cayetana heraus. Sie nimmt es als persönliche Beleidigung, wenn man ihren Gruß nicht erwidert. "Los, hinterher! Die holen wir noch ein. Und was macht die überhaupt hier? Wenn sie ein Fitnessprogramm durchziehen will, kann sie das zu Hause in ihrem Gym machen, dafür muss sie nicht zu uns nach Spanien kommen! Wenn sie weder links noch rechts guckt, ist es ihr am Ende egal, ob sie über den Camino läuft oder irgendeinen kalifornischen Highway entlang joggt…" Unser Ehrgeiz ist zwar geweckt, aber etwas enttäuscht muss ich zugeben, wir haben es nicht geschafft, die "gedopte Yankee-Tussi" (Originalton Cayetana) einzuholen. Aber dafür sind wir eine Viertelstunde später – und deutlich früher als befürchtet – endlich am Ziel: Terradillos de los Templarios.

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Nicht gerade eine Weltstadt. Als wir die ersten Häuser abschreiten, kommentiert Cayetana böse, sie müsse noch überlegen, ob man sowas hier überhaupt schon Dorf nennen könne. Es ist 13 Uhr, als wir den mit den üblichen Storchennestern besiedelten Kirchturm mit schief sitzendem Kreuz passieren. Das 55-Seelen-Nest döst in der Mittagssonne und wirkt wie die staubige Filmkulisse für einen Western in der Prärie. Dann stehen wir vor unserer Pilgerherberge, deren Portal mit dem Mosaikbild eines Tempelritters dekoriert ist. Die Ländereien dieser Gegend haben im 13. Jahrhundert dem Orden der Tempelritter gehört und die Herberge erinnert daran mit ihrem Namen: Jacques de Molay, der letzte Großmeister des Ordens, der 1307 nach einer widerlichen Intrige zwischen dem raffgierigen französischen König Philipp dem Schönen und dem Marionetten-Papst Klemens V. auf dem Scheiterhaufen hingerichtet wurde. Danach teilten König und Papst die Reichtümer der Tempelritter unter sich auf. Hier im Herzen Kastiliens konnten sich die Ritter dieses mysteriösen Ordens noch ein paar Jahre länger gegen ihre Verfolger behaupten und die Bewohner von Terradillos sind stolz auf das Erbe der Templer. Im Garten der Herberge weht eine Fahne mit dem blutroten Kreuz der Tempelritter.

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Freudig überrascht nehmen wir ein besonderes Angebot dieser Pilgerherberge an: Übernachtung in richtigen Betten in einem Vierbettzimmer statt im großen Schlafsaal mit Hochbetten. Während der Siesta gibt es die übliche Rollenverteilung: während ich unsere Sachen ordne und dreckige Klamotten wasche, räkelt sich Cayetana in purpurfarbenem Bikini auf der windgeschützten Terrasse in der Sonne. Als ich die Wäsche aus dem Trockner zerre, steht sie plötzlich wutentbrannt mit gepacktem Rucksack vor mir, stemmt die Hände in die Hüften und schnaubt: "Rat mal, wo ich grad herkomme!" – "Du riechst nach Nivea, also vom Sonnenbaden?" – "Nein, aus unserem Zimmer – und jetzt rate mal, wer heut Nacht direkt neben uns liegt in Bett Nr. 3? Dieser Verrückte! Auf der Stelle packe ich jetzt meinen Rucksack und wechsle in die andere Herberge, ich habe Angst vor diesem Kung-Fu-Quijote! Am Ende hält er uns für maurische Eindringlinge und köpft uns im Schlaf mit seinem Schwert!"  Ich versuche, sie zu beruhigen und meine, so weit würde es wohl nicht kommen, obwohl mir der Gedanke an diesen bizarren Schlafnachbarn auch nicht behagt. Nach zehn Minuten kommt Cayetana zurück, wirft ihren Rucksack wieder aufs Bett und berichtet, dass in der anderen Herberge nichts mehr frei sei. Dabei schielt sie auf unseren Nachbarn, der friedlich in seinem Bett liegt, das Gesicht mit Strohhut bedeckt.

