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[kol_2] Erlesen: Demenz, Alkohol und Pistolen
Das Gesetz des Stärkeren von Joaquín Guerrero Casasola
 
"Sieh mal, meine Schöne", sagte ich voll Zärtlichkeit zu ihr, "im Leben ist alles möglich, und ich weiß, du liebst mich sehr. Aber es ist nun mal nicht auszuschließen, dass dich irgendjemand eines Tages auf mich richtet. Und sosehr du auch deinen Abzug verklemmst, du wirst es nicht verhindern können. Es sei dir schon jetzt verziehen."

Endlich strahlt mal wieder ein mexikanischer Krimi vom Bücherstapel neben dem Bett herab. Das Cover ist zwar nicht besonders ansprechend, aber es spricht zu mir: Leg Poncho und Sombrero an, entkorke Mezcal, stell die Heizung auf tropisch und beginne mit den ersten Zeilen exakt in dem Moment, in dem die innere Ruhe von dir Besitz ergriffen hat, du aber noch nicht gänzlich weggedöst bist. – Sí, mi vida, entgegne ich und beginne zu lesen.

Anders als erwartet mag der Funke nicht überspringen. Der Roman ist schnell aber platt: Besäufnisse, Schlägereien, viel Pistole! Das Herz des Protagonisten, Gil Baleares, schlägt für einen neuen Kleinwagen, einen Tsuru. Um sich diesen Wunsch erfüllen zu können, sucht der Privatdetektiv Entführungsopfer oder vermöbelt Liebhaber. Er steckt mächtig ein und wäre wohl schon lang von uns gegangen, gäbe es den Tsuru nicht. Gähn!


Das Gesetz des Stärkeren
Autor: Joaquín Guerrero Casasola

Taschenbuch: 256 Seiten
Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag (2011)

ISBN-10: 3423212616
ISBN-13: 978-3423212618

Original: Ley Garrote (Barcelona 2007)

Die Siesta holt mich ein und ich verfalle so tief dem Schlaf, dass ich erst Monate später weiterlese. Und dann passiert das Erschreckende. Der Roman gefällt mir und ich beende ihn innerhalb von zwei Nächten.

Was ist denn da nur los in meinem Hirn? Lassen sich die Synapsen überhaupt noch steuern oder sind sie schon so autark unterwegs, dass sie je nach Lust und Laune Sektoren ansteuern, die mich den Roman mal als brillant, mal als flach empfinden lassen? Und während ich mich frage, wieso ich mir in meinem Geisteszustand noch anmaße, über Literatur zu urteilen und das auch noch öffentlich kund zu tun, liefert der Roman Antworten – das Alter:

"Hallo, mein Name ist Felicity Guzmán von Master Age Care. Erinnern Sie sich?"
"Master was?"
"Master Age Care. Wir haben uns auf Altenpflege spezialisiert. Sie haben sich letzten Monat in der Klinik mit mir unterhalten, als Sie Ihren Vater zur Ultraschalluntersuchung brachten."
"Entschuldigung Sie, die Verbindung ist ganz schlecht..."
Ich drücke auf die Gabel und lege den Hörer neben das Telefon.
Unternehmen wie diese verlangen Unsummen dafür, dass Sie den alten Herrschaften den Hintern wischen und sie wie kleine Babys behandeln…


Anstelle von Sex, Drugs und Mariachis erscheint Gils Papa auf der Bildfläche. Einst stadtbekannter Polizist, nagt seit geraumer Zeit der Alzheimer an ihm. Gil entpuppt sich als fürsorglicher Sohn, der seinem Vater ein Zuhause mit allen erdenklichen Freiheiten bietet:

Gerade ist der Alte auf der Bildfläche erschienen. Übel gelaunt tritt er mir gegen mein vom Sofa runterhängendes Bein, damit ich ihn vorbeilasse und schlurft dann in die Küche, wo er ein Glas runterschmeißt. Unflätig fluchend kommt er kurz darauf mit seinem Cocktail in der Hand zurück.
"Wer hat mir in die Milch geschissen?", raunzt er und knallt sein Glas auf den Couchtisch, sodass die hellbraune Flüssigkeit überschwappt.
Dann schlurft er ins Bad, und ich höre, wie er den Wasserhahn aufdreht. Das Wasser sprudelt munter gute zehn Minuten lang vor sich hin, bevor er mit der Zahnbürste im Mund zurückkommt, sein Glas nimmt und anfängt, sich abwechselnd die Zähne zu putzen und seinen Rum mit Milch zu trinken. Schließlich steckt er die Zahnbürste ins Glas und verrührt das Ganze zu einer ekelhaften Brühe.
"Das schmeckt nach gar nichts", brummt er unzufrieden. "Warum ist da kein Kaffee drin?"
Das Telefon klingelt.
"Geh und mach auf Gil!", brüllt mein Vater.
"Es ist Spiderman", schreie ich zurück. "Er behauptet, er hätte sein Kostüm an unserer Fernsehantenne aufgerissen. Er will uns verklagen."
"So ein Arsch! Hau ihm in die Fresse!"

Mit dem alten Baleares halten haarstreubende, spitzfindige und witzige Dialoge Einzug in den Roman. Und auch die stereotype und von mir sehr geschätzte Figur des nicht ganz koscheren, vulgären Bullen aus D.F. ist jetzt präsent. Gils Papa beklaut den eigenen Sohn. Das Ersparte versäuft er auf tagelangen Touren mit seinen Kumpels oder verhurt es. Er stellt der Putzfrau nach. Und weil er einfach nicht einsehen will, dass er nackte Frauen nicht durch's Schlüsselloch zu beobachten hat, zerbricht das Aquarium durch die Wucht des wütend sein Ziel verfehlenden Aschenbechers. – Helle und von der Demenz überschattete Momente.

Und jetzt bringen wir deine Hure von Tochter um!
Gil ist nach wie vor Protagonist. Immer im Zentrum von Gewalt, Alkohol und Demenz verwickelt es ihn spontan aber kontinuierlich in die Rahmenhandlung, die Entführung von Alicia del Moral. Mal ist er mit der Lösung des Falls beauftragt, nimmt aber kaum teil. Mal steckt er mitten drin, aber ohne Mandat. Es kommt zu diversen Showdowns mit Entführern, Polizisten, Taxistas, Freunden und Papa. Die eingangs beschriebene Schöne in Form seiner 45er spielt dabei eine entscheidende Rolle.

Fazit: Der Roman Das Gesetz des Stärkeren ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema Demenz, eingebettet in Exzesse, Leichen und die Wünsche des einfachen Mannes. Also in das ganz normale mexikanische Kriminalroman-Leben. – Der Autor erklärt die Demenz nicht zum zentralen Thema und behandelt sie alles andere als stiefmütterlich. Aber genau das hebt den Kriminalroman von anderen mexikanischen Polizistenromanen ab. Wenn ich jetzt im Augenblick in mich hinein höre, wage ich zu sagen: ich find das Werk Joaquín Guerrero Casasolas super. Ob das morgen noch genauso ist, wissen nur meinen betagten Hirngespinste.

Text: Dirk Klaiber
Foto: amazon

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