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Beim Abendessen kommt das Gespräch irgendwann auf den koreanischen Don Quijote. "Habt ihr auch diesen Gestörten gesehen, der seinen Pilgerstab mit einem Schwert verwechselt?" "Leider bleibt es nicht beim Sehen", verkündet Cayetana in die Runde – "er schläft direkt neben uns und eins ist damit klar: ich werde heute bestimmt kein Auge zutun!" Aufgeregtes Gemurmel und mitleidige Blicke aller sind die Reaktion auf diese Nachricht. Daniel, ein braun gebrannter US-Boy aus Seattle, fragt scherzhaft, ob er neben ihr Nachtwache halten solle. Zudem hat er eine abenteuerliche Theorie über unseren Quijote, die weinseliges Gelächter erntet: "Ich glaube ja, den hat vielleicht die Stadtverwaltung von Carrión bezahlt, um für Entertainment der Pilger auf dieser eintönigen, langweiligen Wegstrecke zu sorgen…" Cayetana wirft dem hübschen Daniel einen langen Blick zu und ich ahne schon das Schlimmste. Aber jetzt wird erst mal in den Schlafsack gekrochen, und zwar allein. Entgegen ihrer Befürchtung schläft Cayetana irgendwann ein und träumt in dieser Nacht, dass sie mitten auf dem Weg eine kleine, demnächst Schatten spendende Pinie pflanzt und gießt.

Text und Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links: Etappe von Carrión de los Condes nach Terradillos de los Templarios: 26,5 Kilometer
www.redalberguessantiago.com
www.turismocastillayleon.com

Unterkünfte:
Unterkunft in Calzadilla de la Cueza: Private Pilgerherberge "Camino Real", Calle Francesa Nr. 26, Tel. 979-883 041: Waschmaschine, Trockner, Internet, Garten mit Pool, keine Küche, Verpflegung in der gleichnamigen Bar. Übernachtung 7 Euro.

Unterkunft in Terradillos de los Templarios: Private Pilgerherberge "Jacques de Molay", im Zentrum: Calle La Iglesia Nr. 18, zu erkennen an Tempelritter auf der Fassade und Templerfahne, Tel. 979-883679; großer Schlafsaal mit Hochbetten (Übernachtung 7 Euro) sowie kleines Zimmer mit vier "richtigen" Betten (Übernachtung 9 Euro), Waschmaschine und Trockner, Bar und Restaurant, schöne Terrasse, kleiner Laden, freundliche Atmosphäre. yacquesdemolay@hotmail.com

Essen und Trinken:
Verpflegung in Calzadilla de la Cueza: Bar/Restaurant der Pilgerherberge "Camino Real" (s.o.), begrenzte Auswahl, aber gut und günstig.

Verpflegung in Terradillos de los Templarios:  Restaurant der Pilgerherberge "Jacques de Molay (s.o.)": Pilgermenü (3 Gänge inkl. Wein) 12 Euro.

Kirchen:
Kloster San Zoilo: anderthalb Kilometer hinter Carrión de los Condes am Camino,  (Öffnungszeiten: 10.30 – 14.00 Uhr und 16.30 – 19.00 Uhr).

[druckversion ed 04/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_2] Brasilien: Surreal statt Real
Rios Lebenshaltungskosten als Medienphänomen

Nennt man Rio de Janeiro und Wellen in einem Atemzug, so ist das nichts Besonderes. Aber solch eine Welle kommt auch in Rio nicht alle Tage daher...

Es war im Januar, als Patrícia den Kommentar eines Freundes las: Rio sei so teuer geworden, dass die Nationalwährung umbenannt werden solle – Surreal statt Real.



Kurzentschlossen bastelte Patrícia eine Digitalversion der "neuen Währung": sie retuschierte ein Bild der Note, kopierte einen Salvador-Dalí-Kopf darüber und überschrieb "Real" mit "Surreal". Das fertige Bild postete sie auf Facebook, fertig! Nach einer Stunde hatten bereits 50.000 Personen das Bild angeschaut. Innerhalb von 24 Stunden vermeldeten die Nachrichtenportale: "Die Cariocas protestieren gegen die hohen Preise und kreieren eine Parallelwährung."

Nach zwei Tagen war die Nachricht einmal um die Welt, mit einer Geschwindigkeit, die an die von Tsunami-Wellen herankommt. Rio ist im Fokus der Medien, dank der kommenden Fußball-WM. Supermärkte, Hotels und Restaurants nutzen das aus, um die Preise ins Astronomische zu treiben. Und wer daheim ein Zimmer frei hat, bietet es zu unglaublichen Preisen den Touristen zur Tagesmiete an. "Das Apartment einer Freundin ist auf einen Schlag unbezahlbar geworden – der Vermieter erhöhte die Miete von 1.500 R$ auf 4.000 R$," erzählt Patrícia. "Ich sehe, dass viele meiner Freunde es sich nicht mehr leisten können, hier in der Südzone von Rio zu wohnen."

In den zwei Monaten, in denen die Nachricht über den Surreal nun schon um die Welt läuft, sind immer neue ebenso "surreale" Fakten dazu gekommen. Eine TV-Reportage zeigt, wie Personen in einem überteuerten Restaurant mit dem Surreal bezahlen, so als ob die Parallelwährung wirklich im Umlauf sei. "Ich habe niemals auch nur einen einzigen Schein gedruckt, er existiert nur in digitaler Form", sagt Patrícia.

Sie hat auch nicht die 100 R$ Note hergestellt, die derzeit in den Medien gezeigt wird, mit einem professionelleren Dalí-Porträt darauf. "Keine Ahnung wer dahinter steckt..."

Und die Welle rollt noch weiter. Auf Facebook sind einige Seiten aufgetaucht, die sich "Rio Surreal" nennen und auf denen ein jeder überhöhte Preise anzeigen kann, inklusive Fotos. Dabei scheint sich der Protest auf Rios Südzone zu fokussieren, dem Lebensraum der oberen Mittelklasse. "Ich habe mit diesen Seiten nichts zu tun, da haben sich andere Personen der Idee bedient", so Patrícia. "Und ich mag auch deren Richtung nicht, die Aufrufe zum Denunzieren und zum Boykottieren. Denn die Preise sind überteuert für alle, und nicht nur die obere Mittelschicht in der Südzone von Rio leidet darunter."



Während sich die Cariocas auf den Wochenmärkten der Südzone, in Ipanema und Copacabana, über den Preis für ein Kilo Tomaten aufregen (10 R$), müssen Bewohner der armen Peripherie bis zu 12 R$ dafür bezahlen. "So etwas muss angezeigt und publiziert werden", meint Patrícia. Die Zeiten sind nicht einfach, und zwar für niemanden!

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 04/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]






[art_3] Spanien / Teneriffa: La Orotava
Bananen & Barock auf Teneriffa
 
Kein Ort auf der Welt scheint mir geeigneter, die Schwermut zu bannen und... den Frieden wiederzugeben als Teneriffa. (Alexander von Humboldt 1799)

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Diese Meinung des niveauvollsten aller deutschen Teneriffa-Touristen scheinen auch mehr als zwei Jahrhunderte später noch sehr viele Besucher zu teilen. Allerdings folgen die wenigsten Touristen heute hier Humboldts Spuren und sie suchen auch kaum in erster Linie Frieden, sondern eher Nachtleben und Surfbretter.

Dabei hat Teneriffa sehr viel mehr zu bieten als Meer und Sonne: eine spektakuläre Natur mit völlig verschiedenen Vegetationszonen auf engstem Raum und sehr sehenswerte Kulturmonumente. Beides vereint findet man vor allem im Orotava-Tal, das nach wie vor als die schönste Region Teneriffas gilt.

Alexander von Humboldt soll – von Nordosten kommend – beim Anblick des üppig blühenden subtropischen Tals mit dem Schnee bedeckten Teide-Gipfel im Hintergrund und der blau glitzernden Atlantikbucht im Westen mit Tränen in den Augen ausgerufen haben: "Dies ist das Schönste, was meine Augen je sahen!"

Wenn man heute an dieser Stelle, dem "Mirador Humboldt", steht, fällt es schon schwerer, Humboldts Entzücken ebenso nachzuvollziehen. Denn die Zersiedelung des riesigen, wie ein Amphitheater vom Meer aus ansteigenden Talkessels stört besonders in der Umgebung von Santa Úrsula durch zahlreiche Touristenburgen die Harmonie des Gesamteindrucks. Man hofft spontan, dass ein absoluter Baustopp die weitere Vernichtung der grandiosen Landschaft verhindern möge.

Während Humboldt noch ganz romantisch, wenn auch beschwerlich, auf einem Esel hier ankam, gelangt man heute weit bequemer und schneller auf einer breiten und allerdings wenig malerischen Autobahn ins Tal. Aber insgesamt konnten weder die Bausünden noch die Autobahn die Faszination des Ausblicks zerstören.

Von der Steilküste und den Terrassen der Bananenwälder, Weinberge, exotischen Blüten, bis hin zum Nebelwald des Monte Verde und dem darüber thronenden Schneegipfel des Teide bietet sich ein beeindruckendes Panorama. Und genau im Zentrum liegt eine Perle unter den spanischen Kleinstädten: das "Barockdorf" La Orotava.

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Für einen längeren Aufenthalt sicher zu beschaulich, ist es ein idealer Ausflugsort für alle, die einen Tag Pause von Strand und Sonnenbrand machen wollen. Das Städtchen zeigt in seinen ruhigen, schattigen Gassen ein fast andalusisches Flair. Vor allem Barockkirchen und die Adelspaläste der "Bananen-Barone" dominieren das Ortsbild.

Typisch kanarische Elemente sind die wunderbar geschnitzten Holzbalkone und der dunkle Vulkanstein, mit dem zum Beispiel das Portal des Klosters San Agustín erbaut wurde. Der Plantagenanbau der besonders aromatischen und süßen Zwergbananen und Weinanbau haben La Orotava im 18. Jahrhundert reich gemacht und die Grundlage für die Finanzierung der Prachtbauten geliefert. Das spektakulärste Gebäude aus dieser Blütezeit ist die Rokokokirche La Concepción mit rasant geschwungener konkaver Fassade und schöner Kuppel.

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Trotz der etwas übertriebenen Kronleuchter-Deko ist auch das Innere der Kirche einen Besuch wert. An Stelle des sonst üblichen Hochaltars steht ein kleiner Säulentempel, flankiert von ekstatisch verzückten Marmorengeln. Leider ist die Besichtigung nur zu den üblichen Zeiten der Messe möglich (Sonntag vormittags, Freitag abends).

Sehr schön sind auch der Rathausplatz oberhalb der Concepción-Kirche und der kleine, terrassenförmig angelegte Englische Park. Er ist der "kleine Bruder" des großen Botánico, der 10 Kilometer nordwestlich in Puerto de la Cruz liegt und 1788 auf Befehl König Karls IV. angelegt wurde, um tropische Pflanzen langsam an ein gemäßigtes Klima zu gewöhnen, bevor man ihnen die kalte kastilische Hochebene zumuten konnte. Heute wachsen hier überall wie selbstverständlich zahlreiche Blumen und Nutzpflanzen, die ursprünglich aus dem karibischen Raum oder Mexiko stammen.

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Und nicht nur in Gärten oder Parks, sondern im ganzen Orotava-Tal kann man zu jeder Jahreszeit eine wuchernde Blütenpracht und eine "Explosion der Farben" beobachten.

Schon Humboldt berichtete begeistert: Teneriffa, gleichsam an der Pforte der Tropen,... hat schon ein gut Teil der Herrlichkeit aufzuweisen, mit der die Natur die Länder zwischen den Wendekreisen ausgestattet. Im Pflanzenreich treten bereits mehrere der schönsten... Gestalten auf, die Bananen und Palmen... die reiche Pflanzenwelt glänzt in den lebhaftesten Farben...

Die Liste lässt sich leicht fortsetzen: Bougainvillea, Tulpenbäume, Hibiscus blühen hier in Farben, die man so noch nie gesehen hat. Und neben den exotischen Mango- ,Avocado- und Chirimoyabäumen bleibt die Bananenstaude der wichtigste Import aus der Neuen Welt.

Während im Englischen Park nur ein einziges Bananenbäumchen fast schüchtern in der Ecke steht, ist die Banane auf der ganzen Insel die Frucht, die in Form von Monokulturen die Landschaft prägt.

Ohne die Banane wäre La Orotava nie so wohlhabend geworden und seine Einwohner hätten sich kaum so prunkvolle Barockbauten leisten können. Aber Schönheit und Charme dieser barocken Kleinstadt werden weniger durch einzelne Bauwerke bestimmt, sondern vor allem durch die grandiose Lage. Besonders von den Terrassen des kleinen Englischen Parks Orotavas hat man eine doppelt grandiose Aussicht: links liegt hinter einem Blütenmeer wie ein blauer Spiegel die weite Atlantikbucht von Puerto de la Cruz, rechts in der Ferne, an klaren Tagen nur von ein paar Wolkenfetzen dekoriert, der Vulkankegel des Teide.

Man wird lange suchen müssen, um einen solchen "Rundumblick" auf Teneriffa zu finden. So fügen sich hier Barock, Bananen und unzählige Blüten zu einem Gesamtkunstwerk von Kultur und Natur zusammen, dem man auf jeden Fall einen Besuch abstatten sollte – am besten mit Humboldts Tagebuch im Gepäck.

Text: Berthold Volberg
Fotos: Maria Josefa Hausmeister

[druckversion ed 04/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_4] Peru: Tambo Colorado - Erste Begegnung mit den Inkas

Eine gute Stunde landeinwärts von Pisco liegt Tambo Colorado, eine der besterhaltensten "Wachstationen" der Inka und gleichzeitig unser erster Kontakt mit ihrer Kultur.

Sicherlich eine der herausragendsten Errungenschaften der Inkas war ihre staatsweite Kommunikation, die im Wesentlichen aus einem ausgeklügelten Läufersystem bestand. Dieses System funktionierte so gut, dass die Adeligen in Cuzco frischen Fisch essen konnten. Cuzco liegt Luftlinie knapp 400 Kilometer landeinwärts und auf etwas über 3300 Meter über dem Meeresspiegel.

Vielleicht fast noch beeindruckender ist die Tatsache, dass die chasquis, die Läufer also, Nachricht aus dem gesamten Großreich innerhalb einer Woche überbringen konnten. Und das von Quito (Ecuador) bis Santiago in Chile!

Anfangs waren die Tambos sicherlich nicht viel mehr als einfache Wegstationen, an denen die angesehenen chasquis Rast machten und sich von den Strapazen erholen konnten. Aber mit der Zeit entwickelten sie sich zu wichtigen Verwaltungszentren. Tambo Colorado war einer der größeren Tambos und diente unter anderem auch zur Kontrolle der Küstenregion: von Cuzco aus sicherlich kein einfaches Unterfangen.

Den Namen verdankt Tambo Colorado der Farbe seiner Mauern, einem dunklen Rot unter gleißender Sonne. Auf den ersten Blick wirkt die Ruine wenig beeindruckend; sicherlich auch ein Grund dafür, dass wir neben einer Gruppe Schüler die einzigen Besucher sind. Da die Inkas kein besonderes Augenmerk auf Dächer legten, sind nur die Mauern übrig; was der gesamten Anlage ein gewisses Flair von Pompeji verleiht, ohne dass jedoch kunstvolle Mauern sichtbar wären.

Wenn man allerdings dem Auge ein wenig Zeit lässt und geduldig durch die Anlage schlendert, entdeckt man doch eine Menge Sehenswertes.

An der Küste wurde und wird weiterhin viel mit Lehmziegeln gebaut. Die Inkas waren ein Volk, das ursprünglich aus den Bergen kam, wo es zwar wenig Vegetation aber ausreichend Steine gab. So ist auch Tambo Colorado als Steinbau begonnen worden: hier und da sieht man noch die Grundmauern aus herrlich zusammengefügten, enormen Steinblöcken.

Später dann, so scheint es, haben die Inkas wohl den locals recht gegeben, die nicht müde wurden zu betonen, dass ihre Lehmziegel doch auch ganz hübsch und soooo viel einfacher herzustellen seien. Und so erfolgte die Fertigstellung der Anlage mit Lehmziegeln.

Tambo Colorado muss einmal sehr farbig gewesen sein. Überall - vor allem in dem völlig verwinkelten Hauptpalast - sieht man noch Farbreste an den Wänden. Als ich durch einige enge und kleine Türen streife, merke ich, dass die Farbe auch nach 500 Jahren noch nicht ganz trocken ist: an meinem T-Shirt klebt ein bisschen Gelb und ein wenig Rot von den Lehmziegeln.

Auch treffen wir hier bereits auf die typischen Formen der Inka-Architektur: trapezförmige Türen und Fenster vor allem, die erdbebensicher sind. Oder zumindest erdbebensicherer als rechteckige. Zudem sehen wir die typische "gepixelte" Sonne - hier als eine halbe Sonne in Form eines Fensters -, das Zeichen der Inkas.

Nachdem wir einige Zeit durch die verwirrenden Zimmer des Palastes gestreift sind und uns über die Größe oder besser eben Nichtgröße der einzelnen Räume gewundert haben, verlassen wir den Palast und wandern durch den Rest der Anlage.

Der riesige Platz im Zentrum war den offiziellen Zeremonien gewidmet, an die allerdings nur ein kleines Podest am Kopf des Platzes erinnert. Heute wirkt der Platz, ohne die vielen Menschen, die ihn damals wohl bevölkert haben, einfach nur leer und öd. Und von dem Rest der Anlage ist auch nicht viel übrig. Der Tempel ist fast vollständig zerstört, es wird nicht einmal mehr richtig klar, wo er beginnt und wo er endet.

Wir verlassen das Gelände und suchen den angeblich nahegelegenen Friedhof. Ein freundlicher und zahnloser Mann weist uns den Weg "gleich um die Ecke". Entgegen unseren Befürchtungen ist es aber tatsächlich gar nicht so weit. Der Berg, den wir hinauflaufen, ist von einer auffallenden Trockenheit. Hier ist seit Jahrhunderten kein Regentropfen mehr gefallen. Noch dazu haben Wind und Flugsand die Steine scharf geschliffen, so dass eine wirklich unwirtliche Atmosphäre entsteht. Abstoßend und lebensfeindlich sind wohl die richtigen Worte. Man gewinnt den Eindruck, dass die Inka - trotz ihres Mumienkultes - ihre Toten genauso ungern um sich hatten wie wir.

Den Friedhof kann man leicht verpassen. Er liegt, keineswegs gekennzeichnet, am Wegrand und verschwindet, beinahe perfekt getarnt, in dem übrigen Felsgeröll. Nur ein paar Fußspuren in seine Richtung verraten ihn.

Kleine, flache Häuser mit äußerst niedrigem Eingang und mittlerweile eingestürzten Dächern bilden die letzten Ruhestätten. Man läuft auf einem Weg etwas oberhalb der Grabhäuser entlang. Überall - nicht nur in den Häusern - liegen Knochen und Knochenreste. Wir fragen uns, ob das wirklich ein Inkafriedhof sein kann; aber es kann wohl.

Die Unwirtlichkeit des Ortes und seiner Umgebung verstärkt den Eindruck, den der Anblick der offenen Gräber auf mich macht. Ich fühle mich als Voyeur, wo ich als solcher nicht willkommen bin. Die Knochen sollten unberührt und unbesehen verrotten dürfen. Trotzdem beeindruckt mich die Szene so sehr, dass ich vor dem Verlassen noch ein paar Fotos schießen muss. Sie mögen es mir nachsehen.

Text + Fotos: Nil Thraby

[druckversion ed 04/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]




[kol_1] Helden Brasiliens: ...und es ist Carnaval (2014)!
Bildergalerie

Es ist 2014, und es ist Carnaval. Logisch. Aber dieses Jahr wollen sich keine Carnavalsgefühle einstellen. Der Grund ist schnell gefunden: In wenigen Wochen startet hier in Brasilien der größte Carnaval der Welt, die Fußball-WM!

Schon seit Monaten oder sogar Jahren gleicht die Vorbereitung auf das größte Sport-Event des Planeten einem wahrhaftigen Carnaval. Vielleicht sogar noch besser, weil surrealer, chaotischer, dramatischer...

Wer braucht da noch das Original, den Carnaval? Wir waren trotzdem mit dabei, im Sambódromo von Rio de Janeiro. Es tat einfach mal gut, dem karnevalesken Chaos des WM-Alltags zu entfliehen und sich ernsteren Dingen zu widmen: Viva Carnaval!
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Du möchtest für ein paar Momente eintauchen in den Carnaval Rios 2014, dann viel Spaß beim Bilder zoomen:

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Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 04/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]






[kol_2] Erlesen: Demenz, Alkohol und Pistolen
Das Gesetz des Stärkeren von Joaquín Guerrero Casasola
 
"Sieh mal, meine Schöne", sagte ich voll Zärtlichkeit zu ihr, "im Leben ist alles möglich, und ich weiß, du liebst mich sehr. Aber es ist nun mal nicht auszuschließen, dass dich irgendjemand eines Tages auf mich richtet. Und sosehr du auch deinen Abzug verklemmst, du wirst es nicht verhindern können. Es sei dir schon jetzt verziehen."

Endlich strahlt mal wieder ein mexikanischer Krimi vom Bücherstapel neben dem Bett herab. Das Cover ist zwar nicht besonders ansprechend, aber es spricht zu mir: Leg Poncho und Sombrero an, entkorke Mezcal, stell die Heizung auf tropisch und beginne mit den ersten Zeilen exakt in dem Moment, in dem die innere Ruhe von dir Besitz ergriffen hat, du aber noch nicht gänzlich weggedöst bist. – Sí, mi vida, entgegne ich und beginne zu lesen.

Anders als erwartet mag der Funke nicht überspringen. Der Roman ist schnell aber platt: Besäufnisse, Schlägereien, viel Pistole! Das Herz des Protagonisten, Gil Baleares, schlägt für einen neuen Kleinwagen, einen Tsuru. Um sich diesen Wunsch erfüllen zu können, sucht der Privatdetektiv Entführungsopfer oder vermöbelt Liebhaber. Er steckt mächtig ein und wäre wohl schon lang von uns gegangen, gäbe es den Tsuru nicht. Gähn!


Das Gesetz des Stärkeren
Autor: Joaquín Guerrero Casasola

Taschenbuch: 256 Seiten
Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag (2011)

ISBN-10: 3423212616
ISBN-13: 978-3423212618

Original: Ley Garrote (Barcelona 2007)

Die Siesta holt mich ein und ich verfalle so tief dem Schlaf, dass ich erst Monate später weiterlese. Und dann passiert das Erschreckende. Der Roman gefällt mir und ich beende ihn innerhalb von zwei Nächten.

Was ist denn da nur los in meinem Hirn? Lassen sich die Synapsen überhaupt noch steuern oder sind sie schon so autark unterwegs, dass sie je nach Lust und Laune Sektoren ansteuern, die mich den Roman mal als brillant, mal als flach empfinden lassen? Und während ich mich frage, wieso ich mir in meinem Geisteszustand noch anmaße, über Literatur zu urteilen und das auch noch öffentlich kund zu tun, liefert der Roman Antworten – das Alter:

"Hallo, mein Name ist Felicity Guzmán von Master Age Care. Erinnern Sie sich?"
"Master was?"
"Master Age Care. Wir haben uns auf Altenpflege spezialisiert. Sie haben sich letzten Monat in der Klinik mit mir unterhalten, als Sie Ihren Vater zur Ultraschalluntersuchung brachten."
"Entschuldigung Sie, die Verbindung ist ganz schlecht..."
Ich drücke auf die Gabel und lege den Hörer neben das Telefon.
Unternehmen wie diese verlangen Unsummen dafür, dass Sie den alten Herrschaften den Hintern wischen und sie wie kleine Babys behandeln…


Anstelle von Sex, Drugs und Mariachis erscheint Gils Papa auf der Bildfläche. Einst stadtbekannter Polizist, nagt seit geraumer Zeit der Alzheimer an ihm. Gil entpuppt sich als fürsorglicher Sohn, der seinem Vater ein Zuhause mit allen erdenklichen Freiheiten bietet:

Gerade ist der Alte auf der Bildfläche erschienen. Übel gelaunt tritt er mir gegen mein vom Sofa runterhängendes Bein, damit ich ihn vorbeilasse und schlurft dann in die Küche, wo er ein Glas runterschmeißt. Unflätig fluchend kommt er kurz darauf mit seinem Cocktail in der Hand zurück.
"Wer hat mir in die Milch geschissen?", raunzt er und knallt sein Glas auf den Couchtisch, sodass die hellbraune Flüssigkeit überschwappt.
Dann schlurft er ins Bad, und ich höre, wie er den Wasserhahn aufdreht. Das Wasser sprudelt munter gute zehn Minuten lang vor sich hin, bevor er mit der Zahnbürste im Mund zurückkommt, sein Glas nimmt und anfängt, sich abwechselnd die Zähne zu putzen und seinen Rum mit Milch zu trinken. Schließlich steckt er die Zahnbürste ins Glas und verrührt das Ganze zu einer ekelhaften Brühe.
"Das schmeckt nach gar nichts", brummt er unzufrieden. "Warum ist da kein Kaffee drin?"
Das Telefon klingelt.
"Geh und mach auf Gil!", brüllt mein Vater.
"Es ist Spiderman", schreie ich zurück. "Er behauptet, er hätte sein Kostüm an unserer Fernsehantenne aufgerissen. Er will uns verklagen."
"So ein Arsch! Hau ihm in die Fresse!"

Mit dem alten Baleares halten haarstreubende, spitzfindige und witzige Dialoge Einzug in den Roman. Und auch die stereotype und von mir sehr geschätzte Figur des nicht ganz koscheren, vulgären Bullen aus D.F. ist jetzt präsent. Gils Papa beklaut den eigenen Sohn. Das Ersparte versäuft er auf tagelangen Touren mit seinen Kumpels oder verhurt es. Er stellt der Putzfrau nach. Und weil er einfach nicht einsehen will, dass er nackte Frauen nicht durch's Schlüsselloch zu beobachten hat, zerbricht das Aquarium durch die Wucht des wütend sein Ziel verfehlenden Aschenbechers. – Helle und von der Demenz überschattete Momente.

Und jetzt bringen wir deine Hure von Tochter um!
Gil ist nach wie vor Protagonist. Immer im Zentrum von Gewalt, Alkohol und Demenz verwickelt es ihn spontan aber kontinuierlich in die Rahmenhandlung, die Entführung von Alicia del Moral. Mal ist er mit der Lösung des Falls beauftragt, nimmt aber kaum teil. Mal steckt er mitten drin, aber ohne Mandat. Es kommt zu diversen Showdowns mit Entführern, Polizisten, Taxistas, Freunden und Papa. Die eingangs beschriebene Schöne in Form seiner 45er spielt dabei eine entscheidende Rolle.

Fazit: Der Roman Das Gesetz des Stärkeren ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema Demenz, eingebettet in Exzesse, Leichen und die Wünsche des einfachen Mannes. Also in das ganz normale mexikanische Kriminalroman-Leben. – Der Autor erklärt die Demenz nicht zum zentralen Thema und behandelt sie alles andere als stiefmütterlich. Aber genau das hebt den Kriminalroman von anderen mexikanischen Polizistenromanen ab. Wenn ich jetzt im Augenblick in mich hinein höre, wage ich zu sagen: ich find das Werk Joaquín Guerrero Casasolas super. Ob das morgen noch genauso ist, wissen nur meinen betagten Hirngespinste.

Text: Dirk Klaiber
Foto: amazon

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[kol_3] Traubiges: Genuss im Schlauch
Flor del Montgó Monastrell 2008
 
Soll ich, oder soll ich nicht – Wein in einem Plastikschlauch kaufen? Kann das überhaupt ein guter Wein sein, oder einfach nur billige übersäuerte Plörre?

Fakt ist: Schon von der Antike an bis hin ins Mittelalter wurde Wein neben Amphoren und Fässern auch in elastischen Gebinden transportiert und gehandelt. Gerade in Spanien war die bota de vino (oder kurz bota), ein Trinkbeutel aus Leder, sehr beliebt. Diese Beutel gibt es sogar heute noch. Traditionellerweise wurden sie innen mit einer dünnen Schicht Pech versiegelt, heute dagegen werden sie meist mit Gummi beschichtet. Während in den vergangenen Jahrhunderten spanische Landarbeiter und Bauern ihren Trinkbeutel mit zur Feldarbeit nahmen, nehmen heute vor allem Touristen die botas als buntbedrucktes Souvenir mit nach Hause.

Die moderne Antwort auf die botas ist schon seit Jahrzehnten der Plastikschlauch, auf Marketingdeutsch Bag-in-Box genannt. Die üblichen Größen sind drei und fünf, manchmal auch zehn Liter. Diese Weinschläuche stecken in einem Karton mit Zapfeinrichtung, die keine Luft hineinlässt, sodass der restliche Wein nicht oxidiert. Deshalb ist es möglich, den angebrochenen Schlauch über Wochen allmählich zu leeren, ohne dass der Wein an Qualität verliert. Mittlerweile werden nicht nur einfache, sondern auch bessere Weine im Schlauch angeboten.

Einer von ihnen ist der Flor del Montgó Monastrell von der Bodega Montgó. Sie liegt im Osten Spaniens in der Nähe von Murcia. Weinmacher ist David Tofterup, ein Däne, der in Spanien ein neues Zuhause gefunden hat. Der Flor del Montgó Monastrell besteht zu 85 Prozent aus Monastrell und zu 15 Prozent aus Shiraz. Erhältlich ist er sowohl als auch: in Flaschen – und Schläuchen. Die Reben für diesen Wein sind über 30 Jahre alt. Ein klarer Wein von intensiver kirschroter Farbe. Im Glas entwickelt er ein duftiges Bukett mit leichten Anklängen an Kirsche und Brombeere. Auch im Mund dominieren Kirschnoten, außerdem dunkle Beeren und eine Kräuternote. Eine frische Säure und knackige Tannine legen sich über den Gaumen. Im Abgang ist er lange anhaltend.

Sicherlich ist dieser Wein eher für Picknicks oder Partys geeignet als für ein Fünf-Gänge-Menü oder einen Abend zu zweit am Kamin. Aber es spricht nichts gegen einen simplen, gut gemachten Biowein, der gerade mal sechs Euro die Flasche oder 15 Euro im Drei-Liter-Schlauch kostet. Und: Vergleicht man die Bag-in-Box mit einer gängigen Glasflasche, so spart man 85 Prozent Abfall und 55 Prozent CO2-Emissionen; was ebenso bemerkenswert ist wie das Preis-Genuss-Verhältnis dieses Monastrell.

Text: Lars Borchert
Foto: Dirk Klaiber

Über den Autor: Lars Borchert ist Journalist und schreibt seit einigen Jahren über Weine aus Ländern und Anbauregionen, die in Deutschland weitestgehend unbekannt sind. Diese Nische würdigt er nun mit seinem Webjournal wein-vagabund.net. Auf caiman.de berichtet er ab jetzt jeden Monat über unbekannte Weine aus der Iberischen Halbinsel und Lateinamerika.

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[kol_4] Lauschrausch: Jarabedepalo - Somos
 
Pao Donés, Kopf der Gruppe "Jarabedepalo", wusste, warum er "Somos" als ersten Track auf das neue Album gesetzt hat. Er ist mit Abstand der interessanteste und beste Titel. Ein Funky-Flamenco-Rap über die Unvollkommenheit der Menschen, mit den Gastsängerinnen Gybylonia, venezolanische Rapperin, und Montse "La Duende", die den Flamencogesang beisteuert. Damit folgt der Song der alten Fusionsidee der inzwischen aufgelösten Gruppe "Ojos de Brujo", die aber deswegen nicht schlecht ist. Auch das zweite Stück, "Hoy no soy yo", bleibt noch als schöner Rocksong hängen, aber der Rest ist "nur" gut gemachter Mainstreamrock mit Funk-Elementen und teils ironischen Texten, inkl. einer schönen Ballade ("Lo que te voy a decir"), die man sich gut am Strand durch die Kopfhörer ziehen kann.

Somos
Jarabedepalo
Skip Records

Fazit: Ein schon im letzten Jahr in Spanien veröffentlichtes Rockalbum, das bis auf "Somos" kaum Spuren hinterlassen wird.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

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